Asymptomatisch-kontrolliertes ADHS

Ich bin 30 Jahre alt und kürzlich erhielt ich die Diagnose ADHS. Ich muss mir das folgende einfach mal von der Seele schreiben und vielleicht hilft es ja dem einen oder anderen, der sich fragt ob er betroffen ist, aber irgendwie vieles doch nicht passt. Mal schauen!

Obgleich ich seit knapp zehn Jahren in psychiatrischer Behandlung bin, zig Ärzten offen und ehrlich jegliches Detail meines Lebens erzählt habe und jeden erdenklichen Vorschlag angenommen und umgesetzt habe, wurde an ADHS nicht gedacht.

Ich wurde auf Depressionen, schizoide Persönlichkeitsstörung, Anpassungsstörung, Drogenmissbrauch, komplexe Posttraumatische Belastungsstörung, soziale Ängste und Phobien behandelt.

Ob ich Schulden hätte oder impulsiv Geld ausgäbe? Nein. Im Gegenteil, ich habe viel Geld gespart. Ob meine Wohnung dreckig wöre, ich irgendwo unordentlich wäre. Nein. Bei mir ist immer aufgeräumt. Immer. Also wurde ich auch auf Zwänge behandelt, ich wäre neurotisch. Ob ich Termine einhalten würde. Klar, jeden. Ich habe eine Traumkarriere, bin in der Arbeit angesehen. Ich werde geschätzt und rette den Leuten den Arsch, bis spät in die Nacht. Ich jogge, regelmäßig. Ich bin organisiert. Ich bin nie wütend, treffe keine unüberlegten Entscheidungen. Ich erledige alle Verpflichtungen. ADHS - nein, kommt nicht in Frage.

Cut. Kindheit. Meine Mutter, drogenabhängig. Ich konnte nicht ins Schullandheim, weil wir aus ihren Verträgen nicht rauskommen. Oder weil sie nächtelang Glücksspiele gemacht hat. Die Wohnung ist dreckig, alle machen sich über mich lustig. In meiner Fantasie spiele ich in einer Traumwelt. Ich werde kriminell, bin manchmal gut in der Schule, manchmal nicht. Ich kann nicht reden, aber manches verstehe ich. Ich bin aufgewachsen dass wir immer Schulden haben. Dass wir keine Verträge machen dürfen. Meine Mutter wird nach Jahren Drogen psychotisch und ich muss mich seitdem ich zehn bin um sie kümmern.

Ich kämpfe jeden Tag gegen mich. Ja, ich habe keine Schulden. Allerdings kann ich auch keine Schulden haben. Ich kann keine Verträge machen, ich habe mein Dispositionskredit sperren lassen, und alle Möglichkeiten impulsiv handeln zu können. Und ich habe gottverdammt Angst zu verarmen oder wie meine Mutter zu werden. Aber ich weiß dass ich impulsiv einkaufe und deshalb habe ich alles sperren lassen.

Man sieht mir auch nicht an das ich impulsiv esse. Entweder ich erbreche danach oder ich esse drei Tage lang nichts mehr und gehe jeden Tag 20 km joggen. Ich halte die Ruhe nicht aus, ich kann nicht sitzen, ich kann nicht Fernsehen, ich kann kein Buch lesen. Aber ich kann alles wenn ich dabei esse. Und deshalb habe ich, wenn wirklich gar nichts mehr geht und ich einfach noch den Tag irgendwie rum kriegen muss, mir kiloweise Süßigkeiten geholt und sie gegessen und dabei hat es geklappt einen Film zu schauen. Wenn ich nebenbei noch am Tablet irgendwas über Wikipedia gelesen habe. Jetzt nehme ich seit mehreren Monaten Medikamente und habe versucht erneut Langeweile so tot zu schlagen. Es geht nicht. Ich bin satt. Satt. Hä? Auf einmal wollte ich nichts mehr essen, aber noch nie war Hunger oder Sättigung ein Grund nicht weiter zu essen. Ich habe nie aus Hunger gegessen, man konnte damit Zeit überbrücken.

Kein Arzt hat mich gefragt wie ich es schaffe meine Rechnung zu bezahlen. Ich trinke 2 Liter Kaffee und nehme mir zwei Tage frei und sage alle Sachen ab um eine Rechnung bezahlen zu können. Mein Handy ist voller Erinnerungen, überall kleben Zettel damit ich nicht vergesse etwas zu machen. Ich bekomme immer Erinnerungen von meinem Handy das ich dies und jenes machen müsste und ich habe 1000 Einträge in meinem Kalender weil ich mich an nichts erinnern kann und alles vergesse und verpeile. Alle waren immer böse, also habe ich keiner Person mir zugesagt oder etwas ausgemacht, denn ich konnte es nicht halten.

