ADS und Später Leistungssprung – asynchrones Profil?

Hallo zusammen,

ich bin 37 und versuche gerade rückblickend zu verstehen, warum mein Lebenslauf so extrem asynchron verlaufen ist. Ich habe vor ca. 2 Jahren die Diagnose ADHS – unaufmerksamer Typ erhalten. In der Schule wurde ich aber damals einfach als „unfähig / unkonzentriert“ eingestuft. Ich habe meinen Hauptschulabschluss mit 3,6 gemacht – also objektiv schwach bewertet.

Auch Berufsschule und IHK Meisterprüfung waren sehr schwierig und nur knapp bestanden.

Später habe ich jedoch Technische Physik studiert und in komplexeren, eigenständigen Projekten – besonders bei tiefem Systemverständnis – konnte ich plötzlich Leistungen abrufen, die völlig im Widerspruch zu meinem früheren Bild standen. In Projekt- oder Abschlussarbeiten habe ich auf einmal sehr starke Ergebnisse erzielt – während ich bei einfachen Reproduktionsaufgaben unter Zeitdruck immer noch scheitere.

Was ich bei mir stark beobachte:

• Ich kann extrem tief denken, wenn ich Sinn, System und eigene Verantwortung habe

• Ich blockiere dagegen völlig bei starren Vorgaben, Zeitdruck, Merkaufgaben oder „Schema F“

• Ich funktioniere nicht über Fleiß + Disziplin, sondern über Verstehen & Verbinden

• ADHS erklärt einiges, aber ich frage mich, ob 2e (Hochbegabung + ADHS) bei mir realistisch sein könnte. Meine Psychiaterin meinte, dass sie sich gut vorstellen kann, dass ich in teilbereichen an der Hochbegabung grenze.

Kennt jemand dieses Muster?

Vor allem von Menschen, die erst spät „explodiert“ sind, nachdem sie Jahrzehnte unter Wert gelaufen sind – nicht aus Faulheit, sondern weil das falsche Umfeld alles blockiert hat?

Ich suche keinen Stempel sondern möchte besser verstehen, wie ich wirklich funktioniere.

Bin für ehrliche Erfahrungsberichte dankbar.

Viele Grüße

Remo

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Hallo und herzlich willkommen.

Ich kenne solche Muster auch sehr gut. Für etwas, was mich interessiert, kann ich auch ein sehr tiefes Verständnis entwickeln und dann auch richtig gut sein. Wenn mich aber etwas nicht interessiert, oder nicht wirklich greifbar ist, dann verstehe ich schon die einfachsten Sachen nicht. Als ich mein Fachabi-Zeugnis mit der Note 3,3 in den Händen hielt, wurde mir durch die Blume gesagt, ich soll mir doch etwas einfaches suchen, was ich machen könnte. Nun ja, hab studiert, entwickle u.a. Datenbanken und habe so ein gutes Verständnis für Daten, dass nicht wenige staunen.

Ob ich evtl. in manchen Sachen auch eine gewisse Hochbegabung habe, habe ich nicht abklären lassen. Habe mich zwar einmal für einen Test angemeldet, aber eine Zeit später wieder abgemeldet. Ich Angsthase.

Ich kann dir aber leider nicht dabei helfen, rauszufinden, wie du funktionierst, da ich es bei mir selber noch nicht herausgefunden habe :sweat_smile:

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Danke dir für deine Offenheit – das klingt tatsächlich sehr ähnlich wie bei mir.

Dieses „entweder extrem tief drin – oder bei scheinbar einfachen Dingen komplett blockiert“ kenne ich 1:1.

Auch bei mir wurde früher eher vermittelt: „Such dir was Einfacheres“. Und am Ende bin ich genau in den Bereichen stark, in denen es um Systemverständnis, Tiefe und Zusammenhänge geht.

Ich finde es spannend zu sehen, wie oft solche Lebensläufe völlig falsch eingeschätzt werden.

Danke auf jeden Fall für deine Antwort – tut gut zu lesen, dass ich damit nicht allein bin.

Solange das Schulsystem – zumindest in Deutschland – so funktioniert, dass vor allem diejenigen gesehen werden, die gut auswendig lernen können, oder solange Quantität wichtiger ist als Qualität (vor allem mündlich), werden viele andere einfach übersehen.

