ADHS und Wohngemeinschaften

Hallo und guten Abend,

ich bin schon seit einigen Monaten ein stiller, unregistrierter Teil dieses Forums, gehöre ich doch mit meinen 25 Jahren einer Generation an, für die Foren eher als veraltet gelten. Zu aller erst mag ich mich daher oder gerade deswegen für die vielen hilfreichen Beiträge bedanken, die mir mehr als nur einmal den (kleinen) Horizont erweitert haben. Zu einem Thema aber habe ich im Forum bisher nichts gefunden. Thema: Wohngemeinschaften.

Kurz zu mir: Ich bin 25 Jahre alt, weiblich, geboren und wohnhaft in Hamburg, habe allerlei pysische Krankheiten diagnostiziert, darunter auch ADS und hole gerade auf dem zweiten Bildungsweg mein Abitur nach, um meinem sehr ungeraden Lebenslauf etwas Qualität zu verleihen. Ich habe seitdem ich bei meinen Eltern ausgezogen bin immer allein gelebt und es im Grunde geliebt. Leider musste ich aufgrund von Eigenbedarf des Vermieters ausziehen und habe nach einigen Monaten der Suche resigniert festgestellt, dass es schwierig wird was eigenes zu finden, weswegen ich mich im Dezember letzten Jahres auf das Abenteuer einer Wohngemeinschaft eingelassen habe. Nach geschlagenen 9 Monaten kann ich festhalten, dass ich es hasse mit anderen Menschen zusammenzuwohnen. Gut in meinem Fall ist es nur ein männlicher Mitbewohner, aber was die Rücksichtslosigkeit, Lautstärke beim Tür zu machen und die fehlende Bereitschaft zu putzen angeht, rege ich mich locker für 2-3 Mitbewohner auf. Dazu schaffe ich es überhaupt nicht zu entspannen, ich finde in mir noch weniger Ruhe als sonst und merke grundsätlich, gerade in den letzten Wochen, dass sich meine ADS-Symptome seitdem ich in einer Wohngemeinschaft lebe deutlich verschlimmert haben. Ich habe noch viel größere Schwierigkeiten als ohnehin schon mal Aufgaben zu erledigen, meinen Tagesablauf zu verfolgen und auf meine seltene, aber mitunter vorhandene innere Stimme zu hören. Zu wissen, dass noch jemand in der Wohnung ist, der nicht der Partner ist, stresst mich unheimlich. Gerade wenn das Verhältnis angespannt ist, weil ich als die konservative dargestellt werde, da ich mir eine saubere Wohnumgebung wünsche, kämpfe ich sehr mit dem Fakt, nicht vollständig alleine sein zu können. Dazu habe ich mittlerweile fast dauerhafte starke Rücken- und Nackenschmerzen. Das man seit Dezember quasi aufeinander hockt, verbesserte die Situation für mich natürlich auch nicht, aber da möchte ich mich nur ganz leise beschweren, da andere es noch deutlich schwieriger hatten als ich.

Daher die Frage in die Runde, an die, die nicht das Glück haben alleine wohnen zu dürfen: Wie wisst ihr euch zu helfen?

Wie mein kleiner Text zeigt, habe ich bisher nicht viele Antworten gefunden. Die, die ich gefunden habe, weiß ich dafür aber umso mehr zu schätzen und lauten: Ohrstöpsel, Noise-Cancelling kopfhörer und mir selbst verordenter Rückzug, da ich nach einem langen Tag zwar gerne zusammen Abend esse, aber dann auch meine Ruhe brauche. (Die ich zwar nicht genießen kann, aber es ist ein Anfang)

Liebe Grüße,
Marxis

Herzlich willkommen, @Marxis, unter den aktiven Nutzern.

Was für einen coolen Jungbrunnen Du uns in das veraltete Forum gestellt hast. :wink: Ich bin nämlich bei meinem „walk down WG memory lane“ glatt 20 Jahre jünger geworden.

