Moin Leute,
wie man vielleicht schon an der Fragestellung ahnen kann, habe ich bisher keine ADHS-Diagnose. Da ich dennoch mit meinen 17 Jahren schon echt viel Mieses erleben musste und ich nur durch Zufall über das Thema ADHS gestolpert bin, möchte ich mal hier meine Geschichte erzählen, bevor ich überhaupt zur eigentlichen Frage komme.
Los geht es mit dem Kindergarten 2011. Ich war extrem schüchtern, hatte kaum Interesse an anderen Kindern und hatte echt ungewöhnliche Interessen. Mein Vater ist Informatiker und hat mir mit so ca. 3 Jahren ein einfaches Bürolaptop und jede Menge Kabel gegeben, mit denen ich spielen durfte. Im Kindergarten habe ich dann probiert ein ähnliches Spielzeug zu suchen. In meiner Kindergartengruppe gab es einen Computer und ich viel bei den Erzieherinnen früh dadurch auf, dass ich den Computer, obwohl ich natürlich nicht lesen konnte, schon gut bedienen konnte. Da man nur 20 Minuten maximal an den Computer durfte, bin ich anders kreativ geworden und habe angefangen aus Bastelschnüren Pseudo-Kabel zu bauen und die in der Gruppe überall aufzuhängen. Das war so ziemlich meine Lieblingsbeschäftigung, die mir die Erzieherinnen auch duldeten. Extra für mich wurde dann zu Weihnachten ein Elektrobaukasten für die Gruppe angeschafft, für den ich mich natürlich sehr begeisterte und der mir schon früh gezeigt hat, wie elektrischer Strom funktioniert. Soweit so schön, doch nach 2 Jahren hatte ich dann leider diesen Voreinschulungstest bestanden und ich musste eine Woche nach meinem Geburtstag mit 6 Jahren eingeschult werden. Die Begeisterung dafür hielt sich in Grenzen.
Die Einschulung für mich war ein absoluter Horror. Ich war immernoch sehr schüchtern und besondern Kamerascheu. Es gibt aus dieser Zeit sogar kein Klassenfoto, auf dem ich mit drauf bin, einfach weil mir das alles viel zu viel war. Mit den ersten Wochen viel meinem Klassenlehrer schon auf, dass ich Probleme mit meiner Aufmerksamkeit habe. Ich habe mich fast nie am Unterricht beteiligt, ständig aus dem Fenster geguckt oder mich mit was anderem beschäftigt. Ich habe auch oft andere durch Ablenken oder Ärgern gestört, was ich, glaube ich heute zumindest, nicht absichtlich tat, da ich eigentlich nur alles Andere außer Schule machen wollte. Ich fiel ebenfalls in der Schule und im Hort durch das verstecken meiner Hausaufgaben auf. Ich tat alles, um mich nicht um diese selbst kümmern zu müssen, auch wenn das oft Ärger in der Schule und letztendlich Zuhause bedeuten würde. Nach nicht langer Zeit, es müsste kurz vor den Weihnachtsferien gewesen sein, benachrichtigt mein Klassenlehrer meine Eltern und klärt sie über mein Verhalten auf und rät ihnen, mich von einem Psychologen abchecken zu lassen. Meine Eltern machten dann auch einen Termin und meine Eltern wurden größtenteils über mich befragt und ich musste nur mit den Psychologen für eine Stunde Zeit verbringen. Raus kam nur, dass ich extrem schüchtern bin und für meine Eltern sah es so aus, als würde ich von selbst nicht weit in der Schule kommen. Ab dann wurde ich täglich von meinen Eltern und Hort nach Hausaufgaben abgefragt und es gab für mich harte Konsequenzen, sollte ich versuchen die Hausaufgaben gewollt nicht zu erledigen. Auch sind meine Eltern mit mir alle Hausaufgaben durchgegangen und ich musste sie so lange bearbeiten, bis alles richtig war. Nicht selten hat das bedeutet, dass ich bis zum Abendessen um 18 Uhr nur an Hausaufgaben saß, bis ich irgendwann mal Freizeit hatte. Für meine Freizeit wurde ich durch meine Eltern am wöchentlichen Klavierunterricht angemeldet, den ich bis heute gerne besuche. Musik war in meiner Familie immer schon ein großes Thema, also beschlossen meine Eltern aufgrund einer vielzahl an Komplikationen mit meiner Grundschule, mich auf eine andere Grundschule mit dem Schwerpunkt Musik umzumelden. Ich ging mit der zweiten Klasse auf diese neue Musikschule und es fiel sofort auf, wie viel freundlicher das