ADS trotz unauffälligem Grundschulzeugnis

Hallo zusammen,

ich habe hier im Forum und auch anderswo oft gelesen, dass die Grundschulzeugnisse als Diagnostikbestandteil herangezogen werden. Das war auch bei meiner Diagnostik der Fall.

Als ich mein allererstes Zeugnis aus der 1. Klasse jedoch angeschaut hatte, um es der Psychologin zuzusenden, dachte ich mir, dass da mit Sicherheit kein AD(H)S bei rauskommen wird. Es ist so unauffällig, wie man es sich nur vorstellen kann. Ich kann hier einmal den Text kopieren:

„XX ist eine überwiegend ruhige und sehr aufmerksame Schülerin.
Sie nimmt mit großem Interesse am Unterrichtsgeschehen teil.
XX arbeitet selbständig und gewissenhaft. Zu ihren Mitschülern hat sie recht guten Kontakt.
Sie liest fremde Texte sinnerfassend und teilweise mit Betonung. Sie kann Druckschrift in Schreibschrift übertragen und geübte Wörter auswendig und meist fehlerlos schreiben.
Den Zahlenraum bis 20 beherrscht XX ohne Schwierigkeiten.
Sie arbeitet motiviert und konzentriert.
Arbeitsanweisungen erfasst sie schnell und versteht diese meist selbständig in Aufgaben umzusetzen.
Mit Arbeitsmaterialien geht sie ordentlich um.
Am Sportunterricht nimmt sie mit Eifer, Geschicklichkeit und viel Einsatz teil.
Der ästhetische Unterricht bereitet ihr viel Spaß und sie arbeitet sehr gewissenhaft und mit viel Geschick.“

Es ist auch kein sonderlich ausführlicher Text und basically der einzige Text in meiner gesamten Schullaufbahn.
Wenn man den so lesen würde, würde man nicht darüber nachdenken, dass das jemand mit Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen ist. Im Gegenteil.

Es gibt jedoch ein paar Aspekte, die man vielleicht dazu wissen muss. Mir wurde immer wieder rückgemeldet, dass ich sehr still und schüchtern sei. Bei jeder Notenvergabe hieß es, ich solle mich mehr beteiligen. Außerdem war ich ein ziemlich sensibles Kind. Bei kleinsten Schmerzen habe ich angefangen zu weinen. Bei der kleinsten Kritik habe ich angefangen zu weinen. Bei der kleinsten Zurückweisung… auch da habe ich tagelang geheult. Ich hatte alle möglichen Ängste… Trennungsängste, Angst vor dem Zahnarzt, Angst im Dunkeln, Angst vor Gewittern. Also im Prinzip ein kleines, ängstliches Mauerblümchen.

Darüber hinaus habe ich eine unfassbar strukturierende Mutter und einen sehr regelkonformen, disziplinierten Vater. Die haben IMMER darauf geachtet, dass ich meine Hausaufgaben mache und mich an alles Wichtige erinnert. Meine Bücher und Hefte hat meine Mutter für mich immer in Folie eingeschlagen, damit nichts drankommt.

Die wirklich starken Probleme mit der Unaufmerksamkeit kamen dann erst so ab der 5./6. Klasse. Da habe ich oft nicht zugehört, außer in Englisch, Philosophie und Kunst. Mathe, Chemie/Physik, Bio, Französisch, Politik und co. waren immer ein Drama. Durch Deutsch habe ich mich bis zur Oberstufe mit 1en und 2en durchgemogelt, weil ich die Grammatikaufgaben meist intuitiv richtig lösen konnte. Danach ging es um Gedichtsanalyaen und prompt war ich beu einer 4. In der Grundschule war ich noch sehr interessiert am Unterricht und hatte z.B. besonders viel Freude an Englisch und Kunst.

Zusätzlich hab ich rausgefunden, dass ich einen recht hohen IQ von 112 habe. Ich habe desöfteren mitbekommen, dass gerade Mädchen mit AD(H)S mit entsprechend hoher Intelligenz in der Schule nicht auffallen, weil sie ihre Probleme gut kompensieren können und Unterrichtsinhalte schnell verstehen können. Ich habe mich durch die Schule mit einem Abi von 2,3 durchgewurschtelt, obwohl es von Schuljahr zu Schuljahr immer mehr Kapazitäten verschlungen hat, die ich auch aufgrund einer Depression nicht mehr hatte.

Auch muss man wissen, dass ich einen älteren Bruder habe, der bereits mit 6 Jahren mit ADHS diagnostiziert wurde. Da war ich immer ein Stück weit das Goldkind meiner Eltern… unauffällig, selbstständig, intelligent, brav, angepasst, ehrgeizig. Diesem Bild hab ich in der Grundschule wahrscheinlich auch noch immer sehr entsprochen, konnte es aber spätestens ab der Mittelstufe nicht mehr aufrecht halten.

