[Forum Fiction] Paul Krampitz: 24 neurodiverse Tage in Seligenburg

Tür 11 Sonderkommission Schneemann in der Garage

Als Julia nach einer neuen Super-Mario-Geschichte eingeschlafen war, rief Leni aus der Garage nach Paul und Niklas.

Sie hatte dort einiges umgeschichtet und so auf einer Seite einen Pfad freigeräumt. Eine Tischtennisplatte stand hochkant, um sie als Wandtafel nutzen zu können.

Daran hingen Fotos, ein Zeitplan des Unfalltags, eine Skizze vom Unfallort und zwei Asservatenbeutel mit den jetzt vom Schlamm befreiten Knöpfen.

Ein drittes Plastiktütchen mit dem, was Niklas am Fahrrad gefunden hatte, hielt Leni jetzt unter das Licht einer Wohnzimmerlampe, die noch von Pauls Vater stammte: „Was unser Junkfood-Fan Niklas nicht wissen konnte: Es handelt sich bei der am Fahrrad sichergestellten Substanz nicht um kompostierte Süßkartoffel. Olfaktorische und gustatorische Analyse nach einer Biopsie des Inneren haben vielmehr ergeben, dass wir es mit einer Karotte…“

Niklas unterbrach sie, nachdem er etwas in sein Smartphone getippt hatte: „Moment: Hier steht ‚olfaktorisch - Geruch‘ und ‚gustatorisch - Geschmack‘… Du hast diese ‚Substanz‘ aber nicht wirklich probiert, oder? Eklig.“

Paul sah Leni an und warb um Verständnis für Niklas: „Er sagt gerade, dass er noch nie Sherlock Holmes gelesen hat, ohne uns zu sagen, dass er noch nie Sherlock Holmes gelesen hat! Aber er wird es lieben, wenn es soweit ist.“

Leni nickte wissend: „So sehe ich das auch. Danke, Paul. Fahren wir fort…“

Leni fügte Beweisstück 3 ihrem Schaubild hinzu und befestigte es mit Malerkrepp aus der Werkzeugkiste, die jetzt in Reichweite stand.

Niklas war unterwältigt: „No shit, Sherlock. Ich kann das ohne Powerpoint-Präsentation alles nicht ernst nehmen! Gib mir wenigstens rote Bindfäden oder Farbcodes wie bei Homeland!“

Paul schritt ein: „Hör nicht auf ihn. Er kämpft mit dem Dopamin-Detox. Also ich sehe: zwei Knopfaugen und eine Karotte und deduziere: Spuren eines Schneemanns, eindeutig.“

Leni übersetzte für Niklas: „Wenn Sherlock-Leser ‚deduzieren‘ sagen, meinen sie eine bestimmte Art des Schlussfolgerns.“

Paul war begeistert: „Leni, das ist toll. Alles hier. Nicht nur die Analyse und der Ermittlungsfortschritt, sondern auch, was Du hier in der Garage schon geschafft hast. Sie ist ja schon wieder … regelrecht begehbar. Wir kommen sogar wieder an Werkzeug.“

Er blickte hinter sich. Links war die alte Golf-Ausrüstung seines Vaters. Daneben Auto-Ersatzteile eines VW von 1999, ein Sessel, ein Terracotta-Bräter seiner Oma, in dem mal echte Mäuse überwintert hatten. Ein Karton mit Mosaik-Steinen und einer mit Tiffany-Glas und ein halb bemalter Ceramin-Spiegel, den seine Mutter in einer Kur begonnen hatte. Er blickte auf Generationen der Familie Krampitz. Transgenerationales ADHS?

Leni: „Paul? Bist Du noch bei uns?“

Paul zuckte: „Verzeihung. Witzig: Das hat mich mein Englisch-Lehrer, Herr Dedering, früher auch immer gefragt. ‚Bist Du noch bei uns, Paul?‘ Ja, bin da.“

Ihm fehlten jetzt zwar die letzten drei oder vier Minuten. Oder mehr? Aber das würde er wieder aufholen, wenn er jetzt…

Leni fuhr fort: „Vor dem Hintergrund meiner gerade zusammengefassten Telefonate mit den Rettungssanitätern folgender Vorschlag: Ich werde meinen Klassenkameraden Malte in den nächsten Tagen bitten, uns seine Drohne zu leihen für eine weitere Analyse aus anderer Perspektive.“

Niklas applaudierte: „Gadget-Malte, ja! Sag ihm bitte, er soll seinen Vater mal nach dem alten Detektiv-Clubausweis von 1963 fragen. Wenn ich mich hier so umgucke, muss auch der von Paul noch irgendwo sein.“

Sie waren dem Schneemann auf der Spur. Die Lösung war nur noch ein paar Flocken entfernt.

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