ADHS bei Jungs, Hochsensibilität bei Mädchen

Hallo zusammen,

meine ADHS-Diagnosestellung liegt nun gute 3 Wochen zurück, seit einer Woche nehme ich Methylphenidat, und mein Leben ist jetzt schon ein völlig anderes als davor.

Ich hab mir in den letzten Wochen (und Monaten, seit ich Mitte Februar beim diagnostischen Interview war) viele, viele Gedanken zu dem Thema gemacht. Normalerweise habe ich meine Grübeleien und Zerdenkereien zu so spezifischen Themen immer wieder versucht einzudämmen, aber ich glaube, dass es wichtig für die Verarbeitung ist, dass ich mir gerade so viele Gedanken dazu mache und versuche es einzuordnen. Das war damals mit meiner Hashimoto-Diagnose genauso. Ich habe mich tage- und nächtelang dazu belesen, über Monate hinweg, sodass ich am Ende Expertin war und ein gutes Gefühl dafür bekommen habe, was diese Erkrankung mit mir anstellt und wie ich ihr am besten begegnen kann. So versuche ich es aktuell auch mit ADHS. Diese sturzflutartige Beschäftigung damit scheint mir gerade irgendwie wichtig zu sein, um es gut integrieren zu können. Da bin ich auch froh, dass ich gerade ‚Urlaub‘ habe.

Aber lange Rede, kurzer Sinn: Worum es mir gerade geht ist das Gefühlswirrwarr und meine Biographie (die in gewisser Weise vielleicht auch vielen anderen Biographien von Mädchen und jungen Frauen mit ADHS ähnelt) im Kontext Geschlecht und Geschlechtsunterschiede.

Wie ich hier in einigen Posts bereits erwähnt habe, hat auch mein Bruder ADHS. Bei ihm liegt ganz klar die hyperaktive Variante bzw. kombinierte Variante vor. Er wurde schon zu Beginn der Grundschulzeit diagnostiziert, war das klassische, anstrengende ‚Zappelphilipp‘-Kind. Es folgten Besuche bei Psychologen, Ritalin, Ergotherapien etc. pp. Die ganze Bandbreite, die man als Kind mit ADHS vermutlich so geboten bekommt, gerade als Junge.

Bei mir sah das alles (leider) ziemlich anders aus. Ich war so ein bisschen der Sonnenschein der Familie, das brave, liebe Vorzeigekind. Gut in der Schule, keine Verhaltensauffälligkeit, sozial und angepasst, freundlich und intelligent. Aber diesem Stereotyp konnte ich nicht lange gerecht werden. Das klappte in der Grundschule noch, aber spätestens ab der 5. oder 6. Klasse ging das alles ganz schnell bergab. Depressive Verstimmungen, soziale Ängste, somatische Beschwerden, Mobbingerfahrungen und Probleme mit dem Essverhalten standen auf der Tagesordnung. Doch wo man bei meinem Bruder wirklich jede erdenkliche Option zur Behandlung ausgeschöpft hatte, blieb ich quasi unentdeckt. Bis… ich 14 war. Ich sprach mit meiner Mutter oft über meine Schwierigkeiten, erntete aber von ihr und meinem Vater oft nur Unverständnis oder - sagen wir es so - sie konnten die Schwierigkeiten, die ich hatte nicht einordnen. Grundsätzlich hieß es: „Nimm dir das alles nicht so zu Herzen“ oder „Mach dir nicht so einen Kopf“ oder auch „Du musst dir einfach ein dickeres Fell zulegen.“ Einfach… das sagt sich so einfach.

