Diagnose AD(H)S, bitte um Eure Meinung

Hallo zusammen,

ich bin schon ziemlich lange passiv hier im Forum unterwegs und fand die ganzen Erfahrungsberichte super hilfreich. Deswegen habe ich mich jetzt entschieden hier um Hilfe in Form einer kurzen Einschätzung zu bitten.

Ich bin 26 Jahre alt, seit 6 Monaten in Therapie für AD(H)S und bin damit relativ zufrieden. Mein Therapeut ist am besten mit „Pillen Doktor“ zu beschreiben. Bitte nicht falsch verstehen, ich bin unglaublich dankbar für den Therapieplatz aber ich habe das Gefühl ich kann ihm keine Fragen stellen.
Deswegen wollte ich hier fragen, ob jemand sich selbst in dem sieht, was ich schreibe, oder Erfahrungen hat.

Und ganz besonders wollte ich wissen, ob Ihr die Diagnose AD(H)S für richtig haltet (mir ist bewusst, dass das nur ein Psychologe/Neurologe mit Bestimmtheit sagen kann).

Dann fang ich mal an und versuche mich kurz zu halten:

Ich habe wegen starken und mein Leben über konstanten Konzentrationsschwierigkeiten, vor allem beim Lernen, einen Therapeuten aufgesucht, da es mich in meinem Studium sehr einschränkt. Ich wusste davor sehr lange, dass mein Verhalten und meine Wahrnehmung der Welt auf eine neurologische Eigenheit hinweisen. Aber ich wusste nicht, dass es ADHS auch ohne Hyperaktivität gibt, hätte ich das gewusst, hätte ich wahrscheinlich schon vor 10 Jahren Hilfe gesucht. Die Medikation hiflt auch mit der Konzentration, aber vor allem hilft sie gegen das ständige Aufschieben und um ehrlich zu sein, der größte Effekt, den ich merke, ist dass ich viel besser Schlafe. Jetzt schlafe ich normal und bin nicht mehr wie vorher immer komplett übermüdet und werde fast ohnmächtig gegen 13 Uhr.

Das macht mir zu schaffen, weil ich damit gerechnet habe, dass die Konzentrationsprobleme am ehesten gelindert werden. Und es stellt sich mir die Frage, ob das nicht einfach die Wirkung der Medis auf einen Menschen ohne AD(H)S ist. Ich bin auch einfach kein Impulsiver Mensch, eher im Gegenteil, ich bin sehr gehemmt in den meisten Situationen.

Zu meinem Lebenslauf:
Ich war als Kind/Jugendlicher (10 bis 18 Jahre, an davor kann ich mich nicht wirklich erinnern) extrem zurückgezogen, permanent überfordert und hab mich hilflos gefühlt. Ich hatte eine soziale Schwäche, ich war nett, hab aber kaum geredet. Man hat mich sehr oft gefragt, ob ich unzufrieden oder sauer bin, wegen meinem Gesichtsausdruck. Das hat mich gestört, weil ich die meiste Zeit gar nichts gefühlt habe. Manchmal wurde mir von Person A gesagt, dass Person B denkt, ich könne sie nicht leiden. Ich denke das lag an meinem Ausweichen von Augenkontakt. Inzwischen weis ich, dass Menschen wesentlich mehr Augenkontakt erwarten. Damals kam noch dazu, dass ich bei versehentlichem Augenkontakt quasi zusammengezuckt bin und mich verschlossen hab, ich verstehe schon, dass man dann denkt ich kann jemanden nicht leiden.

Vor allem der Augenkontakt macht mir Sorgen. Als Erwachsener kann ich jetzt viel besser so tun, als ob es mich nicht stört, aber der Moment, in dem ich meinem Gegenüber aus Höflichkeit in die Augen schaue, löst bei mir genau das gleiche explosionsartige Panikgefühl aus wie früher. Selbst wenn ich einen tollen Tag hab und über etwas rede, mit dem ich mich auskenne und ich die Person mag.

