ADHS als poststrukturalistische Ressource: Die Kunst des Fragmentierten Denkens

In einer Welt, die lineare Ordnung glorifiziert, existiert eine neurodivergente Zugangsform, die lange als Defizit abgestempelt wurde. Doch was, wenn ADHS nicht als Störung, sondern als verkannte Form poststrukturalistischer Subjektivität zu verstehen wäre?

Die Berührungspunkte sind zahlreich: Wo die akademische Diskursanalyse von Dekonstruktion und Fragmentierung spricht, leben ADHS-Betroffene diese Prinzipien täglich. Ihr springendes, vernetztes Denken durchbricht die Illusion einer kohärenten Wirklichkeit. Es erzeugt nicht Chaos, sondern Resonanz – vielfältige Perspektiven, die konventionelle Ordnungen in Frage stellen.

Rhizomatisches Denken findet sich bei Deleuze und im ADHS-Gehirn gleichermaßen: Wissen breitet sich netzartig aus, ohne hierarchisches Zentrum. Was als „Ablenkbarkeit“ pathologisiert wird, offenbart sich bei näherer Betrachtung als Fähigkeit zur Multiperspektivität – ein Denken in Splitter-Form, das unerwartete Verbindungen herstellt.

Die Liminalität der ADHS-Erfahrung – dieses ständige Schweben zwischen verschiedenen Aufmerksamkeitszuständen – schafft einen Zwischenraum, in dem neue Denkbewegungen entstehen können. Gerade diese Zwischenräume, die die Normalitätsgesellschaft so beunruhigen, sind produktive Felder kreativer Transformation.

Die Weigerung, sich etablierten Belohnungssystemen und linearen Arbeitsrhythmen zu unterwerfen, wird zur subversiven Praxis im Sinne poststrukturalistischer Kritik. ADHS verkörpert einen Widerstand gegen die totalisierende Logik der Optimierung – „Keine Methode. Keine Absicht. Nur: Wirkung.“

In einer digitalen Welt, die von Fragmentierung und Gleichzeitigkeit geprägt ist, kann die „Splitter-Subjektivität“ des ADHS zu einer wertvollen Ressource werden. Nicht als defizitäre Abweichung, sondern als Form des Seins, die sich über Spannung, Differenz und Resonanz konstituiert – nicht angepasst, nicht oppositionell, sondern tastend, fragmentierend, haltend.

Was als klinisches Syndrom kategorisiert wurde, erweist sich so als eine Form neurodivergenter Intelligenz, die poststrukturalistische Prinzipien nicht nur theoretisiert, sondern verkörpert. ADHS wird zum gelebten Poststrukturalismus – eine Subjektivität in Splitter-Form, die bestehende Ordnungen dekonstruiert und neue Möglichkeitsräume eröffnet.

Nicht fragmentiert trotz, sondern komplex durch ADHS – eine Resonanzform des Denkens für ein Zeitalter, das selbst immer mehr zum Splitter wird.

MOIN,

WAS ein GEILER TEXT!! :+1:
Wo kommt das her? mal ebend selbst eingefallen oder gibts da ne Quelle für??

Howard
:unicorn: :victory_hand:

Danke, Howard.
Ist von mir. Und von vielen.
Ich nenne es splitter.digital.

Hey Mogelpackung,

als Soziologin musste ich beim Lesen Deines Textes anerkennend grinsen! Gute Gedanken, eloquent formuliert. Eine solche Variante der Selbsthilfe kann man auch nur hier im Forum finden :grinning_face_with_smiling_eyes:

So sehr ich den poststrukturalistischen Vergleich schätze und nachvollziehe, so sehr bin ich auf der anderen Seite in der alltagspraktischen Erfahrung gefangen, dass Neurodivergenz - als Abweichung vom Standard dessen was als Normalität gilt - für viele von uns leider dennoch Schwierigkeiten und Enttäuschung mit sich bringt. Weil wir insgeheim etwas von der Gesellschaft erhoffen, dass sie uns nicht geben kann (unser Wahrnehmen und Denken zu verstehen) und weil die Gesellschaft etwas von uns erwartet (Anpassung), das wir - wenn überhaupt - nur unter größter Anstrengung und dem Verlust von Reserven erbringen können.
Dennoch: Schön durch deine Anregung, mal wieder ein wenig sozial- / kultur- / geisteswissenschaftlich denken zu können. Danke dafür :slightly_smiling_face:
Viele Grüße
Bianca

Hey Bianca,
danke dir – für dein Grinsen und für den Schmerz darin.

Ja: Die Gesellschaft fragt nach Anpassung,
und wir antworten mit Erschöpfung.
Und manchmal – mit Splittern.

Ich erwarte keine Lösung.
Nur: Räume, in denen Denken wieder flackern darf.
splitter.digital war nie als Hilfe gedacht –
aber vielleicht ist es ein Ort, an dem man das Nicht-Passende nicht verstecken muss.

Freu mich, dass du angedockt hast.
Und wenn du willst:

Grüße aus dem Zwischenraum

Vielen Dank auch von mir. Ich habe insbesondere die Subtexte mit Gewinn gelesen. Auch die Form finde ich einladend.