Umfeld dort ist, alleine dadurch das es nur pro Jahrgang eine Klasse gibt mit je maximal 20 Schülern. Traumhaft für fast jeden, bis auf mich. Ich hatte immernoch keine Freunde, weil ich oft dazu neigte andere im Unterricht zu stören, war sehr schlecht im Rechnen durch meine Flüchtigkeitsfehler und hatte eigentlich immernoch absolut kein Interesse am System Schule. Hausaufgaben wurden immer extremer und ich saß deswegen teils bis 20 Uhr heulend mit meinem Vater am Esstisch, um dort die Mathehausaufgaben zu erledigen. Ich verstand Mathe sehr gut, fand es auch interessant, aber beim Rechnen baute ich immer kleine Flüchtigkeitsfehler. Dann hörte ich Ende der zweiten Klasse plötzlich auf Abends Appetit zu haben. Ich aß nur noch selten. Es fühlt sich für mich an, als würde mir jedes mal wenn ich Abends essen sehe, schlecht werden. Nicht geil für mich und erst Recht nicht meine Eltern, weil die fingen an sich Sorgen zu machen. Angefangen beim Hausarzt ging dann ein Abenteuer durch alle Medizinischen Fachrichtungen los: Von Kopf-MRT (oder CT, weiß nicht mehr was es war), zu zwei-Tage EKG, zu Psychotherapie. Ohne jedes Ergebnis, außer dem hilfreichen Tipp von einer Kargiologin, ich solle es mal mit Essen probieren?! Mir ging’s dabei überhaupt nicht gut, da sich das ganze bis zur 4. Klasse gestreckt hat. Meine Noten besserten sich durch den unfreiwilligen Leistungsdruck und wir akzeptierten einfach das ich Abends nicht viel Appetit habe, da der Psychologe meinte, dass es auch eine einfache Phase sein kann. Unrecht behielt er damit nicht. Ich beendete die 4. Klasse mit einem 1,9 Schnitt und wurde an ein Gymnasium angemeldet.
Die 5. Klasse am Gymnasium war sehr hart. Angefangen damit, dass sich meine Noten auf einen 4er Schnitt zurückkatapultierten. In meiner Klasse waren 32 Kinder. Ich viel dadurch auf, dass ich alles rund um Technik liebe. Ich lernte einen Veranstaltungstechniker kennen, der erst vor kurzem seinen Abschluss gemacht hat und weiterhin der Theater AG technisch aushilft. Ich war sofort interessiert und habe mich wöchentlich zu ihm gesetzt, um mir alles nötige abzugucken. Wenn er mal nicht da sein konnte, übernahm ich die Licht- und Soundsteuerung sehr gerne, da ich sehr schnell gelernt habe, diese zu bedienen. In der Schule selbst lief es währendessen wie immer ab: Ich saß im Unterricht, schaute die Wand an oder aus dem Fenster, beteiligte mich nur selten, verstand mich mit nur sehr wenigen Schülern und fühlte mich alles andere als wohl. Das ging so bis zur 8. Klasse. Meine Eltern nahmen die Schule viel gelassener und ich durfte anfangen, selber Verantwortung über meine Hausaufgaben und Lernen zu nehmen. Zu der Zeit habe ich meinen ersten richtigen Computer bekommen, den ich für Minecraft nutzen durfte, wenn auch nur am Wochenende. An Lernen hatte ich garkein Interesse und Hausaufgaben erledigte ich auch nur selten. Mir fiel auf, wie wenig Auswirkungen das auf meine Noten hatte. Ich hab mich gefragt, wofür ich mir überhaupt noch die Mühe für die Schule machen soll, wenn es notentechnisch eh keine positiven Auswirkungen hat. Also habe ich aufgehört diese zu priorisieren. Mein Ziel zu dem Zeitpunkt war es, ein Minecraft Server Netzwerk zu betreiben. Ich lernte über Twitch viele Streamer und deren Helfer kennen und baute mit denen ein Netzwerk auf, merkte aber wie ich nur schwer weiterkam, weil ich selber nicht Programmieren konnte und nicht die Leute dafür fand. Also habe ich mich hingesetzt und einfach angefangen, alles selbst zu Programmieren. Ich wurde sehr schnell gut darin und beherschte nach einem Jahr und dem Beginn der 10. Klasse die Programmiersprache Java so gut, dass ich selbst bei sehr komplizierten Projekten bei Studenten mithelfen konnte. Seit letztem Jahr bin ich also fast nur mit Informatik Studenten befreundet und verstehe mich nicht nur besser mit ihnen, als mit meinen Mitschülern, sondern auch half ihnen sogar bei ihren Hausaufgaben für die Uni.