Auf einmal erinnere ich mich wieder an Cheryl mit den blauen Haaren, die im Wohnheim nebenan wohnte und mir mit einem einzigen eisigen Blick beim allerersten Vorstellen das Gefühl gegeben hat, ich sei die denkbar spießigste Nachbarin der Welt. Ich musste nicht mal was sagen. Cheryl analysierte das auch so. (Wie gern würde ich mich im heutigen Chaos nochmal so wohltuend aufgeräumt „kontrast-spießig“ finden wie unter diesem Blick.) Cheryl hörte Trash Metal.

Mit Cheryl kam ich dann aber eigentlich klar, weil es bald Teil meiner Prokrastinations-Routine wurde, ihre eingetrockneten Spülberge mitzuerledigen. Es ging auch nicht anders, denn sie lagerte sie im Spülbecken. (Wie ich heute manchmal… Gibt es da evtl. einen Zusammenhang?) Ärger gab es dafür aber immer mit Sara ohne H, die der Ansicht war, so würde Cheryl es nie lernen und das sei dann auch meine Schuld. Sie hat sich dazu auch mit der schönen Dänin von gegenüber verbrüdert, deren Name mir nicht mehr einfällt. (Allerdings hat mich Sara ohne H auch einmal getröstet, als ich während der Masterarbeit so laut weinte, dass sie es durch die Tür gehört hat. Muss ich zu ihrer Verteidigung sagen.)

Das unter Pandemie-Bedingungen: Hut ab, dass Du überlebt hast.

Ohne oder fast ohne Fluchtmöglichkeit kenne ich das nur aus den Zeiten eines „Dreibettzimmers“ bei der Arbeit. Oder dem, was man als ADHSler in einem Drei-Personen-Zimmer noch so Arbeit nennt. @f_luxus hat das kürzlich an anderer Stelle so gut zusammengefasst in Richtung: „Meine eigenen Filter sind ja schon herausfordernd; da brauche ich nicht noch andere kaputte dazu“, wie zB die des Büro-Nachbarn, der viermal am Tag laut aus SpiegelOnline vorlas.

Als ich dann zum ersten Mal bei der Arbeit eine Tür hinter mir alleine zumachen konnte, konnte ich „fühlen, wie ich mich zum ersten Mal wieder denken hören kann“. Unvergesslich.

Vielleicht liest Du schon die Antwort daraus auf Deine Frage in die Runde: „Wie wisst ihr euch zu helfen?“ Tendenziell damals eher gar nicht. Ich wusste da aber auch noch sehr wenig darüber, wie ich ticke und warum das manchmal nicht auszuhalten war da, usw., also nicht halb so viel über mich und die Welt, wie Du heute schon von Dir weißt und mitkriegst.

Beschwer Dich gern lauter hier, wenn Du magst. Einfach als ergebnisoffenes Selbstexperiment, ob es hilft. Meine Prognose wäre: Darüber ärgern funktioniert wie so wohnen, also allenfalls übergangsweise und mangels Alternativen.

Was ich vielleicht „besser als nichts“ anbieten kann, ist ein anderer Trick, der mir dank Deines Jungbrunnens auch wieder in den Sinn kam: Nach Cheryl & Co und während der Arbeitszeit im Dreibett-Zimmer habe ich in einem Kellerloch gewohnt, das nur im Mietvertrag Souterrain-Wohnung hieß. Es war so nass, dass sich Papiere wellten, die versehentlich über Nacht auf dem Teppich lagen. (Habe ich trotzdem erst spät kapiert, was da los war… Ich war so froh, weg von Cheryl&Co zu sein.)

