Blaue Pille, rote Pille: Wenn man euch die Möglichkeit bieten würde, euch von eurem ADHS zu heilen

Ich habe auf „ja“ geklickt, und zwar vor Allem wegen der Begleiterkrankungen. Wenn ich aber so darüber nachdenke: wenn ich erst jetzt „geheilt“ werden würde, und trotzdem mit den ganzen Folgen (z. B. Schlafstörungen, Traumata, Zwangsgedanken,…) klarkommen müsste, würde ich böse schauen und die Pille beleidigt ablehnen. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, und mein Leben noch einmal wie gehabt – nur ohne ADHS leben könnte, würde ich zugreifen. Wobei :adxs_gruebel:…Nein…die ganzen anderen Negativerfahrungen, die nichts mit ADHS zu tun hatten, möchte ich nicht noch einmal erfahren müssen. Auch dann würde ich (in dem Fall dankend und ohne bösen Blick) ablehnen.

…Ich glaube, ich nehme doch Option „nein“ :adxs_grins:. Ich habe auch ein paar schöne Eigenschaften, die ich sehr mag die vermutlich mit ADHS zusammenhängen. Ich kenne mich und habe Strategien zur Bewältigung einiger Schwächen entwickelt. Ich war und bin gezwungen, zu reflektieren, was in mir vorgeht und habe daraus für mich sehr wertvolle Erkenntnisse gewonnen und meine Persönlichkeit, sowie mein Bewusstsein für viele Dinge haben sich dadurch positiv entwickelt. Außerdem ist das Kind jetzt sowieso in den Brunnen gefallen: Die Folgestörungen sind inzwischen so präsent, dass ein Wegzaubern des ADHS daran vermutlich nicht unmittelbar etwas ändern würde. Ich müsste das Positive abgeben, und trotzdem den psychischen Restmüll der vergangenen Jahrzehnte entsorgen. Wenn ich die Möglichkeit hätte, kein ADHS mehr zu haben UND alles, was in der Vergangenheit mit ADHS zusammenhing, wäre ebenfalls aus meiner Biographie gelöscht, wäre meine Antwort ganz eindeutig „HER MIT DER PILLE! JETZT!! SOFORT!!!“ :adxs_aufsmaul:

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Jetzt hatte ich etwas mehr Zeit, mir die Beiträge hier durchzulesen…

Ich persönlich sehe die „Vorteile“ für mich weniger im ADHS selbst, sondern in dem, was ich daraus gemacht habe. Das war und ist knochenharte Arbeit, ebenso wie die Mühe, die ich darin investiere, in negativen Erfahrungen und Eigenschaften auch das Gute zu erkennen. Das ist mir nicht in den Schoß gefallen, und für meine Stärken habe ich einen Preis bezahlt, den ich niemals freiwillig in Kauf genommen hätte, wenn ich es im Vornherein hätte verhindern können.

Neid empfinde ich gegenüber Menschen, denen das Glück ohne ihr eigenes Zutun in den Schoß gefallen ist. Das ist aber, wenn man genauer hinsieht, in den seltendsten Fällen die ganze Wahrheit. Sobald ich erkenne, dass sie es sich erarbeitet und erkämpft haben, bin ich nicht mehr neidisch, sondern motiviert, selbst aktiv zu werden, um das zu erzielen, was ich mir offenbar auch wünsche, oder ich erkenne, dass mir der Preis viel zu hoch ist und bin froh, dass ich ihn nicht zahlen musste.

Meine gefühlt positiven ADHS–Eigenschaften sehe ich weniger als „Vorteile“ an, sondern als Merkmale, die je nach Situation nützlich oder hinderlich sind und bei denen in meiner Lebenssituation Ersteres überwiegt. Je nach Kontext brauche ich entweder Lösungen bzw. Unterstützung, oder ich habe die Chance, meine Eigenschaften sinnvoll einzusetzen. Ich verfüge einfach über eine andere „Software“, die ich versuche, bestmöglichst zu nutzen.

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Ganz viel davon empfinde ich genauso!
Es war mein Leben lang gefühlt immer harte Arbeit.
Ich wäre dankbar gewesen, schon früher gewusst zu haben, was mit mir los ist, das hätte mir vielleicht einiges erspart.
Aber ich denke andererseits, wer weiß, wie meine Familie und ich damals damit umgegangen wären. Vermutlich hätte es trotzdem einen Leidensweg gegeben, nur anders.