Kann das Autismus sein? Ich hab viel gelesen und es treffen mMn zu wenig andere Dinge dafür auf mich zu. Ich will nicht ausschließen, dass ich eine Angststörung aus meiner Kindheit mitgenommen habe, aber es fühlt sich nicht so an. Meine Strategie ist einfach knapp neben das Gesicht schauen und gerade jetzt mit der Medikation habe ich damit zum ersten mal schöne, auf Gegenseitigkeit beruhende Gespräche.

Meine Eltern erzählten mir, dass ich im Kindergarten mit den anderen Kindern nicht gespielt habe weil ich „zu weit war für die“. Ich selbst gehe davon aus, dass ich eine Entwicklungsverzögerung hatte, vor allem sozial, da meine Kindergärtnerinnen empfohlen haben mich auf die Vorschule zu schicken. Das haben meine Eltern nicht gemacht.
Schulisch bin ich bis in die 12 Klasse ohne Probleme gekommen. Ich war sogar recht begabt in einigen Fächern, vor allem in Mathe. Das konnte aber gerade so kompensieren, dass ich beim besten Willen (ich war wirklich bemüht und traurig, wenn ich es nicht geschafft habe) nicht in der Lage war an die Hausaufgaben zu denken, Mappen zu führen oder zu Lernen.
Und dann hab ich mein Abitur mehr schlecht als recht hinbekommen und angefangen zu studieren.

Falls es wichtig ist, ich habe Medikinet über mehrere Monate langsam erhöht bis 30mg verschrieben bekommen, hatte aber nur ein sehr kurzes Wirkungsfenster (ca. 45 min). Jetzt bekomme ich Lisdexamfetamin 30mg seit einer Woche. Bei beiden habe ich keinerlei Nebenwirkungen.

Ich bin dankbar für jeden Input, den Ihr mir geben könnt.

Autismus und ADHS treten häufig zusammen auf (ich meine ca. 50%).
Es ist also wahrscheinlich das du beides hast.

Bei mir war es auch so, und die Diagnose hat mich ziemlich aus der Bahn geworfen da ich damit absolut nicht gerechnet hatte. Ich hatte gehofft es ist einfach ADHS und man wirft dann ne Pille ein und alles wird gut. Im nachhinein betrachtet natürlich etwas naiv von mir :wink:

Ich würde empfehlen dir parallel zum „Pillen-Doktor“ (davon scheint es einige zu geben) noch einen Psychotherapeuten zu suchen. Zum einen kann dort im idealfall eine Diagnose durchgeführt werden, zum anderen aber auch an den Symptomen gemeinsam gearbeitet werden.
Auch wenn es kein Autismus ist, sondern andere Ursachen hat, bestehen die Probleme ja dennoch und sollten behandelt werden.

Die ADHS Medikamente würde ich aber weiternehmen, da sie dir ja helfen und bei dir auch ADHS diagnostiziert wurde. Aus deiner Beschreibung besteht aus meiner Sicht kein Grund die Diagnose anzuzweifeln. Es ist aber wahrscheinlich einfach nicht das vollständige Bild.

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Danke für die Antwort :grinning: Das mit dem „Pille einwerfen und alles wird gut“ hab ich auch so ein bischen gehofft. An manchen Tagen stell ich in Frage, ob ich überhaupt einen Unterschied bemerke, aber wenn ich den Tag Revue passieren lasse, merke ich, dass ich doch erstaunlich lange konzentriert Sachen gemacht hab.

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Autismus und ADHS zusammen führen zu Kombis, die sehr häufig falsch diagnostiziert werden (teilweise als Depressionen oder Borderline-Verhaltensweisen). Weil sich beide stark gegenseitig beeinflussen.
Beide „Veränderungen“ haben unterschiedliche Bedürfnisse, die sich stark unterscheiden, die in total unterschiedliche Richtungen gehen.

Einige Beispiele:

  • Bedürfnis nach Ordnung (und zufriedener, wenn sie da ist), aber unfähig sie einzuhalten
  • Bedürfnis bei allem dabei zu sein, nichts zu verpassen, aber nach Zusammentreffen mit Leuten total überreizt sein und sich davon länger erholen zu müssen
  • Alles durchzuplanen und dann die Pläne nicht einhalten können

Ich bin selber mit ADHS diagnostiziert mit Autismus-Vermutung (auch die Tests, die zusätzlich zur ADHS-Diagnostik gemacht wurden, zeigen einen starken Verdacht), jedoch soll ich selber entscheiden, ob ich dem weiter nachgehen möchte mit einer Autismus-Diagnostik)

Auch das Gefühl zu haben, nicht dazuzugehören, die Regeln nicht zu verstehen, irgendwie überall nur „daneben“ zu stehen anstatt dazuzugehören… fühle ich…

Sehr viele Leute mit ADHS haben Autismus, die 50% könnten gut stimmen (auch wenn Schätzungen 20-50% sagen), da sie sich einfach teilweise zusammen „kaschieren“.

