Hallo alle,
ich wollte das hier lieber im geschützten Bereich posten, darum nicht bei den Kindern und Jugendlichen, da der Bereich frei zugänglich ist.
Ich versuche mich kurz zu fassen.
Ich habe meine Diaganose seit 8 Monaten und bin gut auf Medikinet adult eingestellt.
Kam nur auf die Idee, mich testen zu lassen, weil in einem Gespräch mit einer Psychologin in einem Beratungstermin der Schulpsychologie zu meinem Sohn, damals noch 12, das Thema ADHS aufkam und ich sagte:„Hä, das ist bei mir doch auch so?“
Mein Sohn ist seit Dezember in der Diagnostik gewesen, seit einer Woche haben wir die Diagnose.
Kurz zum Kind:
- Er ist 13,9, überdurchschnittlich groß (1.76m) , leicht übergewichtig
- sehr lieb, gerechtigkeitsliebend, fürsorglich, reflektiert, sensibel, teilweise aber sozial unangemessen (zu laut, zu heftig, merkt nicht, dass andere gerade was ganz anderes wollen und brauchen als er
- wirkt sehr jung, tollpatschig, „aus dem Mustopf“, reagiert oft unangemessen emotional (schon immer)
- noch nicht pubertär, Stimme noch eher hoch, erste Haare wachsen aber schon seit der 5. Klasse
- wenig Freundschaften, die aber langjährig, stört ihn aber nicht. Er hat gerne seine Ruhe, liest, spielt mit seinem jüngeren Bruder, schreibt an seinem Fantasy-Epos, fährt mit dem Rad rum, zockt Mariokart. FreundInnen müssen ihm 100% gefallen, sonst ist er lieber alleine
- in sozialen Settings spielt er oft mit den Kleineren, tobt, lässt sie auf sich rumklettern, gibt Spielideen vor oder sucht sich eine ältere Person mit gleichen Interessen - oder zieht sich zurück und liest.
- braucht viel Schlaf, 10-12 Stunden, sonst ist er komplett weinerlich und unkonzentriert
- in der Grundschule hatte er nur super Noten und hat sich immer hervorragend selbst organisiert. Die Grundschule hatte entschieden, ihm ohne Diagnosen die Rechtschreibleistungen einfach nicht zu werten. Seit 2 Jahren ist er jetzt auf dem Gymnasium und die Noten sind auf Talfahrt gegangen. Er muss wahnsinnig viel selbst organisieren, Teams checken, Untis checken, das ist zuviel, er vergisst Termine, er kommt zu spät, steht im falschen Raum, beantwortet Fragen zu schwammig, beantwortet Aufgaben an der Aufgabenstellung vorbei. Er ist super resilient und hat sich da wieder ordentlich hochgekämpft, aber es ist trotzdem frustrierend, wenn nach intensivem Lernen doch wieder eine 4 oder 4- dabei rauskommt.
- Vater ist im 5. Lebensjahr ausgezogen und seitdem eher mal am Wochenende präsent. Die Beziehung mit den Kindern ist aber liebevoll, er wird über alles informiert und mit einbezogen, letztendlich treffe aber ich die Entscheidungen.
Ergebnisse der Diagnostik:
Zusammenfassung:
- ein freundlicher 13jähriger, der körperlich altersentsprechend entwickelt ist, jedoch 2-3 Jahre jünger wirkt
- er hat eine sehr deutliche isolierte Rechtschreibschwäche, das Lesen ist sein großes Hobby und da ist er im Durchschnitt. Es wurde nur die HSP gemacht.