So musste ich halt erstmal durch jede Menge psychische Talfahrten, um jetzt zu verstehen, wieso das alles so gelaufen ist, laufen musste.

Und ich wäre jetzt nicht die, die ich heute bin. Keiner weiß, wer ich heute wäre.
Vielleicht wäre mein Leben besser verlaufen, vielleicht aber auch sehr viel schlimmer.

Und ohne diese Erfahrungen, hätte ich ja auch nicht permanent die Chancen gehabt und genutzt, um mit meinen Struggles umzugehen.

Mein Leitspruch meines ganzen Lebens, schon als junges Mädchen, ist: Nichts ist so Scheiße, dass es nicht für irgendwas gut ist.
Und immer wieder hat sich dieser Spruch in der Rückschau für mich bewahrheitet.

Das war und ist jeden Tag harte Arbeit, die es mir aber wert ist, denn seit ich so an mir arbeite, sind die Talfahrten nicht mehr so holprig und so lang.
Ich komm schneller mit diesen Tiefs klar und lerne jedesmal daraus einen besseren Umgang.

Und mit der neusten Erkenntnis, dass ADHS ein Teil von mir ist, fällt es mir nochmal etwas leichter.

Manchmal bin ich auch sauer. Grade, wenn ich mal wieder meine Unzulänglichkeit mit einigen Symptomen ganz deutlich spüre.
ZB wenn dadurch Pläne durchkreuzt werden, ich Probleme durchs mein Verhalten in meinen Beziehungen bekomme, das Zeitmanagement mal wieder gar nicht klappt oder ich mich einfach zu nichts aufraffen kann, was ich mir vorgenommen hatte.

Und trotzdem ist da jetzt das Verstehen, warum das so ist und ich kann deshalb etwas liebevoller zu mir sein und diese Dinge annehmen und bin viel versöhnlicher damit. Selbst, wenn ich grade mal deshalb ausrasten könnte :sweat_smile:

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Genau. Selbst mit Scheiße kann man düngen, und wenn man den gedüngten Samen lange genug gießt, pflegt und hinsieht, wenn sich ein Pflänzchen zeigt, dann kann man vielleicht auch irgendwann die nützlichen Eigenschaften der Scheiße wertschätzen, auch wenn diese in Summe immer noch bleibt, was sie ist und stinkt, und es weiterhin legitim bleibt, die Nase zu rümpfen und, sofern möglich, die Klospülung zu betätigen.

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Ich würde auf die Wunderheilung verzichten. Ich bin nicht mein ADHS, aber es ist ein Teil von mir und hat mich auch mit zu der gemacht die ich bin.

Klar war vieles nicht toll, ich wurde ausgegrenzt, gemobbt, habe keine abgeschlossene Ausbildung, mein Gehalt ist nicht das beste…

Aber wer wäre ich ohne mein ADHS? Vielleicht wäre ich erfolgreich. Aber wäre ich auch glücklich? Keine Ahnung.

Mittlerweile bin ich gerne ich. Und ich bin mir sicher, dass alles einen Grund hat, dass mich jede Situation weiter gebracht hat. Ohne die dunkelsten Stunden in meinem Leben, wären die hellen nur halb so schön.

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Tolle Worte. Nichts hinzuzufügen :mending_heart:

Das Versuche ich auch immer zu sehen…

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Hallo, ich kenne mich ja nicht anders und ich finde mich ok so wie ich bin - wenn ich nicht gerade wieder in ner blöden depressiven Phase stecke. Ich bin ein absoluter Gegner des ewigen Optimierungswahns unserer westlichen Gesellschaft. Auch mag ich selbst eher Menschen, die Ecken und Kanten haben. Zumindest kann ich mich mit ihnen eher identifizieren.
Ich kann nicht gänzlich verneinen, dass ich vielleicht in manchen Situationen gerne nach dieser Pille greifen würde, aber wäre ich dann tatsächlich noch ich? Mit all meinen Eigenschaften, darunter auch mein Einfühlungsvermögen und meine Kreativität, wofür mich meine Liebsten mögen und schätzen.