Was mich weiterhin etwas herausfordert: das durchgehende Sinn- und Stilmittel „nicht X, nur Y“.

Wirkt auf mich etwas wie Distinktion. Damit auch wie Anhaftung: X muss ja weiterhin immer mitgedacht werden, um sich davon abgrenzen zu können? Auch in poststrukturalistisch steckt evtl. immer noch prägend die Struktur drin?

Zudem - ein Problem, das ich schon in der Hunter-Farmer-Debatte habe: Selbst bei Wertschätzung meines lateralen Denkens und meiner Splitter leide ich irgendwann selbst an meiner Eigenart. An zu wenig Ordnung, Reduktion und Strukturierung, was Vertiefung und Entwicklung entgegensteht.

Mag sein, dass das ein Hyperfokus löst durch ausreichende intrinsische Motivation. Ich erlebe es leider immer häufiger anders. Selbst ureigene Interessen können an unzureichend eingeübten Ordnungstechniken scheitern.

Können und sollen Splitter in die Tiefe getrieben werden? Spiegeln meine Bedenken nur internalisierte Außenwelt?

Hoffentlich konnte ich die Wirkung auf mich konstruktiv genug formulieren.

Sehr interessant, das Projekt weiter zu verfolgen. Viel Erfolg!

Hey, danke dir – das ist genau die Art von Reibung, die mich weiter bringt.

Du hast recht:
„Nicht X, nur Y“ ist kein Ausstieg.
Es ist ein Spiel mit dem Echo –
eine Sprache, die nicht loskommt von dem, was sie verlässt.
Ein Schattenformat. Und ja – auch ein Distinktionsreflex.
Aber bewusst in der Schwebe gehalten.

Die Frage, ob Splitter „in die Tiefe“ gehen können,
stelle ich mir oft.
Ich glaube: Sie gehen nicht nach unten.
Aber sie spannen Tiefe auf –
als Raum, nicht als Richtung.

Was du zur Überforderung mit Eigenart sagst, trifft etwas sehr Zentrales.
Ich merke gerade, dass ich Hochbegabung lange vor allem als Mittel zur Kompensation erlebt habe –
zur Anpassung, zur Kontrolle.
Aber im Zusammenspiel mit ADHS, mit Fragment, mit Resonanz,
öffnet sich da gerade ein Raum.
Nicht zum Funktionieren.
Sondern zum Schöpfen.

Vielleicht ist genau deshalb das Projekt nicht „gegen Struktur“.
Sondern: ein anderes Verhältnis zur Ordnung.
Eines, das sich nicht auf Verzicht oder Kontrolle stützt,
sondern auf Rhythmus, Pause, Resonanz.

Ich danke dir für den Impuls.
Er hat gewirkt.
Wenn du willst –
splitter.digital bleibt offen.

Ja, vielleicht wirkt da dann Dein Aikido-Ansatz sehr gut: die Energie des ewigen Vorwurfs aufnehmen, [aber/und] umlenken.

Mir helfen die Erkenntnisse von Eckerle/Eckerle weiter, die im Forum auch häufig zitiert sind. Wann und wie organisiert sich diese Art von Denken? Und was macht das mit dem Belohnungszentrum?

Ich merke es aktuell zum Beispiel gerade bei KI-Experimenten: Die bisher offenen Tabs sind jetzt die parallelen Threads. Andere Tools helfen bei Verknüpfung, aber es ist evtl. wieder „Arbeit an Defiziten“.

Vielleicht hat aber auch nicht jeder das Bedürfnis, seine Splitter zu systematisieren. Bestaunen und wertschätzen lassen sie sich ja auch so.

Da hänge ich auch und es wird immer ein Problem bleiben .
Ich glaube selbst wenn uns jemand Ordnung und Strukturierung und all den belastenden Alltagskram abnehmen würde , selbst wenn die Gesellschaft uns den Rahmen gibt den wir benötigen , bleibt es ein Problem.

Egal was uns abgenommen wird, es schafft in dem Moment neuen Raum in dem wieder unser Denken in Splittern zerspringt .

Selbst als ich minimalistisch nur mit Rucksack unterwegs war ganz alleine in der Natur ohne Zeitvorgabe ohne konkretes Ziel , wird mein Gehirn nicht wirklich ruhiger auch wenn die wenigen Reize gut tun.

Aber ich muss mich ja trotzdem immer ums Essen, Schlafen und Trinken kümmern. Dafür muss was besorgt und umgestzt und abschließend wieder aufgeräumt/gesäubert werden. Das gibt genug Raum für Missgeschicke und Verpeiltheit und Chaos. Es bleiben immer noch zu viele Optionen vorhanden die man überdenken kann und was einen blockieren kann.