Eines Tages meinte meine Mutter zu mir, dass es doch sein könne, dass ich hochsensibel sei. Hochsensibel? Was sollte das sein? Nie davon zuvor gehört. Klar kann man sich so etymologisch ableiten, was das wohl bedeuten könnte. Ich beschäftigte mich dann mehr mit diesem Konzept ‚Hochsensibilität‘, meldete mich auch dazu in einem Forum an, las mich ein, meine Mutter besorgte sich auch ein Buch dazu, in dem ein Selbsttest zu finden war. Den füllte sie für mich und sich selbst aus. Das las sich dann in etwa so:

Ist Ihr Kind schnell von äußeren Umweltreizen überfordert?

Hat Ihr Kind einen hohen Gerechtigkeitssinn?

Kann sich Ihr Kind sehr in seinen eigenen Gedanken verlieren und sehr kreativ denken?

Man kennt das ja. Hat man sich mal so einen HSP-Test angeschaut, ist das Prinzip recht schnell nachvollziehbar. Das sind also Menschen, die eine geringere Schwelle gegenüber inneren wie äußeren Reizen aufweisen, schneller ‚angetriggert‘ werden sozusagen. Das kommt aber natürlich auch mit Stärken: Eine besondere Auffassungsgabe, eine ausgeprägte Kreativität und Empathie, eine starke Hilfsbereitschaft und die Freude an den kleinen Dingen im Leben. Ich habe das Buch vor Kurzem nochmal aus der Versenkung gezogen und gesehen, dass sowohl ich als auch meine Mutter bei dem Test wirklich sehr hoch gescored haben. Seit einigen Wochen vermute ich sogar, dass auch bei meiner Mutter ADHS bzw. eine ‚Restsymptomatik im Erwachsenenalter‘ vorliegt. Vor allem seit sie in die Wechseljahre gekommen ist, haben die Auffälligkeiten noch einmal ganz massiv zugenommen.

Seit ich denken kann, bin ich also so ein hochsensibler Mensch. Jedenfalls habe ich mich mit 14 sehr schnell in diesem Hochsensibilitäts-Konzept wiedergefunden.
Das hat erst einmal eine Erleichterung mit sich gebracht. Ja, ich war also schon irgendwie anders als die meisten. Aber ich war nicht ‚gestört‘ wie mein Bruder (das war damals eine große Angst von mir). Um das klarzustellen an dieser Stelle: Ich liebe meinen Bruder. Er ist ein humorvoller Mensch, mit dem man sehr viel aufregende Dinge erleben kann. Wir haben viel zusammen erlebt und auch, wenn wir uns heute nicht mehr so oft sehen, weil wir recht weit entfernt voneinander leben, begegnen wir uns so, als hätten wir uns gestern das letzte Mal getroffen. Die Zeit mit ihm verfliegt, es wird nie langweilig.

Nun zurück zum eigentlichen Thema. Hochsensibilität, das war nun also so ein Label, mit dem ich die ganze Zeit umherlief. Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf.
Ich hatte zwar eine Weile lang eine zufriedenstellende Selbstbezeichnung gefunden, aber… mh, irgendwie hatte ich ja immer noch die gleichen Schwierigkeiten wie davor. Ich fühlte mich oft allein, wie ein Marsmännchen von einem anderen Planeten, und nichts und niemand konnte mir das vernünftig erklären. So lebte ich also Jahre, gar ein Jahrzehnt, immer wieder zweifelnd and mir selbst, stolperte von einer depressiven Episode in die nächste und hielt mich schlicht für dumm und unfähig. Selbst dann, wenn ich von außen betrachtet erfolgreich war: Abitur, erfolgreiche Praktika, ein stabiler Freundeskreis, ein Bachelor- und ein Masterabschluss, eine langjährige zufriedene Partnerschaft. Was wollte ich eigentlich? Von außen betrachtet hatte ich doch alles. Auch in Bezug auf meine Depressionen und Ängste habe ich mir früh und viel Hilfe gesucht. Stationäre und ambulante Therapien, Antidepressiva, Achtsamkeitstrainings, Selbstreflexion, Selbsthilfe-Kanäle auf YouTube und und und.
Vor einem halben Jahr saß ich bei einem Erstgespräch einer Verhaltenstherapeutin, die mir erst einmal verdeutlichte, wie viel ich schon an Therapieerfahrung hatte. Ja, und doch… kam ich mir immer noch irgendwie fehlerhaft vor. Oder sagen wir mal unvollständig. Als ob mein Gehirn seit meiner frühesten Jugend irgendwie an manchen Stellen und in manchen Bereichen einfach eingeschlafen wäre, sich nicht weiterentwickelt hätte, irgendwie abweichend zusammengewachsen wäre, wie es nicht sein sollte. Ich fühlte mich unzulänglich, nicht funktional genug, wie ein Hochstapler.