Und im Übrigen: wie viele Menschen sind denn tatsächlich absolut neurotypisch? Die Diversität auf unterschiedlichen Ebenen macht doch unsere Gesellschaft aus…
Also biete mir bitte keiner solch eine Tablette an!

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Ich habe einen Kumpel bei dem es so ist und er sagte mal: „ihr habt alle einen Vorteil. Ihr wisst wie es ist wenn es mal nicht so glatt läuft und habt gelernt damit umzugehen. Ich weiß nicht wie das ist und habe darin im Gegensatz zu euch keine Sicherheit und das macht mir Angst. „

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A point.

Es ist ein sehr menschlicher Zug, den Aufwand, den man in etwas investiert hat, als Maßstab für das zu nehmen, in was man es investiert hat.
Das ist der maßgebliche Mechanismen, weshalb in Studien Elternbewertungen oft in die Irre führen, weil Menschen dazu neigen, das, wofür sie gekämpft haben, aufzuwerten. Wofür man so viel aufgewendet hat, muss deshalb was sehr positives sein.
Das ist eine Folge des Strebens nach einer Verringerung von Dissonanz.

Gedankenspiel: Ein Mensch ohne ADHS hat ganz genau so seine Themen - nur eben andere. Und kämpft dafür. Und bewertet dann diejenigen Sachen, für die er dann gekämpft hat, positiv. Same same, but different.

Mit westlicher Gesellschaft hat das weniger zu tun. Das ist eine Kerneigenschaft des Homo sapiens. Es gibt kein anderes Lebewesen auf der Welt, das dieses dauerhafte Streben nach Verbesserung seiner Lebensumstände hat. Ob das wirklich etwas Gutes ist, lasse ich ausdrücklich offen. Es ist aber. Und es ist eine Kerneigenschaft des Homo sapiens, ob wir das wollen oder nicht.

Ja, das ist so. Das ist der Vorteil, den man aus einem Nachteil ziehen kann: Lernen, damit umzugehen.
Das beantwortet aber nicht die Frage, ob man nicht lieber einen Startplatz weiter vorne gehabt hätte, um seine Lernerfahrungen an den Herausforderungen zu machen, die es da vorne ganz genauso gibt, sondern nur die Frage, ob man stolz darauf sein kann, mit einem um einen Fuß kürzeren Bein trotzdem den Marathon bis zum Ende gelaufen zu sein.
Ehrlicherweise muss man doch sagen, dass Stolz auf die eigene Kraft rein gar nichts mit dem Startplatz oder dem zu tun hat, worauf man seine Kraft anwendet, sondern nur mit der eigenen Kraft selbst.

Positiv formuliert: ihr könnt auf euch selbst stolz sein. Dazu braucht ihr euer ADHS nicht.

Bin ich toxisch?
Raube ich mit meiner Sichtweise denjenigen, die sich wenigstens an ihrer Kraft freuen können, die Freude daran?

Nein.
Ich weise nur darauf hin, dass Selbstwert und das Recht, auf die eigenen Leistungen und das eigene Wachsen stolz sein zu dürfen, nicht erfordert, den Scheiß, den man ungefragt aufgeladen bekommen hat, toll zu finden. Sondern dass man auf die eigene Kraft auch stolz sein darf, ohne das mit dem Startplatzmalus zu verknüpfen.

Warum mir das so wichtig ist?
Weil mit dieser Sichtweise ein Meme transportiert wird: „ADHS ist ja auch was Positives.“
Echt?
Nö, ist es nicht. Es ist eine Zeitstrafe, bevor man auch nur losgefahren ist, die nicht alle auferlegt bekommen haben, was unfair ist.
Ja, funktionelle Stresssymptome (die mit den ADHS-Symptomen deckungsgleich sind) sind vorteilhaft. In stressigen Lebenssituationen. Bei ADHS treten sie aber immer auf, auch ohne Stressor. Das ist ADHS, nicht die Symptome an sich. Deshalb sind die Symptome auch kein Vorteil, nur weil mal eine passende Situation vorbeiläuft. Denn dann haben Nichtbetroffene dieses Symptome auch. ADHS ist, dass die Symptome auch in unpassenden Situationen auftreten.
Wo ist da dann der Vorteil?