Ich dachte dass ich Menschen nicht mag. Ich habe es einfach nicht mehr geschafft Leute zu treffen, denn ich muss literweise Kaffee dafür trinken um ihnen zu hören zu können. Ich habe immer gedacht ich mag sie nicht, aber ich halte es einfach nicht aus zu sitzen. Aber ich habe Freunde, Leute um mich, ich habe nur versucht sie nie zu sehen. Denn es war nicht auszuhalten. Es war so langweilig und ich musste mir andauernd bildlich vorstellen (irgendwie habe ich mir an gewohnt die Buchstaben und Wörter mir vorzustellen und für mich selber vor zu lesen, was man gegenüber sagt) was sie sagen und verstehe es trotzdem nicht. Ich höre die Worte, aber verstehe sie nicht. Drogen habe ich irgendwann rotiert, ich konnte gar nicht süchtig werden. Mein einziges Ziel war es den Alltag auf die Reihe zu bekommen. Ich hab also zwischen Amphetamine, Kokain, GHB und Kratom hin und her gewechselt weil alle samt in irgendeiner Form den Alltag erleichtert haben. Ich wurde nicht süchtig, konnte mit allen aufhören, eine Sucht konnte nicht festgestellt werden und an Tagen an denen ich nichts nahm habe ich literweise Kaffee getrunken. Ich war also immer da. Irgendwann wurde ich dann doch kokainabhängig, hab auch gemerkt dass ich mich nach der Droge sehne, also habe ich damit aufgehört und sie seitdem nie wieder angefasst. Ich habe gemerkt dass ich sie brauche,… Auf eine andere Weise als ich die anderen Sachen brauche um meinen Alltag zu regeln. Also, ganz klar, habe ich Kokain aus mein Leben gestrichen.

Im ersten Moment denkt jeder ich bin dumm. Der Typ ist verpeilt, der checkt nichts. Ich bin komisch, kriege nichts auf die Reihe aber wenn es gebraucht wird bin ich da. Und irgendwann war ich sogar auf der Arbeit erfolgreich. Mittlerweile weiß jeder meiner Kollegen dass ich in der größten Notlage die Rettung bin, die Ärzte fragen aber nicht ob ich meine Arbeit an einem Tag intensiv mache wenn ich es muss, sondern ob es mit der Arbeit klappt. Ja, natürlich. Aber ich kann halt nur drei Tage im Monat produktiv arbeiten. Aber in diesen Tagen bin ich die Rettung für die Firma. Mein Team arbeitet nicht am selben Standort, deshalb müssen wir viele online Meetings machen. Ich kann sehr schnell tippen. Ich verstehe aber ein Meeting nicht. Weil zu viele Leute durcheinander reden. Was mache ich? Ich schreibe zeitgleich auf der Tastatur mit, denn ich kann schneller tippen als ich reden kann. Ich schreibe mit und lese es mir nach dem Meeting noch mal durch um zu wissen um was es geht. Mit der Zeit bekommt man ein Gefühl bei welcher Betonung es wichtig ist mit zu schreiben. Stand ein Meeting mit meinem Chef an, habe ich zwei Tage auf Kaffee verzichtet damit ich mir 5 Minuten vor unserem Gespräch so viel Kaffee in kurzer Zeit reinziehen kann damit ich verstehe was er sagt und reden kann. Und ich Performe 1A. Klasse, ein guter Mitarbeiter denkt man bestimmt (ich arbeite nur noch Teilzeit, damit ich an den freien Tagen den Kaffee entziehen kann)

Ich habe irgendwann aufgehört Termine mit Freunden auszumachen da ich sie nicht halten kann. Ich muss immer absagen. Immer. Ich schäme mich unendlich dafür. Ich kann es nicht. Ich habe keine Energie, oder ich halte es nicht aus diesem Gespräch zu folgen. Und ich liebe sie abgöttisch, aber ich kann sie nur spontan treffen. Deshalb weiß jeder meiner Freunde: nur spontan. Ich hatte im Spaß einmal gesagt, dass ich doch nicht wisse auf was auf was ich in einer Stunde Lust hätte. Alle haben gelacht. Mir wird langsam bewusst das ist mein Lebensmotto.