Und nun stehe ich an einem ganz anderen Punkt: Ich habe die Gewissheit und kann nun endlich das Puzzle zusammensetzen. Ich habe ADHS. Ich bin eine 26-jährige Frau, die mindestens die Hälfte ihres Lebens geglaubt hat, dass sie ‚zu sensibel‘ sei, weil sie im Schatten ihres älteren Bruders nicht ‚genug‘ aufgefallen ist, obwohl sie innerlich gelitten hat. Keiner hat es so richtig gesehen, weil das ist einfach das sensible Mädchen. Die muss sich schlichtweg einfach nur ein dickeres Fell zulegen, eine emotionale Rüstung überstreifen. Ja, aber wie? Niemand zeigt es diesen sensiblen Mädchen. Sie werden abgetan, sich selbst überlassen, mit dem Gedanken: Nun ja, Mädchen wissen sich schon selbst zu helfen. Die sind ja emotional und sozial sowieso intuitiv gewandter als Jungs. Aber Mädchen brauchen auch Hilfe. Hilfe zur Selbsthilfe.
Und das ist der Moment, wo ich diesen Gedanken habe: „Wie schade.“ Da bin ich sicherlich nicht die Einzige. Wie schade, dass meine Mutter nicht darauf gekommen ist, dass ich ADHS haben könnte, anstatt einfach nur hochsensibel zu sein. Was hätte ich mir an Leid erspart, und den Menschen um mich herum natürlich auch? Wo stünde ich jetzt als Persönlichkeit?
Andererseits… gerade diese Herausforderungen, durch die ich gegangen bin, haben mich zu einer resilienten Person gemacht. Überleg mal, du läufst einen Hürdenlauf und bist die Einzige, die 5 Kilo-Gewichte an den Schuhen trägt. Das baut ja irgendwo auch Muskeln auf. Aber es führt auch dazu, dass du dir Verletzungen zuziehst, die nicht hätten passieren müssen.

Es hat alles zwei Seiten…

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Ich glaub, WEIL deine Mutter so viele Ähnlichkeiten zu dir hat bei solchen Tests und sie sich vermutlich auch nicht mit dem ADHS deines Bruders identifizieren kann, konnte sie gar nicht auf den Gedanken kommen, dass du ADHS haben könntest. Es ist ja ihre Normalität und es ist anders als das ADHS von deinen Bruder.

Ich finde es viel schlimmer, dass man ewig in Therapien steckt und auch stationär und keiner auf diese Idee gekommen ist. Ich hab vor kurzem meine schriftlichen Sachen durchgeschaut und mich erinnert, was ich alles immer und immer wieder gesagt hab in verschiedenen Therapien und auch stationär und wie extrem das in das Gesamtbild ADHS passt. Und am Ende muss ich zufällig selbst rauszufinden, was ADHS ist und dass ich das haben könnte. Bei mir ist es jetzt so, dass auch noch ASS im Raum steht, aber auch das hab ich direkt von Anfang an bei Psychiatern und Therapeuten angesprochen und keiner ist irgendwie drauf eingegangen und seit dem ich die ADHS Diagnose habe, sagen plötzlich alle, dass da doch noch eine für meine Schwierigkeiten viel ausschlaggebendere Störung dahinter steckt, weil das ADHS allein das alles nicht erklären kann und auch die Kindheit usw. kann das nicht erklären.
Wofür hole ich mir Hilfe, wenn dann doch das stimmt, was ich schon unzählige Male angesprochen habe…

Ich hab Menschen kennengelernt, die keine Diagnose haben wollen (vielleicht Angst vor Medikamenten, keine Ahnung), sie fühlen sich sehr wohl, wenn sie sich als hochsensibel bezeichnen. Einige sagen dann, dass sie autistische Züge haben. Sie gehen dann lieber zum Heilpraktiker, um keine richtige Diagnose zu bekommen.