Ich habe nicht das Ziel, irgendjemandem abzusprechen, dass er toll ist und was Besonderes geleistet hat.
Ich möchte nur dieses Meme nicht unterstützen, weil das Menschen da draußen suggeriert, dass ADHS ja auch sooo positive Seiten hat (woran unausgesprochen angeheftet wird: "dass man deshalb nicht unbedingt dagegen zu tun braucht").

Freunde, ich will euch nicht klein machen. Ihr seid nicht klein, Ihr seid wunderbar.
Ich will nur die Menschen da draußen schützen, vor einem Missbrauch des „ADHS hat ja auch tolle Seiten“-Memes, das - ohne den erforderlichen Kontext - dazu verwendet wird, Menschen von einer angemessenen Umgang mit ihrem Startplatzmalus abzuhalten.

Und falls jetzt jemand sagt: „Fein, das musst du uns aber doch nicht so aufs Auge drücken, Klugscheißer! Wir feiern hier doch nur unsere Kraft!“
Dann muss ich antworten:
„Wenn das so ist, dann sollte das Aussprechen des Kontextes, innerhalb dessen das Meme zulässig ist, eigentlich nicht weh tun.“
Oder?

Nuja, ist vielleicht so, wie wenn jemand auf der Beerdigung eines Arschlochs nicht nur pietätvoll den Kuchen mampft, sondern zwischen den ergreifenden Reden, wie nett derjenige war, dazwischen nuschelt, dass er halt aber auch ein Arschloch war.
Ist zwar richtig, aber zerstört trotzdem den Moment. :adxs_tuete:
Auf der Trauerfeier wird derjenige also keinen Sympathiebonus gewinnen. Er verhindert aber vielleicht einen Zeitungsbericht, der alleine die guten Seiten des Arschlochs darstellt.

Ihr könnt stolz auf euch sein. Auf eure Kraft, auf das, was ihr gelernt habt.
Ich meine nur, dass eure Kraft und euer Wachstum nichts mit ADHS zu tun haben. Sondern mit euch.

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Lieber Ulbre, muss grad losheulen beim Lesen Deiner Zeilen.
Danke für das, was Du zum Ausdruck bringst, und bei der Gelegenheit auch danke von Herzen für Deine unermüdliche Arbeit. All die differenzierten Informationen sind eine unermessliche Hilfe und Orientierung. Das Forum hilft so sehr, sich verstanden zu fühlen. Manche Menschen können das in Worte fassen, wofür ich keine finde. Die Dinge zu benennen hilft sie zu verstehen und zu akzeptieren.
Schicke Liebe und Mitgefühl an Euch alle da draussen raus :heart:

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Ich nehme täglich die Pille :wink:

Kann ich total unterschreiben.

Ich lebe schon immer in permanentem Stress und habe in meinem 54jährigen Leben vielleicht eine Handvoll Situationen erlebt, wo das ADHS mir nützlich war.
Zumindest, soweit ich das überhaupt beurteilen kann, das finde ich nämlich generell sehr schwierig

Was ich aber getan habe, war, mir selbst so schwierige Umstände zu generieren, dass meine Fähigkeiten, stressige Situationen zu bewältigen, auf den ersten Blick geholfen haben.

Genauer betrachtet hätte ich es aber wesentlich einfacher haben können

Hätte nicht zig mal umziehen müssen, emotionale Achterbahnen fahren müssen und allein schaffen, was manchmal nicht mal zwei gemeinsam leisten

Mit den bekannten Folgen…

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Liebe @Minzli das kann ich sowas von gut nachvollziehen was Du geschrieben hast, denn mir ging es bis heute in meinem Leben sehr ähnlich.
Ich knuddle Dich aus der Ferne und wünsche Dir ganz viel Kraft und ganz viel Liebe und nur das allerbeste in Deinem weiteren Leben. :people_hugging: :heart: :muscle: :four_leaf_clover:

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Ich wusste nicht, was ich anklicken sollte, weil die Fragestellung für mich nicht passt :see_no_evil: hätte ich kein ADHS mehr, wäre ich trotzdem noch neurodivergent, ich wäre dann halt „nur noch“ Autistin.

