Liebe(r) Nelumba_Nucifera – fühl dich in den Arm genommen! Auch wenn es nur virtuell und aus der Ferne ist. Aber ich fühle so unglaublich mit dir. <3
Ich dachte gerade beim Lesen deines Threads, du hättest 1 zu 1 mein Leben wiedergegeben. Die alltäglichen Kämpfe mit der nie enden wollenden To-Do-Liste, die immer länger statt kürzer wird. Das Hinterherhecheln, seit ich denken kann, bei allem, was zu erledigen ist.
Ich weiß nicht, ob es dir hilft, aber mein Therapeut hat mit mir herausgearbeitet, dass ich lernen muss, dieser Gewissenhaftigkeit, die in mir steckt, dem Drang danach, alles erledigen zu müssen, weil ich überall hinterhinke, nicht mehr diese Gewichtung zu geben. Er sagt, dass ADHS eigentlich eine Superkraft ist. Und zwar in den Momenten, in denen man motiviert ist und Sachen macht, die einem liegen oder dann, wenn der Druck groß genug ist und man Dinge in einem Viertel der Zeit erledigt im Vergleich zu „normalen“
Menschen.
Das heißt: Wenn ich mich einfach nicht aufraffen kann, diese oder jene unangenehme Aufgabe zu tun (wenn es um etwas potenziell Verschiebbares wie Wäsche, Bad putzen, Spülmaschine einräumen oder auch E-Mails beantworten geht.
Natürlich keine lebenswichtigen Aufgaben…) oder wenn ich es zeitlich einfach nicht schaffe, sie zu erledigen, weil ich mir zu viel vorgenommen oder die Zeit nicht richtig eingeschätzt habe oder weil ich abgelenkt wurde usw. – dann versuche ich immer mehr, mir zu sagen, dass ich die Zeit JETZT lieber für gute und hilfreiche und sinnvolle Dinge verwende, die mir Spaß machen, die mich oder andere weiterbringen, die meinen Gaben und Interessen entsprechen. Denn dann kann ich nachher, wenn es mir gut/besser geht und ich ausgeglichener und motivierter bin (und der zeitliche Druck vielleicht noch mehr gewachsen ist
) viel schneller die unangenehmen oder schwierigen Aufgaben erledigen.
Und, ja, meistens schaffe ich es trotzdem nicht, meine To-Do-Listen abzuarbeiten (diese Listen FÜR MICH realistischer zu gestalten, ist dann noch eine weitere Herausforderung in der Zukunft
), aber ich mache mich deswegen nicht mehr so fertig. Ich kann irgendwie tatsächlich gelassener rangehen, weil ich weiß: Wenn es WIRKLICH drauf ankommt, schaffe ich es, die Dinge zu erledigen. Und dann in einem BRUCHTEIL der Zeit, die es mich im normalen Alltag gekostet hätte. Plus die Nerven, die ich dabei immer und immer wieder gelassen hätte…
Ganz konkret kann das so aussehen:
Ich wollte vormittags einiges im Haushalt erledigen (ich habe drei Kinder zwischen 2 und 7 Jahren), Wäsche waschen sowie die Spülmaschine aus- und einräumen, das Wohnzimmer aufräumen, kochen und die Schuhe in der Garderobe aufräumen. Außerdem „mal eben“ die Speisekammer „ein wenig“ aufräumen und die Ablage auf der Kücheninsel freiräumen. Saugen wäre eigentlich auch mal wieder gut. Eigentlich realistisch, oder nicht? 
Davon habe ich dann letztendlich vielleicht nur geschafft, zu kochen und die Spülmaschine halb auszuräumen (weil dann der Kleine auf den Boden gepinkelt hat und darin ausgerutscht ist, woraufhin ich ihn gebadet habe, Im Bad gesehen habe, dass das Bidet geputzt werden müsste, beim Suchen nach dem Reiniger festgestellt habe, dass er fast leer ist, beim Aufschreiben auf die Einkaufsliste (auf meinem Handy) durch eine einkommende WhatsApp-Nachricht abgelenkt wurde, dann eine Benachrichtung von Ebay Kleinanzeigen bekam, dass ein gesuchter Artikel von mir eingestellt wurde, woraufhin ich mich im Web informiert habe, was die besten Taucherbrillen für Kinder sind, dann klingelt der Postbote, ich gehe raus, sehe, dass die ganzen Fahrzeuge der Kinder durcheinander neben der Haustür liegen, und sortiere Laufräder, Bobbycars und Co, als plötzlich die Nachbarin mit dem Hund vorbeikommt und mir von den Problemen mit ihrer Tochter erzählt usw…).
Auf einmal ist es schon Mittag, die Große kommt aus der Schule, die Mittlere muss aus dem Kindergarten abgeholt werden und der Kleine ins Bett zum Mittagsschlaf gebracht werden – und schon ist der Vormittag vorbei und fast nichts von meiner To-Do-Liste erledigt.
Früher hätte ich jetzt den ganzen Nachmittag versucht, meinen Plan vom Vormittag noch zu vollenden. Obwohl alle Kinder um mich rumspringen und ich mit jeder Minute, in der ich meine Sachen nicht erledigt bekomme, gereizter und ungeduldiger werde, die Kinder unausgeglichener und lauter werden und der Tag darin endet, dass wir uns abends alle genervt und müde anschreien, bis die Kinder im Bett landen und ich fix und fertig bei ihnen einschlafe.
Am nächsten Tag: Copy and repeat.
