Ich wurde ja hier im Forum an das Buch (auch wenn es kein Buch im materiellen Sinn ist, da nur als pdf verfügbar) von Piero Rossi erinnert und habe dort einige Stellen entdeckt, die mich sehr ansprechen.
Ich zitiere mal zwei Passagen und wüsste gern, ob es anderen hier auch so geht:
"Auch im Beziehungsbereich zeigen sich die negativen Folgen der Mehrkanaligkeit auf das Selbstwertgefühl: ADHS-Betroffene suchen nämlich oft viel Nähe und Halt bei ihren Bezugspersonen. Das Gegenüber soll helfen, die eigene Orientierungslosigkeit zu kompensieren. Das Beziehungsverhalten von Menschen mit einer ADHS erscheint mutet oftmals symbiotisch an: Viele Kinder mit einer ADHS können sich kaum von ihren Müttern trennen. Der Besuch eines Kindergartens stellt für viele von ihnen eine traumatisierende Erfahrung dar. Der Trennungsschmerz ist für sie unerträglich. Alleine zu sein heisst für diese Kinder, die Orientierung und damit sich selbst zu verlieren. Es handelt sich in diesen Fällen also nicht um gewöhnliche Trennungsängste, sondern um Folgen ADHS-bedingter Wahrnehmungsstörungen.
…
Das Herausbilden von Selbstwertgefühl und Ichbewusstsein setzt auch voraus, dass man sich an identitätsstiftende Erlebnisse in der eigenen Biografie erinnern kann. Der Effekt des sich Erinnerns und des Widererkennens ermöglicht es, dass Menschen sich in einem zeitlichen Kontinuum erleben und lokalisieren können und um ihre eigene Geschichte wissen: Es zählen nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit und die Zukunft. Erst das Wissen um diese drei Dimensionen und die daraus resultierenden Gefühle machen Menschen ein Stück weit immun und unabhängig gegenüber den Wirren des Alltags.
Menschen mit ausgeprägten ADHS-Symptomen sind dem gegenüber übermässig stark verhaftet in der Gegenwart. Da ihr Ich-Gefühl aufgrund der starken Stimulusgebundenheit, der Vergesslichkeit sowie der vielen negativen Erfahrungen nur mangelhaft ausgebildet ist, können sich viele ADHS-Betroffene innerlich nicht an ein ausreichend starkes inneres Selbst anlehnen. Sie finden in sich selbst keine Seelennahrung. Die Reizoffenheit beziehungsweise die Mehrkanaligkeit bringen es mit sich, dass für das aktuelle Befinden primär der Augenblick und die Gegenwart zählen. Gefühle von Identität und Selbstbewusstsein bleiben deswegen so instabil, weil sie beinahe täglich neu gebildet werden müssen: Erfolgserlebnisse vermögen kurzfristig die Stimmung zu heben, Enttäuschungen können diese blitzschnell wieder in den Keller sausen lassen."
(Seiten 86 und 87)
Ich war ziemlich getroffen, als ich diese Absätze las. Vor einer Weile hatte ich für mich selbst resümiert, dass ich mich nicht wundern muss, wenn ich kein richtiges Ich-Gefühl habe, wenn ich keine zusammenhängende Vergangenheit habe, weil mein ganzes Leben aus Puzzleteilen zu bestehen scheint, die ich nicht zusammen gesetzt bekomme, sodass ich kein Gesamtbild erhalte (kein lineares Zeitempfinden, Vergangenheit ungeordnet und diffus, Zukunft nicht vorstellbar…) Wenn ich diesen Rossi richtig verstehe, meint er das Gleiche.
Auch das mit dem Orientierung verlieren ohne Bezugsperson finde ich sehr interessant! - ich weiß, dass ich eine Bezugsperson brauche, weil ich sonst das Gefühl habe, in mir verloren zu gehen - er schreibt: „sich selbst verlieren“, aber ich dachte, das hätte noch andere Gründe und ich dachte, ich brauch einfach jemanden, weil ich mich sonst halt sehr einsam fühle. Aber Trennungen von einer Bezugsperson sind bei mir immer sehr schwer, und das, obwohl ich längst nicht mehr im Kindergartenalter bin. Das mit der Orientierungslosigkeit ist für mich eine stimmige Erklärung, da ich mich sehr oft an der anderen Person orientiere, z.B. in der Freizeitgestaltung. Ich hab oft die Entscheidungen den Partner treffen lassen oder hab mich dem Tagesrhythmus etc. angepasst.
Ich würd mich über Austausch zu diesem Thema freuen, erstmal wäre interessant, ob andere hier sich auch in diesen Absätzen wiederfinden. Oder ob andere eher ein starkes Ich-Gefühl haben, wenn ja, woher das kommt oder ob sie es sich in Schwerstarbeit aufgebaut haben… und was auch immer euch so einfällt dazu.
Grüße, Dreamy