Hello!
Ich, w27, war schon sehr lange als Gast hier aktiv und habe das Forum förmlich verschlungen.
Ich möchte hier etwas (oder viel) schreiben, um anderen die Angst der Diagnostik zu nehmen und auch, um es für mich als kleines „Tagebuch“ aufzuschreiben. Ich habe keinen in meinem Umfeld, der SO RICHTIG nachvollziehen kann, wie sich das anfühlt und empfand den Umgang im Forum immer so wholesome.
Ich bin auch nicht böse, wenn ihr nicht alles lest. Das muss einfach mal raus und ich versuche es in einzelne Bereich zu unterteilen
Meine Vorgeschichte
Mit 14 oder 15 war ich bei einer Jugend- und Erziehungsberatungsstelle, weil ich mit dem Druck der anstehenden Prüfungen nicht klar kam. Mir wurde da direkt eine Angststörung diagnostiziert. (Wobei ich später erfahren habe, dass die gar keine Diagnosen stellen dürfen). 1-2 Jahre später wurden auch noch leichte rezidivierende Depressionen vom Hausarzt diagnostiziert und ich bekam meine ersten Antidepressiva.
Ich habe etliche verschiedene Therapien gemacht, leider ohne wirkliche Besserung meiner Symptomatik. Ich weiß im Nachhinein auch, dass ich meiner letzten Therapeutin (2020-2021) so oft von Problemen bei der Konzentration (z.B. das Gefühl, dass beim Kartoffelschälen mein Kopf kribbelt und ich es kaum aushalte zu schälen, usw.) und sehr vielen weiteren Symptomen geschildert habe.
Der Verdacht
Auch wenn es oft verteufelt wird bekam ich den ersten Hint Anfang 2022 über Social Media.
Ich habe durch Reels auf Instagram gelernt, was ADHS wirklich ist und, dass es das auch bei Erwachsenen gibt. Bis dahin hatte ich das GAR NICHT auf dem Schirm. Ich dachte ADHS gäbe es nur bei Kindern und es ist so, dass man Aufmerksamkeit will (und nicht, dass man Probleme damit hat Aufmerksam zu sein).
Ich habe mich in vielen Videos wiedererkannt, aber habe natürlich nicht direkt gedacht, dass es das ist. Ich habe aber angefangen mich intensiv mit dem Thema zu beschäftigen. Ich habe sehr viele Bücher und Foren gelesen. Ich habe unterschiedliche Tests gemacht und Bücher dazu ausgefüllt. Ich habe meine Zeugnisse gelesen und mir mit dem neuen Wissen gedacht, dass das so offensichtlich ist.
Mein Verdacht wurde immer stärker und dennoch bin ich erst im September 2023 zum Arzt gegangen.
Warum? Ich hatte keine Lust auf das Diagnose-Verfahren, auf lange Wartezeiten, mich um einen Platz zu kümmern, etliche Therapeuten anzurufen und und und. Und vor allem hatte ich Angst, nicht ernst genommen und gleich abgetan zu werden, weil ich wirklich so viel darüber gelesen habe. Außerdem hatte ich ein schlechtes Gewissen überhaupt den Verdacht zu haben ADHS zu haben.
Mein Arzttermin
Im Herbst 2023 war ich dann also bei meinem Arzt und habe den Verdacht unter Herzklopfen angesprochen und dass ich das gerne zur Sicherheit überprüfen lassen möchte. Dass Depressionen und Angststörung Komorbiditäten sein können und es vielleicht hilfreich wäre zu wissen, was die Ursache ist, damit man diese behandeln kann. Mein Arzt hat erwähnt, dass das Thema immer mehr Beachtung bekommt und mir eine Überweisung ausgehändigt. Ich hatte nach dem Termin richtige Glückgefühle bis mich die Realität einholte und ich mich um eine Diagnostik kümmern musste.
Die Suche nach einem Therapeuten
Ich begann relativ zeitnah zu recherchieren, wer in meiner Umgebung eine ADHS-Diagnostik anbietet, da es wirklich ziemlich überschaubar war. Leider haben die meisten Therapeuten nur einen Zeitraum von 1-2 Tagen und 30-60 min pro Woche, wo man für den Termin eines Erstgesprächs anrufen muss. 3x dürft ihr raten, wer den Zeitraum ständig verpasst hat, auch wenn ich mir einen Wecker gestellt habe. Und wenn ich dann mal dran gedacht habe, war das Telefon besetzt oder die Sprechstunden verschoben. Es war wirklich frustrierend. Irgendwann hatte ich einen Therapeuten erreicht, der mir mitteilte, dass er leider keinen Platz hat und ich Ende Dezember/Anfang Januar nochmal anrufen solle. 3x dürft ihr raten, wer es vergessen hat… Panisch rief ich also Mitte Januar an und hatte Angst, dass der Platz vielleicht schon weg ist. Er war auch noch voll, hatte mich aber dazwischen gequetscht. Da ich das mit meiner Arbeit geregelt bekomme, bin ich da relativ flexibel. Eine Woche später hatte ich also meinen ersten Termin!
Meine Diagnostik
7 Sitzungen (1x pro Woche), ca 10h
- allgemeine Sprechstunde: Wieso bin ich da? Usw.
- seeeehr viele verschiedene Fragebögen zu ADHS und anderen psychischen Krankheiten (Depressionen, Essstörung, Angst, usw.) als Hausaufgabe
- Gespräche über Kindheit/Jugend und Heute
- Fragebögen
- Zeugnisse
- Gespräch mit meinem Partner
- Gespräch mit meiner Mama
7 Sitzungen hat die Krankenkasse übernommen, jedoch musste ich etwas nachzahlen, da wir bei den Sitzungen mit Mama und meinem Partner überzogen haben. Aber das ist absolut akzeptabel.