Jetzt versuche ich immer mehr, mir einzugestehen: Ja, lief doof heute früh. Aber sei mal ehrlich, die Wahrscheinlichkeit, dass du das heute Nachmittag WIRKLICH hinkriegst ist sehr gering. Und das Opfer das du dafür machen musst, ist die gute Laune aller Beteiligten. Außerdem die Beziehung zu deinen Kindern und deine eigene seelische Gesundheit!
Stattdessen versuche ich immer mehr, an meine „Superkräfte“ zu denken in diesen Momenten. Was kann ich gut? Was sind meine Stärken (und das mögen bei dir ganz andere Sachen sein)? Bei mir zum Beispiel: Einfach die Kinder schnappen und mit ihnen einen Ausflug machen, vllt noch zusammen mit ihren Freunden oder Cousins/Cousinen, ne Fahrradtour machen oder aufs Erdbeerfeld gehen oder etwas zusammen basteln, gemütlich auf der Couch sitzen und vorlesen, im Wohnzimmer musizieren und tanzen, auf den Spielplatz gehen, in die Eisdiele oder was auch immer…
Früher hätte ich gedacht, das sei ja faul und ich würde meinen Aufgaben aus dem Weg gehen. Jetzt weiß ich: Nein! Ich mache gerade etwas extrem Wertvolles! Ich verbringe Zeit mit meinen Kindern, ich präge sie, ich zeige ihnen, wie wichtig sie mir sind, indem ich Zeit mit ihnen verbringe, Spaß mit ihnen habe, ihnen Dinge beibringe, die ich kann (Musik) oder die mir wichtig sind. Daraus schöpfe ich selbst dann Kraft, kann viel geduldiger mit den kleinen Spätzen umgehen und abends habe ich viel mehr Kraft, weil der größte Kraft-Zehrer für mich die Streitereien und Kämpfe mit den Kindern tagsüber sind. Machen wir aber schöne Dinge zusammen und ich kann mich ihnen widmen, ohne ständig sagen zu müssen: „Räumt jetzt auf! Seid leise. Hört auf zu streiten. Die Mama kann jetzt nicht. Ich muss noch … machen.“, bin ich abends vllt körperlich müder, insgesamt viel ausgeglichener und zufriedner und viel weniger erschöpft allgemein. Und abends, wenn die Kinder im Bett sind, habe ich tatsächlich viel eher noch Kraft, die Dinge nachzuholen, die tagsüber liegengeblieben sind. Und ohne Kinder und ohne den inneren Stress fällt es mir dann viel leichter und ich kann es viel schneller erledigen.
Und sollte ich DOCH wieder bei den Kindern einschlafen, denke ich mir: Macht nichts, morgen ist ein neuer Tag. Zack. Fertig. Wertung rausnehmen. Selbst-Beschuldigungen ausschalten. Ich bin nicht faul. Ich bin nicht dumm. Ich brauche für alles etwas länger, ja, aber dafür bin ich super im Kinder-Bespaßen und ähnlichem. 
Ich bin da definitiv noch nicht am Ende der Fahnenstange angelangt, aber auf jeden Fall merke ich tatsächlich, dass ich auf diese Weise ein viel entspannteres und gesünderes Leben lebe. Ich bin nicht mehr so getrieben innerlich. Mein Therapeut fragte mich auch, wer – außer mir – denn in meinem aktuellen Leben Druck auf mich ausüben würde, dass all diese oder jene Dinge erledigt sein müssten. Meine ehrliche Antwort: eigentlich niemand außer mir selbst.
Mein Mann meinte immer: Ihn stört es nicht wirklich, wenn ich es nicht geschafft habe, die Wäsche wegzuräumen oder die Spülmaschine abends noch nicht ausgeräumt ist. Aber WAS ihn stört, ist meine schlechte Laune darüber, dass ich mal wieder versagt habe, dass ich es mal wieder nicht geschafft habe, die Sachen zu erledigen, die schlechte Laune, die ich dann leider meist auch an ihm und den Kindern rausgelassen habe.
So bin ich jetzt insgesamt ausgeglichener und zufriedener, auch wenn es manchmal in der Wohnung noch ein bisschen chaotischer ist. Aber außer mir scheint das tatsächlich niemanden zu stören… 
Ich wünsch dir viel innere Gelassenheit und dass du auch entdeckst, was deine Superkräfte sind und wie du sie so einsetzen kannst, dass dein Leben schöner wird und du entspannter und zufriedener. Sei nicht traurig über das, was du nicht schaffst, sondern versuche a) darauf zu sehen, WAS du geschafft hast, TROTZ deiner ADHS! Und b) wie du deinen Alltag mit Dingen, die dir wichtig sind und dir gut tun, bereichern könntest. Vielleicht bist du gut darin, andere Leute zu besuchen oder sie mit schönen Karten/lieben Worten oder Geschenken aufzubauen? Vielleicht kannst du toll Fahrräder reparieren und die Nachbarn sind superdankbar, wenn du ihnen hilfst? Oder du singst gern und suchst dir nach vielen Jahren endlich mal wieder einen Chor, in dem du mitsingen kannst? Oder, oder, oder…
Was auch immer es ist, ich wünsch dir von Herzen, dass die Momente der Traurigkeit und Enttäuschung über das Nichterledigte weniger werden und du immer mehr positive Erlebnisse hast mit den Dingen, die dir liegen, deinen „Superkräften“. 
Alles Gute dir!