Der Heilige Geist gibt auch Dir Starthilfe
"Willkommen in Seligenburg! Hallo im Vaterhaus! Die Tür, sie steht weit auf!"
Statt eines Orgelvorspiels begleitete der junge Pfarrer seinen Einzug in den Gottesdienst selbst auf einer leicht verstimmten Akustikgitarre. Sparmaßnahme? Kein Organisten-Nachwuchs? Paul wusste es nicht.
Das Lied schien hier aber Tradition zu haben: Die Stammgäste erkannte man daran, dass sie bei „Vaterhaus“ die Hände über dem Kopf zu einem Dach formten und bei „Türe auf“ mit dem rechten Arm weit ausholten.
In der Kirchenbank direkt neben Paul bemühten sich Rike, Niklas und Julia, nicht unangenehm aufzufallen und die Bewegungen nachzutanzen.
Paul war sitzengeblieben. Als Rike ihn fragend ansah, deutete er auf Leni, die an ihn gelehnt eingenickt war, sobald die Familie sich hingesetzt hatte. Als sie nicht einmal von der verstimmten Gitarre aufgewacht war, hatte Paul vorsorglich ihre Vitalwerte geprüft. Es war aber nur Schlafmangel, weil Leni seit zwei Tagen und Nächten versuchte, die 37 Anfänge ihrer Halbjahresarbeit über „Neurodiversität im Werk von Ayn Rand“ zu einem bis Dienstag abgabefertigen Text zusammenzufügen. Sie hatte sich das hochambitionierte Thema selbst ausgesucht, war begeistert in die Recherche eingestiegen, aber fand nun kein Ende. Auch deshalb war Paul nach ihrem Hilferuf über Pfingsten nach Seligenburg gefahren.
Rike hatte trotzdem darauf bestanden, dass die ganze Familie zusammen in den Pfingstgottesdienst ging, nachdem sich beim gemeinsamen Frühstück Bildungslücken von biblischem Ausmaß aufgetan hatten.
Niklas hatte vermutet: „Pfingsten ist doch eine Art Richtfest beim Turmbau zu Babel! 50 Stockwerke seit Ostern?“
Rike hatte über diesen Verfall kultureller Verwurzelung gestöhnt. „Du halluzinierst schon genau wie Deine KI!“
Auf dem Weg zur Kirche hatte Niklas die ganze Zeit protestiert: „Das ist nicht nicht autoritär. Das ist sautoritär! Ich könnte doch einfach Papst Leo auf Youtube gucken.“
Der verdutzten Seniorin, die der Familie am Eingang zur Kirche gütig und munter bunte Liedblätter austeilte, sagte er "Ich bin gegen meinen Willen hier. Ich möchte, dass Sie das wissen."
Rike formte mit ihren Lippen zur Entschuldigung ein stummes „Pu-ber-tät“. Sie konnte nur hoffen, die Gemeindehelferin würde es in christlicher Nächstenliebe verstehen. Wenigstens heute zu Pfingsten, dem großen Fest des Verstehens - über alle Unterschiede und Barrieren hinweg.
Ob dieser erzwungene Kirchgang aber tatsächlich dafür sorgen konnte, dass der Heilige Geist in die Familie fuhr und sie sich auch untereinander wieder besser verstanden? Erst sah es nicht danach aus.
Als der Pfarrer seine Gitarre neben dem Altar abgestellt hatte, dankte er der Gemeinde für das ungewöhnlich zahlreiche Erscheinen: „Wir hoffen, Ihr habt alle ein bisschen mehr Zeit mitgebracht. Wir verbinden den Gottesdienst heute nämlich mit einer ganz besonderen Taufe unserer neuen Gemeindeglieder. Unter uns sind die aus der Presse und den sozialen Medien bekannten Seligenburger Drillinge Tim, Tom und Kevin mit ihrer Familie und ihren Paten.“
Zahlreiche Smartphones wurden in den vorderen Bankreihen hochgereckt, um diese Worte aufzunehmen. Offenbar war die Mutter der Drillinge eine regional bekannte Family-Influencerin aus der Trad-Wife-Bubble. Sie war kurz aufgestanden, hatte sich zur Gemeinde - oder zu ihren Followern - gedreht und verbeugt.
„Wenigstens gute KI-taugliche text-to-speech-Namen.“ raunte Niklas Paul zu. Dann stöhnte er. „Wir werden für immer hier festsitzen. Du als Psychiater hast doch bestimmt MPH dabei?“
„Noch nichts genommen heute?“
„Es ist Feiertag.“
„Hast Du an Feiertagen kein ADHS?“
Rike griff in ihre 40 Liter fassende Mary Poppins-Tasche und holte einen Blister Medikinet raus. Zudem ein Stück Marmorkuchen in eine Serviette verpackt, falls Niklas’ Overnight Oats vom Frühstück schon nicht mehr im Magen waren.
„Krümel nicht!“ ermahnte sie ihn noch. Da war Julia aber schon unaufhaltsam mit ihrer Plüschmaus unter die Kirchenbank gekrabbelt, um dort mit Mario „arm wie eine Kirchenmaus“ zu spielen und begeistert Kuchenkrümel aufzusammeln.
Rike sah verzweifelt aus. Überlegte sie mal wieder, was aus Niklas werden sollte, wenn der immer noch nicht selbst an seine Medikamente dachte? Oder stellte sie sich gerade vor, wie ihre kleine Chaos-Familie auf die strenge Diakonin wirkte, die vorne am Altar das ganze Kirchenschiff im Blick hatte.