Ich bin erfolgreich, organisiert, alles klappt, mein Leben sieht von außen wirklich gut aus und ich fühle keinen Anhaltspunkt für ADHS. Aber jeder Tag ist ein Kampf und wenn ein sehr wichtiger Termin ansteht muss ich eine Woche lang Kaffee entziehen und verabschiede mich sieben Tage aus dem Leben nur um an einem Tag extrem viel Kaffee trinken zu können und performen zu können. Und dann klappt das. Und die Ärzte sehen das alles klappt. Ich bin asymptomatisch aber mein Leben ist Scheiße. Nun wurde ich diagnostiziert, bekomme Medikamente und frage Leute ob wir uns am Tag X sehen wollen. Das habe ich noch nie mein Leben machen können. Auf gut Deutsch: das erste Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl mich für morgen verabreden zu können, und es einzuhalten. Einfach so. Ich habe gestern jemanden gefragt ob wir uns die Tage auf ein Bier treffen können. Das habe ich noch nie! Ich habe versucht Menschen weg zu stoßen die mit mir befreundet sein wollten, weil ich es nicht mehr ertragen konnte dass sie immer wütend sind dass ich nichts einhalten kann.

Das ist kein Witz, das ist alles wahr (ich könnte wohl noch ewig hier schreiben wie mein Leben verlief und welche Umwege ich gebaut habe um irgendwie mich zu drosseln und meine Impulsivität/Energielosigkeit /Erschöpfung zu unterdrücken). Und am aller wenigsten habe ich es gewusst oder gesehen, ich merke nur jetzt mit Medikamenten dass mein Verhalten nicht mehr passt. Es ist so skurril, ich übertreibe und verhalte mich überdreht, und verstehe langsam das es so ist. Ich hatte das immer gemacht um davon abzulenken dass ich anders bin. Wenn ich nicht mehr konnte, erschöpft war. Ich habe aufgedreht gespielt um zu verbergen, aber das war nicht ich. Jetzt mit Medikamenten bin ich irgendwie ich. Und es ist so gottverdammt einfach! Ich mache einfach etwas. Ich esse wenn ich Hunger habe. Ich treffe Freunde weil ich Freunde treffen will. Ich muss nicht 2 l Kaffee morgens trinken um einen normalen Tag zu haben um dann wieder eine Woche zu entziehen weil ich in einer Woche jemanden zu einem Geburtstag treffen muss. Und mir selbst konnte ich nicht erzählen das ich Hyperaktiv war. Ich war immer müde, immer erschöpft, immer geschlaucht. Ich habe nichts hinbekommen. Ich musste tagelang nur auf der Couch liegen und konnte nichts machen, es war unerträglich dieses nichts auszuhalten. Und alle um mich herum meinten ich wäre so aktiv und immer da und würde so viel machen. Ja, ihr habt aber auch nicht gesehen dass ich sieben Tage davor auf der Couch gelegen habe, und ich euch jetzt nur 2 Stunden sehen kann und mir davor 1 l Kaffee rein quälen musste! Und ja, es ist einfach Verdammt peinlich das zuzugeben und deswegen erzähle ich euch allen das ich so viel zu tun habe und deshalb es schwierig ist einen Termin mit mir auszumachen. Geheimnis: in den Tagen wo ich sage dass ich so viel zu tun habe versuche ich nur irgendwie es auf die Reihe zu bekommen in einer Woche etwas machen zu können, spontan, und wenn das nicht geht… Ich bin nicht böse. Ich werde nicht wütend, also natürlich werde ich sehr wütend. Aber ich bin nicht nachtragend, nicht böse und ich akzeptiere jeden der irgendwie auch nur ein bisschen mit mir klarkommt.