Als ich mit 15 nach Deutschland kam, kam ich zuerst in eine Förderklasse an einer Hauptschule, um Deutsch zu lernen. Es wurde kein Geheimnis daraus gemacht, dass man mich für dumm hielt – nur weil ich kaum sprach, selbst nach vier Monaten nicht. Während andere gebrochen Deutsch sprachen, blieb ich still. Dann schickte man mich in eine reguläre Klasse. Hauptsache weg, egal, wie es mir dort ging.
Und im ersten Diktat schrieb ich eine Eins.

Dieser rote Faden zog sich durch meine gesamte Schul-/Ausbildungs-/Studienzeit, sogar noch später im Beruf: „Die sagt nichts, also ist sie dumm. Warum also noch Zeit investieren? Bringt ja eh nichts.“

Im Studium hatte ich einmal ein Projekt, in dem alle anderen Projektmanagement machen wollten. Ich habe mich freiwillig bereit erklärt, Daten auszuwerten. Wir hatten eine Excel-Datei zur Verfügung, die sogar die WHO für ihre Auswertungen nutzte. Ich habe die Daten komplett auf den Kopf gestellt und festgestellt, dass sie keinen Sinn machten – und genau das habe ich auch bei der Präsentation unserer Ergebnisse bei der WHO berichtet. Hätte ich nicht schon einen Job in der Schweiz gehabt, den ich drei Wochen später angetreten bin, wäre ich bei der WHO gelandet.

Aber für meine ehemaligen Lehrer bleibe ich für immer dumm.:woman_shrugging:

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Wow, danke fürs Teilen – das trifft es auf so vielen Ebenen.

Gerade dieser Satz „die sagt nichts, also ist sie dumm“ … das kenne ich leider auch zu gut. Es ist verrückt, wie stark das Schulsystem in Deutschland „Leistung = sofort sichtbare Teilnahme und Reproduktion“ gleichsetzt – und wie radikal alles ignoriert wird, was tiefer, stiller, analytischer arbeitet.

Deine WHO-Szene ist genau das perfekte Beispiel: Dort, wo echtes Denken gefragt ist, zeigt sich plötzlich eine völlig andere Realität – aber das Klassenzimmer bleibt für viele der Ort, an dem man auf ewig falsch abgespeichert wurde.

Und ja – dieses Gefühl, dass man in bestimmten Köpfen nie „repariert“ wird, kenne ich. Aber gleichzeitig zeigt deine Geschichte deutlich: die Realität außerhalb dieses Systems erkennt dich sehr wohl, sobald es um echte Substanz geht. Das macht mir ehrlicherweise Mut.

Danke für diesen Einblick – richtig stark.

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Wurde im Rahmen deiner ADHS Testung ein IQ Test gemacht?

Das Problem verfolgt mich schon mein ganzes Leben lang, bin jetzt Ende 30. Ich habe mehrere Körper- und Sinnesbehinderungen, HB, Epilepsie und wahrscheinlich so etwas wie subklinisches ADHS, das zwischen dem anderen Müll untergeht. So richtig doll viele Bildungsangebote und Förderung habe ich als Kind nicht bekommen (Arbeiterschicht), aber auch einfach kaum Menschen mit Modellfunktion, die eine akademische Laufbahn durchgezogen hätten. In meiner Jugend gab es nur die Musik, mit der ich mich weiterentwickeln konnte.

Ich lerne durch Verstehen, Vernetzen, Durchdringen, und vor Allem Problemlösen. Das Studium und die Klausuren (Psychologie) waren so ziemlich auf das Gegenteil ausgelegt und ich habe mich irgendwann an diesen stupiden Modus angepasst. Erst nach dem Abi habe ich meine Neigung für Informatik und Programmieren entdeckt. Davor kannte ich keine Frauen mit Technikbezug. Wichtig ist an dieser Stelle zu betonen, dass ich kein klassischer Nerd bin, für den das Anhäufen von Detailwissen ein Selbstzweck ist. Mir geht es ums Reparieren, Technik besser zu machen, Dinge funktionieren zu lassen, das Leben leichter zu machen, solche Dinge eben. Wenn ein Teilgebiet mich einer bestimmten Problemlösung näher bringt, bringe ich es mir eben bei, Punkt. Deswegen verstehe ich auch nicht, warum man sich einmal auf eine bestimmte Ausbildung festlegen soll. Im Studium gab es ein paar anspruchsvolle Inhalte, die hätte ich wahrscheinlich ohne Druck von außen nicht durchgezogen und da bin ich tatsächlich dankbar für. Aber im Allgemeinen bringe ich mir ständig irgendwas neues bei.

