Liebe/r 123, mit großem Interesse lese ich deine Frage. Auch, wenn sie lange vorbei ist, möchte ich dir meine Erfahrungen mitteilen. Vielleicht bietet sie neue Aspekte für dich.
Ich werde im Dezember 60 Jahre alt. Seit Mitte der 20er hatte ich immer wieder Probleme, die Diagnosen waren so vielfältig, wie die behandelnden Ärzte/Therapeuten. AD(H)S war damals zwar bereits bekannt, aber noch recht wenig eingedrungen im Bewusstsein von Patienten und Behandlern. Dazu gäbe es natürlich sehr viel zu erörtern, aber ich möchte hier nur meine persönlichen Erfahrungen zur medikamentösen Unterstützung geben.
Eine erste Behandlung hinsichtlich AD(H)S erfolgte mit 48 Jahren in der Uniklinik Lübeck. Vorher ging es immer nur um Depressionen unterschiedlicher Ausprägung, komplexer PTBS, unterschiedlicher PS Störungen inklusive akzentuierter Borderlinestörung vom instabilen Typ, (je nach Psychiater), Bipolarität, Hypersensitivität.
Keine Therapie half, Schuldzuweisungen mir selbst gegenüber, mangelndes Selbstwertgefühl waren die Folge.
Trotz mehrfacher Feststellung einer Hochbegabung konnte ich Studiengänge Biologie/Philosophie und später Humanmedizin nicht abschließen. Ich war stets emotional massiv überfordert, das Leben als Solches empfand ich als Extrembelastung. Besonders dadurch, daß ich die Ereignisse unserer Gesellschaft/Welt global und persönlich in jeder Hinsicht aufnahm, wie ein Schwamm. Eine Abgrenzung, geschweige denn Umgang war niemals möglich. Wie eine Art erstickendes schwarzes Loch selbst in basalsten Lebenssituationen führten dazu, dass eine konstruktive Gestaltung des eigenen Lebens nicht möglich war.
Gottseidank hatte ich bereits eine Ausbildung als Krankenschwester, was mir zumindest ermöglichte, teilweise berufstätig zu sein. Viele Jahre ging auch das nicht. Ich hangelte mich mit Minijobs mit sehr geringem kognitivem Anspruch durch. Eine vom Amt gewünschte Berentung war für mich keine Option.
Das Wissen darum, meine mentalen Fähigkeiten selbst im Alltag nicht nutzen zu können, trotz allem Wissens (ich hatte fast 20000 EUR für ein Studium zum HP Psych ausgegeben), machte mich fast wahnsinnig.
Als ich fast aufgegeben hatte, lernte ich meinen Mann kennen. Ein Mann mit soviel Liebe und Verständnis (sogar ohne es wirklich nachvollziehen zu können, was mich so einschränkte und mich mitunter auch körperlich massiv in die Knie zwang). Er ist Akademiker (Diplom Chemiker) in guter Stellung mit hervorragendem Einkommen, sodass die finanzielle Situation durch mich nicht belastet ist.
Damit bin ich eine der Glücklichen, die nicht ihr Leben im sozial/finanziellen Minimum gestalten müssen.
Ausgestattet mit hohen ethischen Werten und einem sehr warmen, zugewandten und hilfsbereiten Wesen war und bin ich nicht allein. Mit meinen mitunter extrem emotionalen Ausbrüchen kommen dadurch die Menschen in meinem Umfeld gut klar. Ich hingegen hadere ganz massiv unter mir selbst.
Also nun mal weiter. Irgendwann geriet ich durch Zufall an unsere Helios Klinik. Der damalige Pflegeleiter der Notaufnahme erkannte mein Wesen und zum ersten Mal seit Ewigkeiten arbeitete ich als Fachkraft. Und das auch noch in einer Notaufnahme. Er unterstützte mich massiv. Die ersten Monate waren der Horror für mich. Aber sämtliche KollegInnen waren liebevoll zugewandt. Ich wurde nie das, was ich hätte sein können, wenn ich ohne AD(H)S ausgestattet gewesen wäre, aber ich war voll funktionsfähig. Auch allein nachts im Dienst (unsere Ärzte schätzten meinen überdurchschnittlichen medizinischen Kenntnisstand, Engagement und meine fürsorgliche Art). Trotzdem war ich überlastet. Massiv. Ich habe irgendwann auf 35% reduziert, auch das war zuviel. Also kündigte ich nach 3 Jahren, bevor ich zusammen brach.
Erneut Depressionen. Noch einmal zurück nach Lübeck. Versuche mit MPH verschiedener Profile. Ich konnte es absolut nicht vertragen. Bin regelrecht steil gegangen. Egal welche Dosierung oder Profil. Weiterer Versuch mit Bupropion bis 450. Nüscht. Also aufgegeben.
Das ist nun fast 10 Jahre her. Medikation: damit ich wenigstens schlafen kann Dominal 80-160, alternativ Quetiapin 100-200 abends.
Nun bin ich seit 3,5 Jahren einzige Schulkrankenschwester am Internat Birklehof in Hinterzarten. Der Anfang äußerlich gut, innerlich Katastrophe. Fast hätte ich wieder gekündigt.