- Kind ist im oberen Durchschnittsbereich der Intelligenztestung - WISC IV- (IQ 112), werden die Aufgabenblöcke rausgerechnet, bei denen die Konzentration relevant ist, dann ist er knapp überdurchschnittlich intelligent (IQ116)
- Es gibt eine deutliche Diskrepanz zwischen den intellektuellen Fähigkeiten und den schulischen Ergebnissen, die einen wahrnehmbaren Leidensdruck verursachen
- überdurchschnittliche Ergebnisse gab es im Bereich der fluiden Intelligenz und im Sprachverständnis, der Rest ist als „durchschnittlich“ bewertet, mir wurde im Auswertungsgespräch mündlich gesagt, Konzentration und Verarbeitungsgeschwindigkeit seien unterdurchschnittlich
- Bei der Überprüfung, Aufmerksamkeit auf mehrere Reize zu richten, waren die Ergebnisse gut, die Reaktionszeit aber unterdurchschnittlich
- Reaktionszeit nimmt im Verlaufe der Testung ab, Kind formuliert auch „ist anstrengend“, wirkt müde
- Auswertung der Fragebögen (Kind, Mutter, Vater, 1 Lehrkraft, 1 Schulhelfer): sehr auffällig, besonders Unaufmerksamkeit, Impulsivität, Funktionsbeeinträchtigung, Leidensdruck
Das war jetzt erstmal nicht überraschend. Wir machen beim Kinderarzt ein Blutbild und ein EKG und machen dann eine Eindosierung mit Medikinet.
Außerdem bietet die Praxis eine „Lernen lernen“-Therapie an, wir haben 3 Terminezwischen Juli und Oktober, es geht dort vor allem um Selbstorganisation und Strategien. Danach findet ein weiteres Auswertungsgespräch statt.
Schule:
Kind ist in der 8. Klasse Gymnasium. Die Lehrkräfte sind freundlich und bemüht, aber auch überfordert und ahnungslos („Das habe ich im Studium nie gelernt! Da weiß ich nichts drüber! Wir haben keine Sonderpädagogin!“). Ich habe mehrmals den Kontakt zum zuständigen Beratungszentrum hergestellt, die bieten Schulungen zu LRS an- wurde seitens der Schule nicht wahrgenommen.
Ich habe den Eindruck, die Lehrkräfte hätten gerne eine Lösung ex machina- Kind übt die Handschrift und sie wird sofort besser! Hurra!- Sorry, die üben wir seit der ersten Klasse inklusive mehrerer Jahre Ergotherapie.
Beim Elternsprechtag neulich wussten die meisten Lehrkräfte nichts von der Diagnostik „Sowas erfahre ich immer erst in den Konferenzen“/ „Ich wusste nicht, dass ich ihn auch mündlich abfragen darf, können Sie mir da was schicken?“/ „Er ist merklich intelligent, versteht neue Inhalte oft als allererster, aber in den Klassenarbeiten kann er den Lösungsweg nicht erklären, total schade!“ „Bleibt unter seinen Fähigkeiten“- ahhhhhhh!
Teilweise werden dem Kind Dinge vorgeworfen oder abgefordert, die Teil der ADHS sind, man erinnere sich an die Nachricht von „Frau Email“, obwohl bekannt ist, dass er in der Diagnostik ist.
Es fanden und finden immer wieder Gespräche statt, in denen ich immer wieder vermittle, was das Kind realistisch leisten kann und die Lehrkräfte sind immer wieder überfordert. Ich verstehe das auch, es sind 30 Kinder in der Klasse und jedes hat sein Päckchen. Trotzdem ist es unbefriedigend.
Meine große Frage ist momentan, wie wir mit der Schule weitermachen.
Der Vater und ich sind beide nicht leistungsbesessen. Das Kind soll vor allem glücklich und zufrieden mit sich sein, ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln, sich seinen Talenten entsprechend entfalten können. Die Schule ist schon stark leistungsorientiert, was mir bei der Anmeldung nicht klar war, dabei aber sozial gut aufgestellt, es gibt wenig Konflikte an der Schule, ein nettes Miteinander, gemeinsame Ausflüge und Auftritte, wenig Mobbing und Hänseleien.