Die Kombination AuDHS finde ich persönlich ziemlich anstrengend. Ich hätte glaub ich nichts dagegen, eins davon herzugeben. Allerdings ist meine ASS-Diagnose auch noch sehr frisch, vielleicht sehe ich das in ein paar Jahren anders, wenn ich besser gelernt habe, gut und passend mit mir umzugehen :person_shrugging:

Momentan läuft das eher so, dass ich autismusbedingt einen Meltdown bekomme, weil ich die Unordnung, die ich adhs-bedingt verursacht habe, sensorisch nicht ertragen kann :roll_eyes:

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Die zwei maskieren sich gegenseitig. Ich bin gleichzeitig intro- und extravertiert, was immer wieder zu Irritationen führt. Bei mir überwiegt aber eindeutig die ADHS-Symptomatik, bei meinem Sohn ist es umgekehrt.
Ich würde es gern beides weghaben, vor allem auch bei den Kids.
Nicht, dass die mich nerven, aber diese Verzweiflung zu sehen und die ganzen scheiß Co-Morbiditäten…

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Vielen Dank, @UlBre , du hast sehr gut in Worte gefasst, wie ich die ganze Sachlage auch sehe und bewerte.

Ich habe hier nicht mehr geantwortet, weil ich diese Erfolgserlebnisse usw. von einigen hier nicht kleinreden oder schlecht machen wollte. Ich bin in meiner Ausdrucksweise nicht so genau und passend wie UlBre.
Aber ich finde dieses Bild, dass ADHS ein „Startmalus“ ist, sehr passend. Ja, es ist ein Malus. Und die wenigen Augenblicke, wo es von Vorteil sein könnte, sind einfach ganz stark in der Minderheit.
„ADHS kann auch Vorteile bringen, es gibt berühmte Künster, Sportler, die ADHS haben…“ → Ja große klasse!!! Ich bin aber kein berühmter Künstler oder Top-Athlet! Und es gibt sicher viele berühmte Künstler und Sportler die kein ADHS haben! Geht auch ohne.
Und ich denke, sich auf seine Erfolge so zu konzentrieren hat etwas verzweifeltes an sich, um der schlimmen Lage doch noch was Gutes zuzuschreiben, damit die Lage nicht mehr ganz so düster aussieht. Sonst wäre es wahrscheinlich fast nicht aushaltbar…

Ich glaube schon, dass es ADHSler gibt, die das Glück haben in ihrem Leben eine Nische gefunden zu haben, wo es nicht stört. Aber das sind sicher nur wenige Ausnahmen.
Und ich denke, dass ich auch ohne ADHS noch Ich wäre. Warum denn nicht?! Nur halt entspannter…
Hier sieht man, dass doch sehr viele ADHS als einen Wesensbestandteil betrachten. Das ist bei mir nicht der Fall. Eher das Gegenteil ist der Fall: es stört mein Wesen.

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Vermutlich muss das einfach so sein, dass eben jede*r anders damit umgeht. Aber ich konnte mit dem Ansatz, dass ich xy nicht anders haben wollen würde, weil ich so viel dafür gekämpft habe, noch nie was anfangen. Jahrelange Traumatherapie hat mir eines beigebracht: Trauma macht einen nicht stärker. Es richtet massiven Schaden an. Dass man es überlebt hat, spricht für die eigene Resilienz, aber Resilienz heißt nicht, dass man nicht leidet. ADHS zu haben ist nun nicht gleichbedeutend damit, ein Trauma zu haben, bei vielen Menschen läuft es aber auf viele Mikrotraumata in Folge hinaus. Und die Stärke, die man beim Aushalten derselben bewiesen hat, hätte man ganz sicher auch wo anders sinnvoll einsetzen können, wenn man es leichter gehabt hätte im Leben. Dass eine glückliche Kindheit, ein „normaler“ funktionierendes Gehirn, ein geradlinigerer Lebenslauf usw. einen automatisch zu einem Weichei machen, das in schwierigen Situationen nicht in der Lage wäre, diese zu lösen, halte ich für sehr unwahrscheinlich :person_shrugging:

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Hej hej zusammen! Ich hatte erst „weiß nicht“ angehakt, bin dann aber auf „Ja“ umgestiegen. Ich bin 62, hab die Erwerbsminderungsrente und die Diagnose erst seit 7 Jahren. Ich habe durch die Rente das großen Glück, im Alltag nicht mehr so funktionieren zu müssen, wie vorher, was einigen großen Frust erspart. Und ich versuche in der letzten Zeit, die positiven Seiten zu entdecken, weil es das einzig Sinnvolle ist. Ich muß ja schließlich damit leben und dann ist es besser, die positiven Seiten zu suchen, anstatt im Jammertal unterzugehen. Aber wäre die Diagnose schon in meiner Kindheit gefallen, hätte ich evtl. die Depressionen, Drogenabstürze, katastrophale Schulzeit, privaten und dienstlichen Stress, mangelnde Erfolgsrlebnisse, 30 Jahre Psychotherapie, diverse körperliche Schmerzerkrankungen, Massen an Schmerzmitteln, … , vermeiden können. Stattdessen wäre ich vielleicht in meiner Phantasie, mit meinen künstlerischen, phantasievollen, komödiantischen, fröhlichen, sprachbegabten, sehr sozialen…, Fähigkeiten gefördert worden. Aber hätte hätte Fahrradkette! Vielleicht wäre ich Angesichts der Zeit in den 70ern auch einfach nur ruhiggestellt worden und als krank abgestempelt. Man weiß es nicht, also macht es mehr Sinn, sich die positiven ASpekte rauszuklauben und mit ihnen zu arbeiten und die mit den negativen leben zu lernen, irgendwie… Selbstakzeptanz/Arbeit an Selbstbewußtsein!Selbstwerterkennung und Behauptung nach außen sind für mich die Zauberworte geworden. Habe Methylphenidat und Co ausprobiert (war phantastisch!!!), aber leider nicht vertragen aufgrund einer MCAS. Also, so what!!! Muß damit irgendwie lernen, zu leben! Und je selbstbewußter ich in den letzten Jahren geworden bin (über Erarbeiten der Selbstakzeptanz), desto besser geht das auch! Also, um nochmal auf die Frage zurückzukommen. Ich weiß nicht, ob es in meinem Fall gut gewesen wäre, wäre die Diagnose früher gestellt worden. Aber ich denke auch, dass ich gerne auf ADHS verzichtet hätte :wink:
Ich wünsche allen eine so schöne Weihnachtszeit, wie irgend möglich, und einen guten Start in ein Neues Jahr. Habt Mut euch selbst zu unterstützen und lieb zu haben. Keiner kennt euch so gut, wie ihr selbst und keiner kann also so gut für euch sorgen, wie ihr selbst. In diesem Sinne ganz liebe Grüße!! :heart_eyes:

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Oh, das beruhigt mich jetzt sehr! Ich dachte schon, es wäre nur bei mir so :sweat_smile:

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Eckhardt von Hirschhausen sagte mal in Bezug auf Depressionen: „Wenn du ein Pinguin bist, der in der Wüste steht, dann ist es nicht deine Schuld, wenn es nicht flutscht.“

Genau das habe ich auf mich und mein ADHS adaptiert.

Mein Gehirn funktioniert anders als das der meisten. Dafür kann ich nichts, ich wurde so geboren. Ich wurde als Pinguin geboren.

Das hat damals keiner erkannt. Dafür gab es viele Gründe, die ich hier nicht alle aufzählen muss, aber so war es halt.
Aufgewachsen bin ich aber in der Wüste. Das ist eigentlich nicht die Umgebung, die ich brauche. Das wusste ich aber sehr lange nicht. Und ich sah ja auch erstmal ganz normal aus, wie etwas, das in die Wüste gehört. Zugegeben: das eine oder andere passte nicht. Aber da hieß es dann eben nur „Sei nicht so ein Pinguin! Ein Wüstenbewohner verhält sich nicht so!“

Und ich habe mich angepasst. Ich versuchte lange ein Kamel zu sein. Hat nicht gut geklappt. Ich war immer irgendwie ein komisches Kamel. Ich versuchte es als Wüstenspringmaus, als Kaktus, ja sogar als Stein. Hat alles nicht geklappt. Zwar haben die Leute es mir lange geglaubt, aber irgendwas fanden sie dann doch verdächtig oder unauthentisch. Außerdem hat es unendlich viel Energie gekostet und glücklich war ich damit auch nicht.