Anfang des Jahres habe ich mich so für meinen Konsum geschämt dass ich mit allen aufgehört habe. Ich hab mich so geschämt so süchtig zu sein und zu werden wie meine Mutter. Oder mein Vater, der Alkohol abhängig ist. Ich hab mich nur noch geschämt und wollte nie wieder etwas nehmen. Und anstelle dass es besser wurde wurde es noch viel schlimmer. Ich konnte gar nicht mehr arbeiten ich hab ja nichts auf die Reihe bekommen, und habe durchgehalten. Alle haben gemeint, ich müsste nur länger nichts nehmen, das sei normal wenn man mit Drogen aufhöre. Die ersten Tage gingen irgendwie, aber das zweite Monat Konsum frei, … je länger ich nichts mehr konsumiert habe umso weniger konnte ich auf Arbeit etwas machen. Nach einem halben Jahr ohne Konsum habe ich mich einweisen lassen da ich nicht mehr arbeiten konnte, ich dachte ich wäre drogenabhängig und komme davon nicht weg. Und es war so perplex weil je mehr ich auf Drogen verzichte umso schlimmer wurde es. Und im Krankenhaus erkannten sie die Krankheit, Auf einmal hat man mich ja auch 24 Stunden gesehen und nicht nur gefragt ob dieses und jenes klappt. Sie gaben mir Methylphenidat und Blöderweise wurde ich darauf depressiv. Also bin ich zu meinen Arzt gegangen und er hat wieder nur die Depression gesehen… auf eigene Faust habe ich den Arzt dann gewechselt, und die depressiven Gedanken reflektiert. Jetzt bekomme ich Amphetamin verschrieben und eine Welt hat sich für mich verändert. Denn seit zwei Monaten, also seitdem ich das Medikament gewechselt habe, ist das Leben so viel einfacher geworden. Es ist so ruhig, so entspannt, ich liege gerade auf der Couch und liege. Ich liege. Vielleicht mache ich später den Fernseher an und schaue eine Serie. Könnt ihr euch das vorstellen? Ich habe noch nie in meinem Leben eine Serie anschauen können, außer ich war voll fasziniert. Aber dann ging es und dann habe ich die Serie 1000 mal angeschaut, denn dann konnte ich unaufmerksam sein und konnte trotzdem noch der Geschichte folgen wenn ich die Serie öfter anschaue. Filme, Kino, das konnte nie gut gehen. Wenn ich mal einen Partner hatte musste ich ihn immer fragen was denn passiert wäre. Ich glaube die müssen mich alle für bescheuert gehalten haben. Ich musste immer essen, immer mein Handy in der Hand haben und musste immer fragen was eigentlich in dem Film passiert. Ich hab überhaupt nichts mehr gerafft…

Ich habe für alles eine Strategie gehabt um mein Fehlverhalten zu unterdrücken. Klar habe ich Drogen genommen. Allerdings musste ich noch im Rausch dafür sorgen dass ich die Drogen wegschmeiße, da ich wusste dass ich sie impulsiv konsumieren würde. Also habe ich Drogen gekauft und sofort weggeschmissen. Und ich habe mich wahnsinnig geschämt dass ich dieses Leben ohne Drogen nicht hin bekomme. Dass ich Drogen brauche um arbeiten zu können. Um Freunde zu treffen! Ich musste Drogen nehmen um reden zu können. Ich konnte nicht mehr reden. Und ich konnte niemanden verstehen. Und ich habe Strategien gefunden um jedes schlimme Verhalten von mir zu unterdrücken. Meine Kindheit bei einer drogenabhängigen Mutter,… Ihre Verhaltensweise, ihre ganzen Drogen und dass wir keine Kohle hatten hat mich so abgeschickt dass ich das gar nicht machen kann. Nein, ich kann mir nicht einfach etwas kaufen. Und dann fragen mich Ärzte ob ich den Kaufattacken habe. Ja, aber bevor ich auf die Zahlen klicke, kriege ich Schuldgefühle und schäme mich. Ich habe vor einem Monat Rauchen aufgehört, trinke kein Kaffee mehr und Drogen habe ich auch keine mehr konsumiert, auch heute an Silvester nicht vor. Vielleicht schaue ich mir ja wirklich heute eine Serie an. Eine Unbekannte, vielleicht verstehe ich ja was die Leute darin reden.

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Ich weiß gar nicht was ich schreiben soll … dein Eintrag rührt mich so sehr, ich sitze hier mit Tränen in den Augen und bin einfach nur glücklich für dich, dass du endlich die Hilfe bekommen hast die du so dringend gebraucht zu haben scheinst.

Für heute einfach nur: komm gut ins neue Jahr & genieß das auf der Couch liegen und Serie gucken mit ganzem Herzen !

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Hey @suivets,

besser als @adhd_blondie kann ich es nicht formulieren.
Wie schön !!!

Was mir noch einfällt: so eine extreme Fähigkeit des copings ist sehr sehr selten und sehr besonders. Hochbegabte können das manchmal, und werden deshalb auch oft schlechter diagnostiziert.

Und dass so eine Parentisierung Spuren hinterlässt, ist vielleicht ein Thema für eine Therapie.
Du wirst feststellen, dass Du jetzt, mit Medis, sehr viel lernfähiger sein wirst, also im Sinne von Therapieerfolg.

Alles gute Dir und es wäre schön, weiter von Dir zu lesen.

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