In dem Kellerloch habe ich aber intuitiv einen Zaubertrick entwickelt: In der Autobiographie eines meiner beruflichen Vorbilder beschrieb sie eine harte Zeit nach ihrer Scheidung. Da war sie mit ihren drei Kindern in einer Bruchbude mit Wackelkontakt-Strom und Schimmel. Und wenn sie nachts von ihrem 2. Job kam, versprach sie ihren schlafenden Kindern „I gotta get us out of this place.“

Das wurde irgendwie mein Mantra damals, und ich habe intuitiv so eine supererwachsene Version von mir gebaut, die „das jetzt da einfach durchzieht, weil das jetzt dran ist und weil es ohne Silberlöffel keine Alternative gibt und ja, das ist Scheiße. Das Leben ist hart, aber ich habe mein Ziel im Kopf, und deshalb kriege ich es hin. Und das hier ist nur eine Phase, die ich überstehen werde.“ Irgendwie so. Das war nicht richtig bewusst oder gar ausformuliert, sondern eher innerlich umrissen mit diesem „I gotta get us out of this place.“ Das hat aber oft genug meinen Fokus verschoben, und das Chaos und die Reizüberflutung um mich in einer Art „Schmelztiegel der Würde und des Selbstrespekts“ verflüssigt. Wie bei Miraculix. Vielleicht sollte ich auch mal wieder ne Tasse davon trinken in meiner inneren WG-Küche.

Es ist hart gerade. Das steht außer Frage. Es kann trotzdem sein, dass es eine lohnende Phase ist, die Dir später nicht nur eine gute Geschichte ermöglicht, sondern auch ein Leben lang einen wertschätzenden Blick, weil Du artgerechtere Lebensumstände nie als selbstverständlich ansiehst.

Vielleicht gibt es noch weitere schlaue Tipps von anderen überalterten WG-Bewohnern :wink:. Ich habe leider nur Miraculix anzubieten.

Huhu @Marxis!
Herzlich willkommen und danke, dass du mit mir den Altersdurchschnitt senkst :smiley:

Meine WG-Erfahrungen sind dementsprechend taufrisch.
Wobei ich seit einem Monat allein wohne. Aus ganz ähnlichen Gründen, wie du das in deinem Beitrag benennst.
Mein Mitbewohner hat aber zusätzlich zum mangelnden Hygiene-Common-Sense während der Pandemie ein Tattoostudio in unserer gemeinsamen Zweizimmerwohnung aufgemacht.
Das hat natürlich den Dreck auf dem Boden und den Klopapierverbrauch und die Tabakkrümel auf dem Küchentisch direkt um ein vielfaches multipliziert. Dazu dann immer Musik und rauchende Kund:innen in der Küche und überhaupt war es nicht unüblich, dass da mal locker 5 fremde Leute am Tag durch die Wohnung spazierten.
Nochmal: während einer Pandemie.

Also ist mir nichts anderes übrig geblieben, als auszuziehen.

Klingt bei dir so, als wär das vielleicht auf lange Sicht auch eher die Lösung.
Oder zumindest in ein Umfeld, dass ähnliche Bedürfnisse hat. Wie lange das gut geht, muss man dann testen, vielleicht decken sich die Ansprüche an den Wohnraum nicht für immer.
Zu den Ohrstöpseln, geschlossener Zimmertür und Grenzziehung für den eigenen Rückzug kann ich eigentlich nicht so viel hinzufügen. Außer vielleicht konkrete Absprachen, wie Putzplan und Ruhezeiten. Oder Kompromisse a la „Ja ich weiß, dein Death Metal Album macht am meisten Spaß, wenn man den Bass voll aufdreht. Dann hör das doch in der nächsten halben Stunde und danach ist mal wieder gut für heute“.

Stelle aber nochmal einen radikalen Gegenentwurf in den Raum: Vieles lässt sich besser aushalten aber auch bei den Mitbewohnis verklickern, wenn man sich grün ist. Daher muss man auch manchmal über den eigenen Schatten springen und Zeit schaffen für gemeinsam Quatschmachen, Spieleabend, Konzerte, ne Flache Wein. Auch wenn die Lust initial nicht da ist, gehts allen Beteiligten danach besser.

Und immer mal wieder dran erinnern, dass man selbst sicher genauso viele Macken hat, die den anderen auf den Sack gehen.

Das war sicher sehr belastend für Dich.

Musste trotzdem sehr, sehr lachen… Vielen Dank dafür. Nimm das, Cheryl von 2003. Du blauhaarige Konformistin. Alles unterhalb von Tattoostudio in der WG-Küche kann ab jetzt einpacken.