Ich kann von deinem Namen leider nicht ableiten, ob du weiblich oder männlich ist.

Vor allem bei Frauen bleibt der Autismus meist unentdeckt, weil sehr viele soziale Anstrengungen dadrin stecken „normal zu scheinen“ und sich anzupassen, stark zu maskieren.

Ich finde mich sehr in deinen Schilderungen wieder :slight_smile: (Ebenso Abitur, Mathe + Naturwissenschaften sind und waren einfach meins) und ich bin mir zu 95% sicher, dass ich beides habe :wink: (habe schon Unmengen Vorträge gesehen sowie Bücher und Studien etc jahrelang gelesen, sodass ich mir da eine Grundlage für eine Meinungsbildung zutraue).

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Ist bei mir auch so. Echt krass, dass es anderen auch so geht. Diese inneren Konflikte sind so anstrengend.

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Danke :smiley: fühlt sich echt gut an, das von jemandem zu hören. Ich kenne sonst niemanden, mit ähnlichen Erfahrungen.

Ich bin männlich, das mit dem Maskieren hab ich so gar nicht hinbekommen, obwohl ichs toll gefunden hätte.

Irgendwann bin ich auch beim Kinderpsychologen gelandet. Aber ich hab nach dem ersten Termin abgebrochen, aus Angst, meine Eltern könnten denken, dass ich ihnen dafür die Schuld gebe.

Wie meinst du das? Die Eltern erfahren doch nichts, wegen Schweigepflicht. Oder meinst du grundsätzlich, dass wenn sie erfahren, dass das Kind zur Therapie gehen will, denken sie, dass es wegen ihren Fehlern sein müsste?

Eine Vertrauenslehrerin hat damals mit mir ein Gespräch gewollt wegen meiner Probleme, ich denke danach hat sie meine Eltern kontaktiert. Ich hab das nicht selbst angestoßen und wusste die ganze Zeit nicht wirklich was passiert.
Meine Mutter war beim ersten Gespräch dabei und aus irgendeinem Grund mein Geschwisterkind. Ich war 13 und hatte das Gefühl, keine Umstände machen zu dürfen und vor meiner Familie meine Probleme irgendwie zu formulieren fand ich äußerst unangenehm. Der Psychologe meinte, wir sollten auch noch meinen Vater miteinbeziehen, das wurde mir zu viel und zu Hause hab ich nur gesagt, dass ich da nicht mehr hin will.

Das ist nur halbwegs relevant zu meinem original Post, aber ich will das unbedingt erzählen. Ich hab ja geschrieben, dass ich zum Zeitpunkt des Posts seit einer Woche von Medikinet auf Lisdexamfetamin gewechselt bin. Heute war glaube ich der produktivste Tag meines Lebens. Seit ein paar Tagen führe ich ne Liste von wichtigen ToDo’s. Ich hab in den letzten Stunden 4 Dinge einfach fertig gemacht, die ich teilweise seit JAHREN vor mir herschiebe. Und zwischendurch hab ich auch noch für die Uni gelernt :smiley: Ich fühl mich toll

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Ah verstehe. Das ist ja seltsam, dass alle mit dabei waren. Da hätte ich auch nichts gesagt als Kind. Vielleicht hat man dann mit 14 als Jugendlicher andere Rechte bei der Schweigepflicht. Ich hätte erwartet, dass es schon bei Kindern gilt. Lehrer sind da aber anders als Ärzte oder Psychotherapeuten.

Glückwunsch zu den ToDos!
Könntest dich für sowas belohnen oder irgendwie feiern. Und nicht übertreiben, immer schön Erholung einbauen in den Tag. :sweat_smile:

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