Ich war bei der Diagnose auch oft aufgeregt und habe mir Gedanken darüber gemacht, dass es vielleicht doch kein ADHS ist, obwohl mir das so viel Erklärung gegeben hätte. Da ich auch sehr oft davon gehört/gelesen habe, dass einige mehrere Anläufe brauchten, war ich unsicher, ob mein Therapeut mir zu hört und ob ich da mehrmals durch muss.
Und Tatsache. Er hat gesagt, dass er es Schade findet, dass ich nie richtig angeguckt wurde und hat mich immer in allem bestätigt.
Beispielsweise hat er mich gefragt, ob ich mich als Kind oft verletzt habe. Oh ja, das habe ich. Etliche Brüche, Schürfwunden, meine Milchzähne durch Hinfallen ausgeschlagen, usw. Was war meine Antwort? „Aber verletzen sich nicht alle Kinder? Fallen nicht alle Kinder hin?“ … keine Ahnung, warum ich so selbstzerstörerisch war. Ich wollte doch die Diagnose und Sicherheit. Warum sag ich sowas? Ich war mir aber wirklich nicht bewusst, dass das eben nicht normal ist und hab mich dann in meinem Umkreis auch umgehört. Ich war mir bei vielem einfach nicht bewusst, was denn normal und nicht normal ist. Weil für mich war das eben SO normal. Auch wenn es mich belastet.
Auch wenn ich mir davor und auch nach jedem Gespräch Dinge aufgeschrieben habe, die mir noch aufgefallen sind, habe ich die nie angesprochen. Ich wollte nicht am Zettel kleben und hab einfach drauf los geredet. Auch wenn ich mich danach geärgert habe.
Das Gespräch mit meiner Mama war das einzige Gespräch, was ich nicht toll fand.
Aber das lag an meiner Mama. Mein Therapeut hat das Gespräch nach dem ersten Teil abgebrochen. Auch wenn sie immer erwähnt hat, dass ich zappelig bin, nicht still sitzen konnte und ein furchtbar anstrengendes Kind war, hat sie einfach keine Aussagen zum Thema Unaufmerksamkeit machen können. Weil sie das eben nicht mitbekommen hat. Sie hat nur das mitbekommen, was sie selbst genervt hat. Dass ich ein Zappelphillip war hat sie zum Beispiel auch auf mein Sternzeichen geschoben. Sie hat halt einfach keinen Blick dafür. So gar nicht. Als ich ihr heute erzählt habe, dass ich ADHS habe und es nun Offiziell ist, hat sie mit „Das tut mir Leid“ geantwortet.
Auch wenn ich nur teilweise Erinnerungen an meine Kindheit habe, konnte ich viel durch Erzählungen erzählen und in meinem Zeugnis finden sich, ich zitiere: „eindeutige Hinweise auf eine juvenile ADHS-Symptomatik“
In meinem Zeugnis zieht sich von der 1. bis zur 7. Klasse die Aussage, dass ich unkonzentriert und oberflächlich arbeite. Ab der 8. Klasse gelang es mir „mit Aufmerksamkeit und Fleiß Schwierigkeiten in den naturwissenschaftlichen Fächern zu überwinden“ … Zu dem Zeitpunkt fingen meine Angststörung/Depressionen an. Zufall?
Das Ergebnis
Bei meiner letzten Sitzung hat mir der Therapeut erzählt, dass er sich nochmal alles genau ansieht, zusammenfasst und mir in einigen Wochen ein Gutachten zusendet. Das war noch kein offizielles: Du hast ADHS. Ich musste also warten.
Ich habe mit 6-8 Wochen gerechnet und dennoch täglich erwartungsvoll am Briefkasten geschaut. 5,5 Wochen nach meiner letzten Sitzung habe ich mein Gutachten erhalten:
ADHS, kombinierter Typ
In dem 4-seitigen Gutachten steht viel Zeug zur Diagnostik, das Ergebnis und eine Empfehlung (Therapie und Methylphenidat wird erwogen).
Ich war SO erleichtert, dass ich jetzt eine Erklärung für so viele Dinge habe und mich in vielen Dingen besser verstehen kann. Dass das Kind jetzt einen Namen hat.
Dennoch fällt es mir aktuell noch schwer zu realisieren, dass ich es jetzt schwarz auf weiß habe und es fühlt sich so Unecht an.
Was jetzt?
Ich werde mir nun einen Termin bei meinem Hausarzt machen und alles Weitere besprechen. Auf jeden Fall will ich eine Therapie machen.
Wenn möglich möchte ich es erstmal ohne weitere Medikamente probieren (aktuell nehme ich noch Escitalopram 5mg). Vielleicht tritt für mich ja schon eine Besserung ein, wenn ich weiß, warum ich so bin und handele. Vielleicht habe ich mehr Verständnis für mich selbst und kann mich akzeptieren. Auch wenn das Thema Konzentration, Organisation, usw. dadurch vermutlich nicht „verschwindet“.
Ehrlich gesagt habe ich auch bisschen Angst vor neuen Medikamenten. Hatte ich schon immer. Besonders schlimm ist es für mich, weil BTM so krass klingt.
Der Text hat jetzt meinen Erwartungen übertroffen. Eigentlich sollte das gar nicht so viel werden und doch habe ich so viel mehr zu sagen. Sooooooorry!
Liebe Grüße und schönen Abend,
Melly