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Hi Chihiro,
deine Geschichte könnte meine sein.
Nur dass mein Bruder immer noch keine Diagnose hat, und keine Therapie. Er war als Kind enorm auffällig. Aber ADHS war damals noch nicht wirklich bekannt und unsere Eltern (vielmehr unser Vater) haben lieber die Augen verschlossen, als etwas zu unternehmen.
Ich bin 20 Jahre älter als du, und mein Bruder ist nochmal drei Jahre älter als ich.
Genau wie du, hab ich mich von klein auf übermäßig kontrolliert, um nicht die gleichen Probleme zu bekommen, wie er.
Meine Mutter sagte immer, ich sei der Sonnenschein der Familie.
Wenn mich Leute lobten, weil ich so freundlich und brav war, fand ich das zwar gut, aber ungerechtfertigt. In der Pupertät fings bei mir auch an mit Depressionen und ich wollte aufmüpfig sein, rebellisch, hab mich aber nie so ganz getraut. Bis dann Angst-Attacken kamen.
Ich hab mich auch schon mein Leben lang gefragt, was mit mir nicht stimmt, und warum ich mich überall wie ein Alien fühle.
Ich hatte sogar schon mal Ahnenforschung betrieben, weil ich hätte wetten können, dass ich adoptiert bin.:wink:
Genau wie du, verbringe ich enorm viel Zeit damit zu recherchieren, und mich zu informieren. Ich hab schon einige Therapeutinnen gehabt, und mir wurde auch schon gesagt, dass ich zu erfahren sei, für Therapie. Auf die Idee, dass ich ADHS haben könnte, kam aber keine wirklich. Über 1,5 Jahre habe ich an dem Gedanken rumlaboriert, letzte Woche war das Abschlussgespräch zu meiner Diagnostik, und die Ärztin sagte, es könnte klarer nicht sein. Und, obwohl mir schon seit einem Jahr ziemlich klar ist, dass ich ADHS habe, bin ich aus dieser Praxis rausgegangen, und mein ganzes Leben hat sich aufgeklärt. 47 Jahre Suchen, Grübeln, Zweifeln, sich verloren fühlen,und ein Termin und es erklärt sich auf einmal alles.

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Ja, das ist ja das Traurige an der Sache. Im Prinzip auch das, wo ich meinte „Wie schade“. Man hätte schon so viel früher intervenieren können.

Bei mir wurde es immer wieder in Richtung Depression einsortiert: Antriebsschwäche, Unlust etwas anzufangen und/oder zuende zu bringen, impulsive Handlungen, Konzentrationsschwierigkeiten etc. Und irgendwann denkt man sich (jedenfalls war das bei mir so): Kann doch nicht sein, dass das alles die Depression sein soll. Vor allen Dingen auch in der Zeit, wo ich offensichtlich nicht depressiv war. Also… es gab ja nie eine Zeit, wo ich nicht diese Antriebsschwäche und Konzentrationsschwierigkeiten wahrgenommen habe.

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Haargenau so war das bei mir auch! Ich war immer latent rebellisch, aber nie offensiv. Ich hab mich auffällig gekleidet, provokante und aggressive Musik gehört, aber ich war nie ‚zickig‘ oder ‚ungehorsam‘.

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Ja, genau so war es bei mir: vom Aussehen Punk, vom Verhalten Streber. :laughing:

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