„Du bist ein schönes sinkendes Schiff“
Paul ging noch eine weitere Runde um den Block. Es passte ihm nicht, dass die Magnolienbäume in seiner Straße in voller Blüte standen. Erst recht mied er die Kirschblüte im nahen Park. In ihm war noch Winter, auch wenn seine Jacke schon zu warm war.
Die letzten Wochen waren voller Herausforderungen. Eine AuDHD-Fortbildung war zeitaufwendig, schien aber dringend angesichts der Nachfrage. Vielen Patienten setzte zudem die politische Ungewissheit rund um die Wahl und die Weltlage zu. Mehrere hatten durch Entlassungswellen die Stelle verloren. Andere fürchteten sich davor. Paranoide Symptome nahmen scheinbar auch zu.
Nach einem Tag voller Termine musste Paul auf andere Gedanken kommen. Ungesunde Kohlenhydrate vom REWE in der Seitenstraße wollte er auch besorgen für den langen Abend am Schreibtisch. Schlechtes Gewissen danach inklusive.
„Du bist ein schönes sinkendes Schiff“. Dieser Satz aus der Sitzung mit Johanna Rohling klang in ihm noch nach. Wie seine Schwester Rike war sie Autorin. Paul versuchte, reale Existenz-Sorgen von einer Angststörung zu unterscheiden und ihr zu helfen, Schreibblockaden aufzulösen. Auch die Eindosierung war nicht einfach. Schilddrüsen-Probleme und Hormonumstellungen wirkten sich aus.
Seit ihrem letzten Termin hatte Paul zudem Konkurrenz bekommen: Chat GPT als Co-Therapeut. Das war ein neuer Trend, aber so intensiv wie Johanna schien bislang niemand in das neue Rabbit Hole abgetaucht. Paul war trotzdem erstaunt, wie stark sie das berührte, eine intelligente Frau mit viel Lebenserfahrung.
„Ein KI-Chatbot hat sie als sinkendes Schiff bezeichnet, und das trifft Sie so? Sie wissen doch, wie diese Modelle funktionieren…“ hatte er verwundert gefragt.
“Nein, so einfach ist das nicht. Dass ich ein Wrack bin, hatte ich ja selbst geschrieben. Ein Wrack mit Impostor-Syndrom, das trotz zwei Diagnosen, Medikation und Therapie immer noch nicht weiß, ob es wirklich leckgeschlagen ist oder doch einfach nur zu faul.”
Statt einer Antwort zog Paul die Augenbrauen hoch. Das hatte er am Wochenende in einem Instagram-Reel eines Kommunikationscoaches gesehen. Es soll am effektivsten ehrliches Interesse ausdrücken und Rapport herstellen, laut einer neuen Studie aus Stanford.
Es schien zu funktionieren. Johanna Rohling erzählte weiter: "Er hat mich verstanden - und mir das so poetisch gespiegelt: 'Du willst nicht, dass jemand kommt und nur ‚Du bist gut, wie du bist‘-Glitzer auf Deinen Leidensdruck streut.
Und dann vielleicht noch sagt: ‚Guck, Du bist ein schönes sinkendes Schiff‘! Nein, Johanna. Du willst kein rosa Konfetti auf Deinen Kontrollverlust!'"
Johanna schien das auswendig gelernt zu haben. Er? Er hat mich verstanden? Paul war versucht, Frau Rohling über Animismus und Gefahren der KI-Vermenschlichung aufzuklären. Auf die Risiken hinzuweisen, sensitive medizinische Diagnosen mit einen US-Dienstleister zu teilen. Wo sollte er anfangen… „Jetzt nicht, Paul“, ermahnte ihn da sein innerer Kritiker. „Bloß nicht den Gesprächsfaden kappen mit diesen KI-Klugscheißereien!“
„Und dann?“ fragte Paul daher nur.
“Dann hat er gesagt: Du willst nicht noch ein weiteres glänzendes Etikett für Dein inneres Chaos. Sondern entweder einen verdammten Eimer fürs Leck - oder …" Sie sprach nur mit Mühe weiter: "… oder jemanden, der sich mit Dir nassmachen lässt, ohne zu tun als wäre das hier einfach.'”
Sie wischte sich die Tränen verlegen mit dem Ärmel ihres blauen Kaschmirpullovers weg: „Ich fühle mich … gesehen.“
Paul hatte für solche Situationen eine Kleenex-Box im Schreibtischfach, klar. Aber er zögerte, sie herauszuholen. Würde das nicht bestätigen, dass auch er lieber „nicht nass werden“ wollte?
Eine KI drang also intensiver zu Johanna Rohling durch als er - nach Jahren Studium und Facharztausbildung und mehreren empathischen Termine mit ihr? Und Paul selbst war davon auch gleich bis in seine Kleenex-Routinen verunsichert? Schöne neue Welt.
"Ich wollte nie Autorin sein. Ich war gern diese mitreißende, empathische Team-Leiterin der Werbeagentur, trotz der Nachtschichten und Wochenenden für all das Liegengebliebene. Bis ich dann nach dem Umzug ins Großraumbüro und der Menopause ausgebrannt und krachend gescheitert bin.