Das riesengroße Problem mit meiner abstrakten und systemischen Art zu lernen ist, dass ich oft nicht die erwarteten Wörter nutze, sondern eigene Formulierungen, und andere mich deswegen für dumm oder unwissend halten. Ich war z.B. bei einem Bewerbungsgespräch, wo es um Modelle der Projektentwicklung ging. Ich weiß jetzt, dass ich die Schlagwörter Wasserfallmodell, Agile oder Scrum hätte bringen müssen. Ich habe aber in eigenen Worten beschrieben, wie unterschiedlich man Projekte managen kann und bin in der Situation nicht auf diese blöden Wörter gekommen. Hat natürlich nicht geklappt mit der Stelle.

Bei meiner letzten Anstellung war ich gleichzeitig organisatorisch über- und inhaltlich unterfordert. Ich dachte eigentlich, ich hätte Software für Wissenschaftler programmieren und Doktoranden bei der Aufbereitung ihrer Forschungsdaten unterstützen sollen, musste stattdessen aber in dämlichen Gremien rumhängen und mir von meiner idiotischen Projektkoordinatorin erzählen lassen, dass ich meinen vorgesetzten Prof „bespielen“ müsse. O Gott, diese Jours Fixes …

Wundersamerweise kann ich sehr produktiv arbeiten, wenn es um Open-Source-Entwicklung geht. Da hat man seine Ruhe, kann sich aufs Inhaltliche konzentrieren, ab und zu gibt es ein Erfolgserlebnis. Auch wenn es dabei um Bits und Bytes geht, fühlt Programmieren sich sehr ähnlich an wie Handwerk oder Kunst. Letztlich gibt man anderen Menschen dadurch auch etwas zurück, ohne dass es offiziell als Arbeit ins BIP eingeht. Und das ganz ohne alberne Gremien, Selbstdarstellung und den ganzen Mist.

Es tut mir ehrlich Leid, dass du jetzt meinen Frust abbekommst und ich das Thema nicht positiver beleuchten kann. Aber obwohl ich ein Psychologiestudium abgeschlossen und jede Menge andere Skills gelernt habe, fühle ich mich in dieser Gesellschaft ausgestoßen, nutzlos, wertlos, nicht gewollt, auf Eis gelegt, als kompletter Versager. Und das, weil ich diese NT-Business-Spielchen nicht hinbekomme. Was nützt mir die ganze Intelligenz und unabhängiges Denken, wenn sie mir ständig im Weg stehen und wenn irgendwelche Dummbatzen darüber entscheiden, wer Arbeit hat?

Inzwischen gehe ich auf die 40 zu und bin einfach nur müde, keine Motivation mehr, mich für Arbeit oder extrinsische Ziele anzustrengen. Vielleicht bekomme ich noch meinen Pflegegrad hochgestuft und mach dann nur noch Biedermeier 2.0 mit Open source.

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Bei mir war es nicht so stark wie bei dir und ich bin auch etwas jünger, aber meine Leistungen waren in meinem Studium auch hochgegangen. Ich bin mit sehr wenig Aufwand im Studium (Parallelstudium Ingenieurwissenschaft + Mathematik) zu einem 1,0er Studenten geworden, neben Forschungstätigkeiten, Ehrenämtern, Studium in der Hälfte der Zeit usw. (Leider habe ich seit über einem Jahr aufgrund von Gründen keine Prüfungsleistungen oder irgendwas gemacht, weswegen dies nicht mehr der Fall ist, dies liegt jedoch nicht an dem Studium. Zeigt vielleicht wie für manche Menschen Leistungen sehr von dem Umfeld und der eigenen Psyche/dem eigenen Gehirn abhängig sind?)

Für mich war es immer logisch, dass es daran liegt, dass man mehr Autonomie im Studium hat (und somit einfach nicht in Vorlesungen/Übungen gehen kann und nicht immer zu festen Zeiten “funktionieren” und aufnahmebereit sein muss) und nicht gezwungen ist, wie in der Schule jeden Tag 8h dort herumzusitzen und sich für mündliche Noten beteiligen zu müssen (und in der Schule war ich eh nicht in der Lage, zuzuhören oder mich zu konzentrieren, genauso wenig in Vorlesungen/Übungen, vielleicht war es bei dir in der Schulzeit ähnlich v.a. wenn man dein diagnostiziertes ADHS berücksichtigt).