Das ist deshalb so wichtig, weil unser Kind sehr sehr sensibel ist. Jemand erschlägt eine Wespe- Kind fängt an zu weinen und muss sich rausziehen, weil man doch keine Tiere töten kann, einfach so. Diskussion über Mobbing, Trauer, Ungerechtigkeit- Kind weint. Kind wird ungerecht behandelt- Kind brüllt laut ohne Worte in den Raum und muss sich draußen abregen. Damit können an der Schule sowohl die Lehrkräfte als auch die Kinder der Klasse relativ gut umgehen. Kind ist bestimmt nicht „cool“ oder der Beliebteste, wird aber eben auch nicht gehänselt oder ausgeschlossen.
Wir wohnen in der Berliner Innenstadt. Diese „emotional-soziale Unreife/Entwicklungsverzögerung“ würde ihn an vielen anderen Schulen zum perfekten Opfer machen. Er ist nicht cool. Er will auch keine Strategien lernen, um in solchen Momenten anders zu agieren und weniger angreifbar zu sein. Er will einfach er selbst sein, was ich von ihm sehr charakterstark finde. Mein Sohn möchte unbedingt erstmal an der Schule bleiben, er ist ein sehr loyales treues Seelchen.
Es ist also ein bisschen die Wahl zwischen „Leistungen unter Möglichkeit, Selbstbewusstsein davon ggf. tangiert, aber sozial in Ordnung“ und „Schule kann vielleicht mit ADHS/LRS besser umgehen, bessere Noten, dafür wahrscheinlich sozial mehr Kritik, Ausgrenzung, Kommentare durch Peer Group“
Die Klassenlehrerin empfiehlt den Schulwechsel, wohin weiß sie aber auch nicht.
Ich habe die Psychiaterin gefragt, was sie wichtiger fände- konnte sie nicht beantworten, wie auch. Sie schlug dann vor, einer der Lehrer beim Elternsprechtag auch schon, dass man zuerst den KlassenlehrerInnen- und FachlehrerInnenwechsel nach der 8. Klasse abwartet. Wenn da alles in Ordnung ist, das Kind bis zur 10. Klasse auf diesem Gymnasium lassen und dann auf eine Gesamtschule wechseln lassen, da er dann ein Jahr mehr Zeit hat bis zum Abi und das ganz schwierige SchülerInnenklientel tendenziell vielleicht auch nach der 10. schon abgeht.
Auch die Wirkung des Medikinet ist ja erstmal abzuwarten. Vielleicht funktioniert es so gut wie bei mir und einige der Schwierigkeiten erledigen sich von selbst.
Zudem stehen wir schon eine Weile auf einer Warteliste für eine LRS-Therapie, es soll im Dezember losgehen (16 Monate Wartezeit!)Die LRS-Fachkraft des Gymnasiums macht auch einmal wöchentlich ein Training mit den Kindern, aber das ist eben auch nur eine Person, die einmal eine Fortbildung gemacht hat, ohne das schmälern zu wollen.
Insgesamt habe ich volles Vertrauen, dass dieser resiliente, patente, liebevolle kleine Kerl seinen Platz finden und seinen Weg gehen wird. Ich möchte es ihm natürlich leichter machen, als es das bei mir und vielen von Euch war.
Besonders stellt sich mir die Frage der Balance zwischen - Ich helfe ihm kleinschrittig und erinnere ihn immer wieder, weil er es nicht alleine kann- (das ist intuitiv das richtige, auch wenn es mich anstrengt) und - Ich lasse ihn alleine machen, er muss das schließlich lernen, er muss selbstständiger werden - (sagt seine Klassenlehrerin z.B, die aber auch von ADHS keine Ahnung hat). Was meint ihr dazu?
Ich habe gar keine konkrete Frage eigentlich, aber vielleicht hat euer Schwarmwissen ja Ideen, Anregungen, eigene Erfahrungswerte. Die würde ich gerne lesen.
Danke!