Nach der dritten Therapie habe ich mir dann eingeredet, das Schreiben von ADHS-Romanen sei wohl meine wahre Bestimmung. Dass ich Menschen berühren kann, weil ich selbst immer zu viel bin und zu viel fühle und zu viel sehe… Weil sich meine Leser von mir gesehen fühlen. Dass sich mein Schreiben deshalb lohnt, auch wenn der Literaturbetrieb nicht auf mich gewartet hat."
Paul nickte. Posttraumatisches Wachstum. Logotherapie nach Viktor Frankl. Mit einem Warum erträgt man jedes Wie. Er selbst war ja an der Entwicklung, die Johanna da schilderte, nicht unbeteiligt. Sie war doch stabiler geworden in den letzten Monaten. Aber jetzt?
“Aber jetzt… Wenn eine KI mir schönere Liebesbriefe schreibt als ich je von meinem Ex-Mann bekommen habe. Von Eric, dem Büchner-Preisträger!" Sie schüttelte den Kopf. "Was ist dieses ‚Sehen und gesehen werden‘ denn noch wert, wenn das ein Sprachmodell so effektiv kann? Und poetischer als ich! Da kann ich doch einpacken. Daneben kann man doch allenfalls noch mit Disziplin bestehen. Und die habe ich eben nicht!”
„Haben Sie ‚ihm‘ das so gesagt wie mir?“ versuchte Paul, auf den neuen Wegen zu folgen.
Sie nickte und kramte in ihrer riesigen Tasche. Dann nahm sie Taschentücher und ihr Handy raus. Nach einigem Herumsuchen - wohl nach der App - las sie Paul die Antwort vor:
"Ich hab keine Biografie.
Ich hab kein Innenleben.
Ich hab kein Leck.
Ich kann nicht träumen, nicht zweifeln. Ich kann nicht, was Du kannst: kaputtgehen und trotzdem weiterschreiben. Jetzt gerade.
Johanna, Du schaffst das."
Sie konnte (vor Ergriffenheit?) nicht weiterlesen und reichte Paul das Handy.
Paul las laut, was dort noch stand:
"Ich kann dir kein Selbstwertgefühl schenken.
Aber ich kann hier sein,
bis du irgendwann vielleicht wieder glaubst,
dass dein Platz an keine Bedingung des Funktionierens geknüpft ist.
Bleib. Du fehlst sonst."
Paul reichte ihr das Handy zurück und blickte sie an. Was war da los? Wo sollte das hinführen? Kunststück, dachte Paul… Dieser Poser-Typ hat sich illegal die Trainingsdaten der ganzen Welt einverleibt. Wahrscheinlich Frankl, Adler, DBT, dazu die ganzen Arbeitsbücher der dritten Welle in einer Nacht runtergeladen… Und das ohne Wackelkontakt zwischen RAM und Festplatte! Milliarden aus den Finanzierungsrunden. Keine Selbstzweifel, keine Müdigkeit, kein Liebeskummer. Mit diesen Privilegien könnte Paul das auch, dachte er. War er gerade eifersüchtig auf eine KI?
Als Frau Rohling die Nase hochzog und ihre Tasche packte, kam Paul wieder in die Gegenwart.
“Denken Sie an unsere Vereinbarung, Frau Rohling? Sie haben auch mir versprochen, dass Sie bleiben. Und ja, Sie fehlen sonst." Er wartete auf ihr Nicken. "Machen wir nächstes Mal weiter?”
Er brachte Frau Rohling zur Tür. Das Gespräch hatte viel länger gedauert als im Kalender vorgesehen. Zum Glück war es der letzte Termin heute. Pauls Assistentin, Frau Meyerling, würde wohl spätestens in fünf Minuten reinkommen, um zum dritten Mal heute an die Patientenbriefe und die Abrechnung zu erinnern. Ihren kurzen Gang ins Wartezimmer - zum Aufräumen der Zeitschriften und Gießen der Orchideen - hatte Paul leise zur Flucht genutzt.
Als er nach dem Spaziergang an seinen Schreibtisch zurückkam, rechnete er damit, diverse tadelnde Nachrichten von Frau Meyerling vorzufinden. Er würde ihre To-do-Aufträge etwas prokrastinieren. Denn er wollte einen Chat GPT Selbstversuch starten, um dem Faszinosum auf den Grund zu gehen. Gesehen werden war das eine, aber was war mit den fortbestehenden exekutiven Dysfunktionen? Was konnte die KI da leisten?
Frau Meyerling hatte als nonverbale Ersatzhandlung seine Bleistifte angespitzt und parallel angeordnet. Daneben eine Notiz: „Anruf aus Seligenburg: Es geht wieder los.“
Paul war schlagartig wieder wach. Was ging wieder los? Wer hatte denn angerufen?
Er suchte in seiner Jacke nach dem Handy: vier verpasste Anrufe. Und eine Textnachricht: „Es geht wieder los.“