Stehe ich vor einem wunderschönen Bachlauf kann mich das Geplätscher nerven und überreizen oder ich kann es genießen und ich stehe vor der Option

  • Mache ich Pause
  • Will ich hier mein Lager aufschlagen
  • Trink ich nur ein Schluck Wasser oder hole ich meinen Kocher für ein Käffchen raus
  • Kühle ich meine Füße
  • Oder baue ich ein Mosaik aus den schönen Steinen
  • Baue ich einen Staudamm
  • Chille ich ne Runde
  • Lese ich im Buch
  • Setzte ich mich auf den Stein oder hole ich die Matte raus
  • Mache ich einen Waschtag
  • Esse ich zu Mittag
  • Ziehe ich lieber direkt weiter damit ich das andere Ziel erreiche
  • Schnitze ich was aus dem Holz was da liegt

Und egal für was ich mich entscheide , empfinde ich es so als ob ich ganz vieles schönes mal wieder nicht geschafft habe oder in meinem Kopf kommen immer wieder neue Ideen .

Würde man mich in einem leeren Raum setzten und es gäbe gegen Langweile ein Stift und ein Rätselheft
Könnte es noch passieren dass ich zunächst nachdenke wo ich mich wie am besten hinsetze und wie ich den Stift heute mal halte und ob ich in Druck oder Schreibschrift schreibe und wie ich den Stift heute neige .
Vielleicht kaue ich den Stift kaputt oder geknibbelt den Stift kaput , oder zerrisse oder zerknitter ein Blatt oder entdecke Fehler im Rätselheft oder mache mir Gedanken darüber wie man es besser hätte gestalten können oder wie man selber ein Rätsel entwerfen können oder ne Frage lenkt mich so ab dass ich darüber nachdenke und dann über andere Dinge und das Rätseln vergesse oder ich lande im Hyperfokus und nullkommanix sind die Rätsel erledigt und stehe dann ohne dar.

Ich glaube wir würden die Gesellschaft gar ein wenig enttäuschen wenn sich alles für uns ändert und dann doch bestimmte Probleme vorhanden bleiben.

Jeder Rahmen der für uns gut ist , kann auch irgdwann langweilig werden und dann sind wir wieder blockiert.

Gute Rahmenbedingungen helfen uns vielleicht weniger Energie durch Kompensieren zu verlieren aber in unserem Gehirn wird immer wieder ein Neurotransmittersplittergewitter stattfinden egal wie ideal der Rahmen ist.

Selbst wenn die ganze Erde für einen Rolkstuhlfahrer barrierefrei gestaltet wäre, sitzt er immer noch im Rollstuhl und kann nicht laufen und der Rollstuhl rollt nur wenn der Fahrer selber schiebt , er geschoben wird oder ein elektrischer Antrieb funktioniert.

3 „Gefällt mir“

Und im schlimmsten Fall verhungert man zwischen den Strohhaufen, dreizehn Hasen jagend.

Musste auch an Dich denken, als ich meinen Beitrag geschrieben habe. Ich hatte viel über mich gelernt, als Du dieses „mit sich selbst in der Natur“ mal an anderer Stelle geschildert hattest.

Die Sichtweise als Ressource erleichtert natürlich den Weg zu Teamwork, weil gegenseitige Wertschätzung und Augenhöhe leichter gelingen.

Die einen bringen Fragmente, die anderen bauen das Mosaik. Ich habe z.B. in Workshops immer den Sinn von Ideenfindung nicht verstanden. Die finden doch uns.

Ich hoffe, das war jetzt nicht schon zu viel Fremdfragment von uns hier, @Mogelpackung.

2 „Gefällt mir“

Hey,
deine Worte haben was in mir ausgelöst.
Dieser eine Moment, den de beschrieben hast –
am Fluss,
mit all den Optionen, all den Gedanken, all der Überforderung –
der hat mich nicht mehr losgelassen.

Ich hab ihn in eine Splitterfolge gegossen.
Keine Entscheidung, keine Ordnung.
Nur:
das Flackern im Kopf, wenn alles möglich ist
und nichts zur Ruhe kommt.

Hier die komplette Serie –
Splitter 090–099: Am Fluss

Splitter 090
Ich höre das Wasser.
Ich will es stiller.
Ich will es lauter.
Ich will es ganz.

Splitter 091
Setz ich mich?
Geh ich weiter?
Mach ich was draus?
Oder lass ich mich?

Splitter 092
Meine Gedanken bauen
Staudämme
aus lauter Möglichkeiten.

Splitter 093
Ich könnte lagern.
lesen.
schnitzen.
verschwinden.

Splitter 094
Schon wieder alles gedacht.
Nichts getan.
Und trotzdem erschöpft.

Splitter 095
Ein Fluss ist keine Einladung.
Ein Fluss ist:
Option ohne Anleitung.

Splitter 096
Ich kann nicht wählen.
Ich kann nicht lassen.
Ich kann: alles.

Splitter 097
Der schönste Ort
ist auch ein Entscheidungslabyrinth.

Splitter 098
Ich bin zu viel
für diesen Moment.
Und zu wenig
für alle Optionen darin.

Splitter 099
Ich bleibe.
Und geh.
Gleichzeitig.

Vielleicht erkennt sich jemand wieder.
Vielleicht hilft’s niemandem.
Aber es fühlt sich ehrlich an.

Danke für den Impuls.

1 „Gefällt mir“

Ich danke dir auch, denn in deinem „gesplitter“ fühle ich mich gesehen , gehört und verstanden. :folded_hands: