Buchdiskussion: "Unruhe im Kopf..." von Gabor Maté

Moin,

ist das Buch hier bekannt?

Ich kam über ein anderes Buch auf dieses hier und finde die vorgestellten Thesen sehr interessant.
Sie laufen aber teilweise dem wohl allgemein anerkannten Wissen zuwider. Ich meine vor allem seine These, dass ADHS zwar durchaus vererbt wird aber dass die Gene nicht direkt für die Fehlverschaltungen im Gehirn verantwortlich sind sondern nur die Wahrscheinlichkeit dafür beeinflussen. Die Gründe für die Entstehung von ADHS sind dann eher fehlende Aufmerksamkeit dem Kind gegenüber, oder offene Ablehnung und Vernachlässigung.

Ich könnte mir vorstellen, dass er sich mit diesen Thesen nicht gerade beliebt macht, da man als Eltern da schon ganz schön in die Verantwortung gezogen wird.
Auch ich bin davon betroffen denn ich habe ein Kind mit ADHS und mir eingebildet, dass ich (fast) alles richtig gemacht habe in der Erziehung.
Aber wenn ich seine Thesen ernst nehme dann finde ich durchaus Verfehlungen auf meiner Seite, die dazu geführt haben könnten, dass mein Kind ADHS entwickelt hat, vor allem da ich es höchstwahrscheinlich auch selbst habe und nicht der aufmerksamste Mensch bin.
Dagegen spricht, dass mein Kind von Anfang an ziemlich hyperaktiv war und nur mir größter Mühe und vielen Tricks zum Schlafen bewegt werden konnte.
Theoretisch könnte es auch an prenatalen Einflüssen gelegen haben. Zeitweise hatte meine Frau sicher sehr hohe Cortisolwerte wegen eines tragischen Ereignisses.
Wie auch immer, mich würde eine Diskussion darüber interessieren, auch vielleicht, wie sich seine Tipps zur Erziehung oder Selbsterziehung so machen. Ich habe damit jedenfalls erste interessante Resultate erzielt.
Ich glaube jetzt nicht, dass ich damit das ADHS meines Kindes weg kriege aber vielleicht kann ich es etwas verbessern.

Definitiv habe ich erkannt, dass die eigene Weiterentwicklung ganz unabhängig vom ADHS sehr wichtig ist für die Erziehung und Beziehung mit dem Kind.

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Hallo @Traumfresserchen ,

ich glaube, es ist unumstritten, dass das Verhalten der Eltern ADHS Symptome bei ihren Kindern mindern, aber auch verstärken kann. Ich kann mir mittlerweile aber nicht mehr vorstellen, dass man den Leidensdruck durch die richtige Erziehung und Behandlung komplett nehmen kann.

Selbst wenn es Zuhause gelingt (was mir schon utopisch scheint), ist das Kind im Kindergarten oder spätestens in der Schule einer anderen Behandlung ausgesetzt.

Was sind denn die Hypothesen des Autors und wie belegt er sie?

Hallo Traumfresserchen,

ich kenne das Buch nicht, habe aber in der Vergangenheit einige Interviews, Gespräche mit Gabor Mate auf youtube angeschaut, weil ich seine Themen und Ansätze sehr interessant fand.
Ich finde seinen Ansatz und seine Arbeit sehr wichtig, weil er (zu Recht) kritisiert, dass bei der heutigen Schulmedizin kein ganzheitlicher Ansatz gefahren wird, im Sinne von Körper und Geist zusammen betrachten.
Aber ich glaube auch, dass er sich in manche Themen/ Ansätze zu sehr… festgebissen hat?!
Ich bin mir sehr sicher, dass das Elternhaus bzw. die Umgebung, in welcher ein Kind aufwächst, einen Einfluss auf die Ausprägung des ADHS hat. Weil das einfach auf JEDES Kind eine Auswirkung hat, bezogen auf Resilienz, Selbstwahrnehmung/-bewusstsein usw.
Ich bin z.B. sehr behütet in ländlicher Gegend aufgewachsen. Ich war viel draußen, hatte viele Freiheiten, mein Vater war strukturgebend und konnte mit meinen Ausrastern sehr gut umgehen, meine Mutter war sehr warm und emotional für uns Kinder erreichbar. Ich fiel als Kind nicht großartig auf. Die ADHS-Probleme begannen erst mit der Pubertät, wie ich jetzt weiß und vor allem, als ich erwachsen wurde, eigenständig sein sollte/musste.
Haben meine Eltern Fehler gemacht? Sicher! Mein ADHS verschärft? Vielleicht?! Aber hey, kein Mensch ist unfehlbar! Niemand!

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Er führt immer wieder Studien zur Gehirnentwicklung an, in denen vor allem bei Tieren gemessen wird, wie z.B. Bindung zu Bezugspersonen oder anderen Artgenossen die Verknüpfungen im Gehirn beeinflussen oder auch die Botenstoffe, wie Dopamin. Daraus leitet er dann Parallelen zur menschlichen Gehirnentwicklung ab. Forschung am Menschen gibt es zu dem Thema kaum.
Weiter stützt er sich auf seine Erfahrung als Therapeut und Psychiater.
Sein Argument, dass die Verknüpfungen im Gehirn viel zu komplex sind, als dass so was im Gencode gespeichert werden könnte ist auch nicht von der Hand zu weisen.
Die genetische Ausprägung sieht er darin, dass alle ADHSler hypersensibel sind. Dadurch erhalten sie die Entwicklungsstörung wenn mit den Eltern oder anderen Bezugspersonen was im Argen liegt.
Ich hoffe, ich habe das jetzt so richtig wiedergegeben.

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Ja das erscheint mir auch so. Andererseits wäre es schon sinnvoll seine Thesen mal zu erforschen denn wenn er recht hat könnten Eltern und Gesellschaft sehr viel dagegen tun, dass ADHS überhaupt auftritt.

War bei mir eigentlich auch so. Ich hatte immer wieder Phasen in meinem Leben wo ich mehr oder weniger ADHS hatte.
Meine alleinerziehende Mutter hat mich im Prinzip auch so erzogen, dass ein ADHS Kind genug Ausgleich hat. Viel Draußen, wenig Medien, viel Zeichnen und freies Spiel.

Seine Hauptthese ist übrigens meinen Meinung nach, dass ehrliche Aufmerksamkeit/Wertschätzung gegenüber ADHSlern ihnen am meisten hilft.
Ich beobachte immer wieder wie mein Kind höchst sensibel auf die ihm entgegengebrachte Wertschätzung reagiert. Jede Kleinigkeit die jemand tut oder sagt wird auf die Waagschale geworfen und Leistungen in der Schule sind auch abhängig vom Verhältnis zum Lehrer.

Meine ADHS-loseste Zeit war als ich noch frisch verliebt mit meiner Freundin zusammen gezogen bin und wir in der neuen Stadt viele Freunde gefunden hatten. Außerdem habe ich da so viel Sport gemacht wie nie und habe mich ziemlich gesund ernährt.

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Das halte ich für zu kurz gegriffen! Es stimmt zwar, dass vor allem das Organ „Gehirn“ noch sehr wenig erforscht ist und wir vieles noch nicht wissen, aber ich empfinde an dieser Stelle seinen Ansatz sogar als gefährlich! Wenn ich mich richtig erinnere war es jahrzehntelang so, dass Eltern direkt die Schuld für das Entstehen von ADHS bei ihren Kindern gegeben wurde. Davon ist man dann, zum Glück, weggekommen, als man vermehrt die Ursachen und Auslöser für ADHS identifizieren konnte.
Seine These empfinde ich an dieser Stelle als Rückschritt.

Das ist doch bei jedem Menschen so. ADHSler sind da vielleicht sensibler und brauchen das vielleicht noch mehr, aber das erklärt nicht die Entstehung von ADHS. Und Aufmerksamkeit/Wertschätzung bringt mir bei meiner Reizfilterschwäche erstmal gar nix :adxs_kp: Die Welt ist nun mal so wie sie ist.

Ich hatte schon immer ADHS. Aber es gab Zeiten in meinem Leben, da war das nicht so auffällig. Aber es war schon immer da. Bin jetzt halt blöderweise erwachsen und kein kleines Kind mehr, das die meiste Zeit des Tages sorgenfrei durchs Dorf, Wiese, Wald toben kann, mit oder ohne Freunde. Muss jetzt blöderweise in der Welt der Erwachsenen klarkommen, mit all seinen Sorgen und Nöten und Pflichten. :expressionless:

Ja ich weiß, deswegen haben wahrscheinlich so viele Kinder keine Diagnose bekommen. Weil man dann ja als Eltern sozusagen zugibt, versagt zu haben.
Letztendlich geht es dabei aber gar nicht um Schuld. Wenn Du ADHS hast und es an Deine Kinder weiter gibst dann ist es ja egal ob es genetisch oder so wie es Maté beschreibt weitergegeben wird.
Dafür kann man nie was.
Er sagt auch, dass man seine unbewältigten Traumata auch weiter gibt, ohne was dagegen tun zu können, außer natürlich daran zu arbeiten, dass man sie eben bewältigt.

Ich hab übrigens schon viel über ADHS gelesen aber noch nirgends, dass man über die Ursachen bescheid weiß.
Wenn es genetisch ist, so hat man bislang zumindest noch keine speziellen Gene dafür gefunden. Es handelt sich bei dieser Vermutung nur um statistische Auswertung, soweit ich weiß.

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Ich finde diese Studie sehr interessant. Lest mal gerne die Conclusions:

Diese Studie weist darauf hin, dass die Erblichkeit von ADHS hoch ist (besonders, wenn man die Interaktion von Genen und Umwelt beachtet), aber halt nicht zu hundert Prozent die Ursache für die Entstehung ist.

Außerdem war man sehr überrascht, dass Gene, die mit der Wirksamkeit von ADHS-Medikamenten zusammenhängen, keine statistische Bedeutung hatten. Also könnte der abweichende Dopamin-Stoffwechsel eher die Folge einer anderen primären Ursache von ADHS sein, die man noch überhaupt nicht kennt.

Und aus den Ergebnissen der Studie schließt man auch, dass ADHS eine starke Ausprägung eines Merkmals ist, das in der gesamten Bevölkerung vorkommt, also dass es eher eine Skala wie zum Beispiel beim Cholesterin-Spiegel gibt.

Spannend oder? Bisher hat man sich halt viel mit den Vorgängen im Gehirn bei ADHS beschäftigt. Wenn jetzt die Erkenntnisse aus der Genetik dazukommen, werden die Zusammenhänge hoch interessant.

Allein deshalb bin ich etwas skeptisch gegenüber den Aussagen von Gabor Maté. Wir wissen einfach noch nicht genug, um solche Urteile zu fällen.

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