Auf mich trifft auch alles zu, was du aufgelistet hast. Ich denke jedoch, dass das normal für bestimmte Menschentypen ist, u.a. auch dem Menschentypen, der sich gut in Studienfächern wie Mathematik und Physik macht. Da gibt es andere Studiengänge, die mehr Disziplin und Auswendiglernen erfordern. Bestimmte Menschentypen (u.a. ADHSler?) scheinen jedoch abhängiger vom Umfeld zu sein, ich würde mich dazuzählen. Andere Menschen können ja immer funktionieren, egal mit was für einem Umfeld.

Bei mir wurde jedoch sehr jung eine Hoch/Höchstbegabung festgestellt, ich würde das auf jeden Fall mal bei dir testen lassen. Ich denke jedoch nicht, dass man für sehr gute Leistungen im Physikstudium hochbegabt sein muss, auch wenn diese Studiengänge den Ruf haben. Allerdings hattest du ggf. eine zusätzliche Herausforderung durch das ADHS.

EDIT: Soweit ich weiß, sorgt ADHS dafür, dass du dich bei Interesse besser konzentrieren kannst und mehr leisten kannst. Kann es sein, dass du mehr Interesse an und positive Gefühle verbunden mit entsprechenden Projekten in deinem (von dir gewählten, also wahrscheinlich für dich interessanten) Studium hattest und daher mehr leisten konntest? Reproduktionsaufgaben sind wie Großteile des Studiums und der Schulzeit unterfordernd, dementsprechend warst du da nicht so konzentriert?

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Jo, ich schließe mich dann mal der illustren Gruppe der für “dumm” gehaltenen an :wink:.

In der Grundschule bin ich an eine besonders “kompetente” Klassenlehrerin geraten, die mir direkt eine eingeschränkte Lernfähigkeit bestätigt hat. Dies führte dann zu mehreren Fluchtversuchen aus dem für mich unerträglichen Schulumfeld. Meine Mutter war darüber natürlich nicht sehr erfreut. Die ganze Grundschulzeit begleiteten mich Hinweise wie: Konzentrier dich doch mal, bleib an deinen Aufgaben dran und du musst dich mehr anstrengen.

Habs dann doch bis zur 4. Klasse geschafft und sollte, dem Wunsch meiner Eltern entsprechend zur Gesamtschule. Das passte mir jedoch absolut garnicht. Meine besten Freunde(innen) sind zur Hauptschule, weshalb ich ebenfalls dorthin wollte. Glücklicherweise habe ich dort einen wirklich fachlich und menschlich sehr guten Klassenlehrer gehabt, der eine für mich und der Klasse insgesamt passende Lernatmosphäre geschaffen hat. Meine Noten besserten sich deutlich und in Fächern die mich interessierten konnte ich sehr gute Ergebnisse erzielen. Weiter ging es dann mit dem Fachabi und einem Universitätsabschluss. Vor ein paar Jahren noch eine therapeutische Weiterbildung wo das Lernumfeld und die Lerninhalte ebenfalls stimmten. Ich kann für mich nur sagen, dass es systemisch passen muss und die Inhalte einen ausreichenden Anreiz bieten sollten um die Motivation aufrecht zu erhalten. Da fällt mir immer wieder das bekannte Zitat von dem niederländischen Autismus-Aktivisten Alexander Den Heijer ein:

Wenn eine Blume nicht blüht, muss man die Umgebung verbessern, in der sie wächst, nicht die Blume selbst.

Kurzes Update von mir:

Ich habe inzwischen einen offiziellen WAIS-Test gemacht. Das Ergebnis liegt bei IQ 135, mit besonders hohen Werten im logischen Denken, in der Verarbeitungsgeschwindigkeit und im Arbeitsgedächtnis ( Also hochbegabt :sweat_smile:). Was eig nicht so sehr mit meinem ADHS zusammenpasst

Für mich ordnet das vieles ein, was ich damals beschrieben habe – vor allem die Kombination aus ADHS und gleichzeitig sehr starken Fähigkeiten in bestimmten Bereichen.

Danke an alle, die damals geantwortet haben. Eure Rückmeldungen haben mir wirklich geholfen, das Bild einzuordnen.

Viele Grüße

Remo

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