Als Pauls Blick auf die weiß gekleideten, fast lethargisch artigen Drillinge in der ersten Reihe fiel, erinnerte er sich an Niklas’ Taufe. Das Schreikind hatte auch damals schon verkündet, gegen seinen Willen in der Kirche zu sein. Patenonkel Paul hatte ihn eine Stunde lang den Gang auf und ab getragen, immer voll Sorge, dass Niklas noch einige Dezibel aufdrehen würde, wenn der alte Pfarrer ihn später nassmachte.
Paul war heute sehr bewegt, wie gut sich Niklas entwickelt hatte, den ständigen Protest gegen die Umstände eingeschlossen.
Der Gottesdienst heute entwickelte sich auch durchaus familienfreundlich. Der Pfarrer hielt nach seiner Begrüßung inne: "Egal, was in dieser Woche passiert ist. Gott nimmt Dich jetzt und hier so an, wie Du bist. Wir singen dazu im Liedblatt ‚Herr, Deine Liebe ist wie Gras und Ufer.‘
Natürlich wieder mit Gitarrenbegleitung… Paul sang etwas leiser mit und blickte auf Leni, die aber weiter den Schlaf der Gerechten schlief. Selig sind die Wissensdurstigen. Denn sie sollen satt werden.
Nach einer Lesung und einem interaktiv getanzten „Gott hält die ganze Welt in seiner Hand“ blieb auch die Predigt volksnah: „Was feiern wir zu Pfingsten? Das mit Weihnachten und der Geburt von ‚Baby Jesus‘, das verstehen die meisten noch. Auch Ostern verbinden wir nicht nur mit dem lila Milka-Schmunzelhasen…“ schmunzelte der Pfarrer eine Spur zu selbstergriffen von der eigenen Modernität.
"Aber Pfingsten? Was sagt uns die Apostelgeschichte da? Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem die Jünger waren. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.
Aber verstehen wir heute noch, was uns die Apostelgeschichte da sagen will? Es klingt wie ein Turmbau zu Babble, nicht? Wie können wir uns das übersetzen und einander besser verstehen?"
Da erzählte der hippe junge Pfarrer von dem neuen Gemeindegärtner Gustav, der zur Vorbereitung auf Pfingsten den Rasen vor der Kirche mähen wollte. Aber der alte kleine Rasenmäher habe nur noch gestottert.
„Nach defiziorientierter Fehlersuche wurde uns klar: Auch der Rasenmäher will seinen Beitrag zu unserem Pfingstfest leisten, aber er kann gerade einfach nicht mehr! Die Batterie braucht Starthilfe. Der Heilige Geist muss in ihn fahren wie damals in die Jünger, die gleichsam Motoren der Verkündigung von Gottes Wort wurden.“
Rike blickte verwirrt zu Paul. Niklas kicherte. „Ich habe es Dir ja gesagt: Gott hat vom Mond aus gesehen, wie der ADAC kommen musste und Du die Eiche angefahren hast!“
Konnte das ein Zufall sein?
Der Pfarrer spielte noch etwas selbstverliebt mit seiner Metapher der Starthilfe durch den Heiligen Geist, bekam dann aber die Kurve von der Predigt zur Taufe: „Viele nahmen damals die Botschaft an und ließen sich zu Pfingsten taufen.“
Niklas versuchte es nochmal: „Können wir jetzt bitte gehen? Der Heilige ADAC ist ja jetzt in uns … gefahren. Tick, Trick und Track können doch ohne uns getauft werden.“
„Sie heißen Tim, Tom und Kevin. Wir nehmen sie in unsere Gemeinde auf. Es geht nicht immer nur um Dich.“ antwortete Rike streng. „Und es war keine Eiche, sondern eine Linde, verflucht.“
Zu seiner eigenen Überraschung bereute auch Niklas kurz darauf nicht mehr, dass sie noch geblieben waren. Denn der Pfarrer griff nach der Taufe tief in die Seligenburger Special Effects-Kiste, um den Heiligen Geist spürbar auf sie regnen zu lassen: Drei Jugendliche aus dem Posaunenchor tauchten auf der Empore auf und spielten um ihr Leben. Und ein weißes Prachtexemplar des Seligenburger Brieftauben-Vereins wurde hinter dem Altar aus einem kleinen Käfig gelassen - als Pfingst-Symbol. Für Seligenburger Verhältnisse war es ein Spektakel, auch wenn die Taube am Rand des Taufbeckens landete und darin badete.
Sogar Leni wachte auf. „Da bist Du ja wieder.“ begrüßte Paul sie, als nach ihrem Powernap langsam neue Lebensgeister in sie fuhren.
Der Pfarrer rief begeistert: „Liebe Gemeinde, wollt auch Ihr die himmlische Starthilfe? Seid Ihr bereit zu dieser Veränderung und zu einem neuen Verstehen? So gehet hin. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.“
Aus Niklas’ lautem „Amen“ sprach vor allem die neurodiverse Erleichterung, dass er nicht länger stillsitzen musste.
Auch beim Auszug aus dem Gottesdienst begleitete der Pfarrer sich selbst auf der Gitarre, diesmal aber von den Posaunen unterstützt: „Jesu, geh voran, auf der Lebensbahn.“ Das Timing war perfekt. Als er bei der schweren Kirchentür angelangt war, endet er mit „Tu uns nach dem Lauf Deine Türe auf.“
Von draußen lockte strahlender Sonnenschein. Paul war durchaus fasziniert von der Show, wurde aber von Julia schnell in sehr weltliche Probleme zurückgeholt. „Onkel Paul? Mario steckt wieder fest.“ Mario hatte die Kuchenkrümel offenbar bis tief unter die Kniebank verfolgt und fand selbst nicht wieder aus seiner bedrängten Lage. Auch eine Plüschmaus braucht manchmal Starthilfe, wenn sie in der Klemme steckt. Paul kniete sich zu ihm, mit einem kleinen Stoßgebet, dass ihm der Hexenschuss hier erspart bleiben möge.