Bis heute führe ich gute, freundschaftliche Beziehungen mit vielen Studenten und bin treffe mich selten im echten Leben mit meinen Mitschülern, da ich diese als sehr anstrengent empfinde und eher meide, obwohl ich mich an sich gut mit denen verstehe. Ich habe Anfang des Jahres für mich festgestellt, dass mich sogut wie garnichts extrinsisch motivieren kann und ich dafür umso intrinsisch motivierbarer bin, da ich stundenlang im Flow-Zustand an meinem Lieblingsprojekt sitzen kann, ohne mich dabei groß erholen zu müssen. Als das letzte Projekt im März endete brauchte ich schnell was neues und es vielen mir extrem viele neue Projekte ein. Ich entwickelte eine eigene Programmiersprache (zumindest die Syntax und einige Konzepte, baute Pläne für ein eigenes Startup, war nebenbei in einer politischen Partei tätig und überrollte wöchentlich mit solchen Projekten meine Freunde. Heute bin ich dafür bekannt jede Woche eine neue Idee zu haben und was Neues anzufangen, wenn ich nicht gerade an was größerem saß. In den letzten Sommerferien ging es mir dann richtig schlecht. Ich hatte so viele Projekte, aber eigentlich keine Lust jene davon weiter zu machen; saß nur noch auf dem Sofa und schaute YouTube. Sport fand ich auch langweilig (ich habe über 8 Sportarten seit Grundschule ausprobiert, keine über ein Jahr lang aus Motivationsgründen) und ich fing an alles zu hinterfragen, einschließlich mich selbst.
Im August stieß ich dann auf eine Quarks Video auf YouTube über Prokrastination und Impulsivität und in dieser wurde erwähnt, dass eine große Impulsivität ein Zeichen für ADHS oder ADS ist. Das machte mich neugierig, also habe ich mir direkt eine Doku reingezogen über ADHS und fand die Paralellen in Erfahrungen zwischen der ADHSlerin aus der Doku und mir sehr gruselig ähnlich, also habe ich im Internet viel zu ADHS recherchiert und bin auf Adxs gestoßen und war förmlich erschlagen von den Informationen, weil plötzlich alles einen Sinn hatte. Ich habe den großen Symptomtest gemacht und 62,1% aller Fragen ADHS-typisch beantwortet und erfülle 30 von 43 Symptomen. Ich habe nach dieser Information zwei Tage lang nicht schlafen können, weil ich das einfach nicht verarbeiten konnte und ich fing an alle meine „Macken“ aus meinem Alltag zu verstehen. Ich bin fast immer zappelig, wenn ich etwas machen muss, was micht nicht interessiert (dieses typische mit dem Bein wackeln; hat auch mein Vater, also ich weiß von wem’s kommt), diese ständige Unruhe morgens, mittags, abends. Der einzige Ort wo ich mich komischerweise entspannen kann und wirklich schnell einschlafe ist im Auto, wahrscheinlich weil das so Monoton ist. Und sonst halt dieser Hyperfokus bei meinen Lieblingsaufgaben. Ich könnte noch sehr viel mehr Erfahrungen teilen, aber ich glaube das fasst es schon ziemlich gut zusammen.
Zusätzlich zu all dem habe ich seit 4 Jahren das Raynaud Syndrom (Hat jemand vielleicht ähnliches erlebt, auch dieses Raynaud und nimmt vielleicht Medikamente?), welches richtig diagnostiziert wurde und welches mich täglich durchs Leben begleitet (außer nach dem Autofahren, wahrscheinlich weil das mich beruhigt?). Ich bin ca. 1,90m groß auf +/- 60kg.
Jetzt aber zur eigentlichen Frage:
Lohnt es sich für mich überhaupt erst zu versuchen einen Termin bei Psychiatern oder Neurologen zu machen? Ich habe eine Überweisung von meinem Hausarzt dazu bekommen, aber im Umkreis von 50km ist kein einziger Platz für mich frei. Mit der Schule habe ich beruhigt aufgegeben, da ich mit meinem Realschulabschluss schon alles machen kann was ich will und nebenbei bei dem Startup eines Studenten mithelfe und es gerade so aussieht, als würde das auch noch in ein paar Jahren gut laufen. Für meine Lehrer unvorstellbar aber mir herzlichst egal, weil ich das Gefühl habe, dass mir die Schule mehr schadet als nützt. Das zeigt sich schon seit Jahren an den Noten und es würde mich ziemlich überraschen, wenn ich dieses Jahr (12. Jahrgang) schaffe, denn aktuell läuft schulisch überhaupt nichts mehr. Meine Eltern halten wenig von ADHS und in der Schule versteht mich alleine nur meine Biolehrerin, welche selbst einen Sohn mit ADS hat (ich habe sie glücklicherweise bevor ich von all dem wusste als Tutor gewählt) und sonst ein guter Freund von mir, der selbst vor Jahren seine Diagnose bekommen hat (mit ihm habe ich verdächtig viel gemeinsam und ich wusste bis vor kurzem nichts davon. Es ist nur sehr lustig zu wissen, warum man sich gegenseitig so oft ins Wort fallen kann, ohne dass der Gegenüber die Geduld verliert).
Wie seht ihr das? Bringt einem die Diagnose wirklich viel?
Viele Grüße