Wie war das bei euch? Also speziell auch bei Frauen mit dem Unaufmerksamen Subtyp? Kennt jemand das mit dem unauffälligen Zeugnis? Ich hab nämlich wirklich gezweifelt, ob die Diagnose stimmen kann, wenn mein Zeugnis keinerlei Hinweise hergibt.
Dennoch wurde mir eine ADHS mit mittelgradiger bis schwerer Aufmerksamkeitsstörung diagnostiziert. Unter anderem, weil es mir JETZT so starke Probleme macht. z.B. bin ich bei diesem Reaktions-Computertest, den ich machen musste, komplett abgeschmiert (war viel zu langsam und hab unter Zeitdruck viele Fehler gemacht) und habe Schwierigkeiten auf der Arbeit strukturiert zu arbeiten, Aufgaben zu priorisieren und Verpflichtungen nachzukommen.

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Ich kann von meiner Tochter berichten. Im GS Zeugnis steht auch was von konzentriert etc.

Sie meinte selber, dass Frau F. gar nicht mitbekommen hat, wenn sie aus dem Fenster geguckt oder vor sich hin geträumt hat. Schließlich musste die sich hauptsächlich um die kümmern, die bloß Quatsch machen oder um die, die gar nichts kapieren. Ein intelligentes, verträumtes und ruhiges Kind ist da nicht im Fokus.

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Ja, ich hab auch überlegt, ob mein Klassenlehrer einfach Standardsätze eingebaut hat, weil er sich um die ganzen störenden Kinder kümmern musste. Ich erinner mich wirklich ziemlich genau daran, dass ich immer wieder sehr lang für Arbeitsaufträge gebraucht habe, viel mit Nachbarn gequatscht habe und ziemlich langsam war.

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Ich war auch ein kleines, schüchternes Kind. Unauffällig. Mein Zeugnis ist ebenso.
Erst auf dem Übergangszeugnis von der 4. in die 5. Klasse, steht neben all den unauffälligen Eigenschaften, Florjetzt lässt sich noch leicht ablenken.

Letztendlich war bei mir mein Zeugnis nicht gefragt, denn ich habe einen typischen ADHS Lebenslauf. Viel angefangen, wenig zu Ende gebracht :wink:

Bei Frauen scheinen die ADHS Symptome manchmal erst in der Pubertät Sichtbar zu werden, da sich die Symptome verschlimmern und das Masking nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Gerade neben deinem Bruder mit ADHS wusstest du sehr früh, wie du nicht sein solltest :wink: und mit deinem IQ hast du das gut umgesetzt.

Du hast eine gesicherte Diagnose, mach dir mal keine Gedanken.

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Meine Tochter hat nun mit 15 Jahren ihre Diagnose erhalten.
Ihre Zeugnisse waren alle unauffällig. Sie wurde mir immer als brav und leise beschrieben. Dass sie Probleme mit der Konzentration hat ist mir in der dritten Klasse etwa aufgefallen, da sämtliche Rückmeldungen aus der Umgebung aber positiv waren, habe ich es nicht weiter verfolgt. Auf der weitrführenden Schule wurde es schwieriger, sie hat, wie du, einfach zu viel Kraft verbraucht zum Kompensieren, wurde immer stiller und unglücklicher, Sätze wie „Das kann ich eh nicht.“ sind gefallen usw.
Es war wie bei dir, ich habe als Mutter sehr viel aufgefangen. Nach dem letzten Sprechtag in der Schule, als sie wieder gesagt bekommen hat, sie müsse sich mehr anstrengen bei den mündlichen Noten, ist sie dann geplatzt, hat viel geweint, gesagt wie sehr sie sich anstrenge usw… Das war dann der Auslöser in die Diagnostik zu gehen. Und genau wie bei dir: hoher IQ - Die Werte bei Arbeitsgedächtnis und -geschwindigkeit waren über 30 Punkte unter den anderen Werten. Da habe ich es endlich kapiert: So kann doch kein Mensch vernünftig arbeiten, auch nicht mit häuslicher Unterstützung.

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Meine Zeugnisse waren eine Katastrophe, weil wir in der Zeit oft umgezogen sind und ich ständig die Schule gewechselt habe und mehrfach halbfreiwillig eine Klasse zurück gegangen bin.

Wie mich die Leute beschrieben haben und wie ich mich gefühlt habe, ist genauso wie du es bei dir beschrieben hast.

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Wie ich auf deinem Profil bereits gesehen habe, hast du ja mittlerweile die diagnose gekriegt.
Wie war das mit den Zeugnissen dann bei dir? Als du sie vorgelegt hast, hast du erzählen müssen wie die Grundschule für dich war?

Ich hab sie der Psychologin per Mail zugeschickt
Im Prinzip wurde dazu dann eigentlich nichts mehr gesagt. Ich wurde aber in Fragebögen und im Interview gefragt, wie ich meine Schwierigkeiten im Alter zwischen 6 und 10 Jahren wahrgenommen habe. Da gab es einige Auffälligkeiten. Ich habe auch erzählt, dass meine Eltern viel abgefedert und für meinen Bruder und mich strukturiert haben. Das ist ja scheinbar auch ein valider Punkt im Interview. Sowas wie ‚Keine Exekutivfunktionsprobleme aufgrund von guter äußerer Struktur‘. Außerdem hab ich erwähnt, dass mein Bruder diese klassische hyperaktive ADHS-Form hat und bereits früh diagnostiziert wurde, weshalb meine Herausforderungen höchstwahrscheinlich immer wieder hinten runtergefallen sind.