Gottseidank war die Psychiaterin in der Heliosklinik, wo ich in der Notaufnahme tätig war bereit, mich als Patientin aufzunehmen. Sie ist wirklich klasse. Bisher hat sie meine depressiven Phasen aufgefangen (hatte vorher 8 Jahre durchgehend selbst gezahlte Psychotherapie und wollte dann nicht mehr. Hatte die Nase gestrichen voll). Nun Versuch. Erst nochmals Bupropion. Nüscht. Aufgrund Depression Venlafaxin hochdosiert. Auch nicht der Brüller.
Ich hatte mich irgendwie selbst gefangen.
Nun, vor einigen Monaten merkte ich, dass ich in der Schule auch zunehmend überfordert war. Selbst die regelmäßigen Freizeiten (ich habe sämtliche Schulferien frei, arbeite die notwendigen Stunden vor) reichten nicht mehr aus. Die Nachmittage (ist nur 40% Stelle, Nachmittags frei) verbrachte ich in der Horizontalen. Ich wurde zum Coach Potatoe mit der Sorge, auch hier gehen zu müssen. Was mich schwer belastete. Was kann sich ein Mensch, der auch gern selbst entscheidet und Herr über seinen Einflussbereich ist, mehr wünschen, als soviel Zwischenpausen und nur 1x wöchentlich für 1 Stunde eine Ärztin, die dazwischen funkt und meine Fähigkeiten so schätzt, dass sie mich allein handeln (diagnostizieren, behandeln) lässt und weiß, dass ich ganz genau weiß, wann ich nicht mehr ohne ihre Expertise arbeiten kann und sie dazu rufe. Sie ist niedergelassene Ärztin 7km entfernt.
Meine Grenzen bemerkte ich bereits in den letzten Weihnachtsferien. Ich erholte mich nicht, kam nicht mehr zu Kräften. Die jeweiligen 6 Wochen Unterrichtszeit entwickelten sich zur Katastrophe. Ich wurde immer angreifbarer, schwächer, wurde gereizter und gereizter, SchülerInnen die sich (wie in der Pubertät üblich) Regeln brachen, mussten sich einiges gefallen lassen. Professionalität ging immer weniger. Ich drohte aufgrund der fehlenden Selbstwirksamkeit und des mitunter überbordenden Verhaltens in die nächste Depression zu rutschen. Ich konnte auch nicht mehr differenzieren, Konzentration null, Fehler passierten.
Bemerkte Niemand, weil Niemand da war, der es hätte bemerken können, ich bin wie gesagt völlig allein in der medizinischen Versorgung. Auch unsere Schulpsychologin bemerkte nichts, mit der ich ganz eng zusammen arbeite.
Als letzten Ausweg besprach ich mich mit meiner Psychiaterin und bat um einen letzten Versuch hinsichtlich medikamentöser Begleitung, nachdem ich mich nach 3 Wochen Sommerferien immer noch nicht erholen konnte. Ich hatte Angst vor Stimulanzien aufgrund der Vorerfahrungen.
Wir besprachen erst einmal 20 mg Elvanse. Ich war überrascht. Wie bei MPH war es 3 Tage prima ohne Nebenwirkungen. Hauptwirkung eher sanft. Also Steigerung auf 40mg. Wirkung hinsichtlich Konzentration und Ruhe kann ich noch nicht sicher beurteilen. Aber nun kommt es.
Ich wurde richtig weinerlich und traurig. Dinge, die mich vorher zu Boden geworfen hatten, aber mich ersticken ließen, kamen verstärkt hervor. Aber ganz anders. Nicht, als bekäme ich keine Luft mehr. Als wäre ich gelähmt. Die Mauer zwischen Emotio und Ratio fiel. Was ich vorher mit Ratio nicht händeln konnte, weil eine dicke Mauer bestand, geht nun. Die schwarze, erstickende Mauer, die es verhindert hat, mit Emotionen adäquat umzugehen, ist viel geringer. Ich kann Tränen, die nun leben dürfen, lange bestehendem, schwarzem Schmerz begegnen. Es darf und kann sein und damit kann er sich auflösen, bzw. angegangen werden. Vielleicht hilft es dir, die weinerliche Stimmung als etwas zu dir gehörendes sehen zu können, was vorher nicht möglich war. Ich erlebe es so, dass Elvanse dabei hilft, erstickende Gedanken/Gefühle tatsächlich zu leben, denn leben ist Entwicklung, Weitergehen. Betrachte es nicht als Nebenwirkung. Sozusagen, das Gehirn kann sich bewegen. Endlich. Damit bist du in der Lage, hinzuschauen, dir mit Liebe zu begegnen, zu wachsen, zu entwachsen, was zuvor neurobiologisch nicht ging. Sozusagen blockierte Synapsen. Ich erlebe das auch bei meinen SchülerInnen. Ich habe viele davon und betreue sie täglich. Die Betreuung AD(H)Sler ist eine meiner Hauptaufgaben. Ich wünsche dir alles Liebe und Gute. Melde dich gern, falls mein ausführlicher Bericht dich anspricht und du mehr wissen möchtest.