Dann vor 9 Jahren im Alter von 33 hatte ich dann das Glück bei einem sehr kompetenten Arzt zu sein, der mir sagte, was das „Problem“ ist: „Sie, meine Dame, sind ein Pinguin! Und keine Angst, das ist nichts Schlimmes!“ „Alles klar!“, dachte ich. „Problem erkannt, Problem gebannt!“ Aber weit gefehlt.

Nur weil ich nun wusste, dass ich ein Pinguin bin, hieß das ja noch lange nicht, dass ich wusste, wie Pinguine in der Wüste überleben können. Ich machte also mehr oder weniger weiter wie zuvor, auch wenn ich nun schon das eine oder andere besser verstehen und akzeptieren konnte. Ich sah sogar, dass es da draußen andere Pinguine gab, aber so wirklich habe ich mich mit meinem Pinguin-Dasein nicht auseinander gesetzt. Bis ich dann vor knapp zwei Jahren nicht mehr konnte.

Mehr oder weniger sehenden Auges bin ich in einen zweiten Burn Out geschlittert. Als Pinguin in der Wüste bekommt man leider sehr schnell einen Sonnenbrand, wenn man nicht weiß, wie man sich dagegen schützen kann. Aber dieses Mal habe ich es wirklich verstanden.

Ich habe alles stehen und liegen gelassen, mich hingesetzt und zum ersten Mal mir wirklich die Zeit genommen, mein Leben als Pinguin zu überdenken. Ich habe vieles geändert, große Entscheidungen getroffen und weiß dennoch, dass es noch ein langer Weg ist.

Aber ich habe immer noch die Hoffnung und den Glauben, dass es mir möglich ist, auch als Pinguin in der Wüste ein glückliches Leben zu führen. Dass ich es schaffen kann, mir mein eigenes Habitat aufzubauen, so wie ich es brauche. Es kostet viel Kraft und Energie, denn in einer Wüste einen Ort zu schaffen, der Wasser, Eis und Fisch beinhaltet – das ist nicht einfach. Aber es ist möglich. Daran glaube ich, weil ich bei mir selbst sehen kann, wie ich immer mehr zu mir selbst finde, mich als Pinguin akzeptiere.

Mein „Problem“ (oder „Krankheit“, wenn man so will) ist nicht, dass ich ein Pinguin bin. Mein Problem ist, dass ich nie gelernt habe, was es heißt ein Pinguin zu sein, wie ich als Pinguin in der Wüste überlebe und was ich brauche, um glücklich zu sein.

Ich sehe bei vielen anderen da draußen typische Pinguineigenschaften, bei meinen Geschwistern zum Beispiel. Aber die haben sich von Anfang irgendwie besser zurechtgefunden. Sie sind auch Pinguine, aber eben Wüstenpinguine, die besser hineinpassten, sich besser anpassen konnten, ihre Pinguin-Nische gefunden und sich einfach wohler gefühlt haben. Und daher auch nie solche Probleme hatten, wie ich.

Wenn du mir eine Pille anbietest, die mich von jetzt auf gleich zum Kamel macht, dann lehne ich dankend ab. Ich bin inzwischen gerne ein Pinguin. Nicht, weil ich mein Pinguin-Dasein als Superkraft oder mich als ganz besondere Schneeflocke sehe. Tatsächlich finde ich es sehr anstrengend, ein Pinguin zu sein. Und oft bin ich einfach nur müde von dem täglichen K(r)ampf. Aber ich fühle mich einfach als Pinguin, das ist, was ich bin. Mit allen Stärken und Schwächen. Und da sehe ich, wie gesagt, auch nicht mein „Problem“.

Wenn du mir aber eine Pille anbietest, die mir von jetzt auf gleich zeigt, wie meine persönliche Überlebens- und Glücklich-Sein-Strategie als Pinguin in der Wüste funktioniert, ohne langwieriges Training, ohne Medikamente, ohne jahrelanges Leiden – ja, das wäre ich wohl sehr versucht. Ich würde ja am liebsten immer alles sofort und gleich und ohne viel Arbeit haben. Schließlich bin ich immer noch ein Pinguin.

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