Mentoring? Bzw. Was ist eigentlich normal?

Hallo liebes Forum,
ich habe in den letzten Tagen die Tendenz gespürt, dass sich aus meinem altbekannten ‚ich kann gar nix, zu blöd für alles‘ Gefühl eine neue Facette herausbildet, die sich tatsächlich so anfühlt, als könnte sie konstruktiv werden. Dass das was ich als normal emfpinde nicht unbedingt was mit der Normalität des Durchschnittsbürgers zu tun hat, ist mir in einzelnen Fällen schon seit einer Weile bewusst geworden, besonders immer wieder in Gesprächen mit meinem Mann.
Angefangen hat es mit „wie, es ist nicht normal, beim Toilettengang Sternchen zu sehen vor Anstrengung?“ Was für ‚normal‘ ist denn noch alles Mumpitz der mir hauptsächlich dazu „hilft“ mich selbst ins Bockshorn zu jagen…

Dass diese merkwürdige normalität zumindest zum Teil daran liegt, dass schon meine Mutter ähnlich wie ich Zeit Ihres (mindestens meines) Lebens mit ADHS und Überlastungsdepressionen kämpft und so mein ‚normal‘ nie normal normal sein konnte kann ich in der letzten Zeit anfangen zu verstehen, auch dass meine kindlichen Weltendeckungen dadurch quasi einen schiefen Filter hatten, und den würde ich gerne anfangen zu lüften.

Ich wünsche mir eine Ersatz-Elternperson, eine Mentorin, jemand „normales“, d.h. nicht mit meiner familien-normalität belastetes, dem ich meine ‚ist das normal?‘ Fragen stellen kann, ohne ihn völlig zu versunsichern, aber um einen andern Blick drauf zu kriegen. Damit ich anders verorten kann, was von dem was da alles in mir brodelt und sich bekannt/normal oder schlimm bis schrecklich anfühlt tatsächlich ‚so ist‘ und man es halt aushalten muss, und was tatsächlich einen Blick nach möglichen Verbesserungen lohnt.

so wie: ist es eigentlich normal, dass man drei verschiedene Tinnitus auseinanderhalten kann, und zum teil gleichzeitig ‚hört‘? Ich habe meinen Eltern in der Gymnasialzeit lange gelaubt, dass das normal sei, wenns in den Ohren pfeift. nur haben sie damals das Ausmaß nicht erkannt und es wäre eben nicht normal gewesen, in der Lautstärke.

Vor lauter Erklärung schreiben fällt mir jetzt die akute Frage von heute früh nicht mehr ein… aber kennt ihr diese Verschiebung vom Gefühl, von ‚ich bin anders aber warum eigentlich, ich will so gerne normal sein‘ an ‚was ist eigentlich dieses normal‘ vorbei zu ‚was von meinem normal ist eigentlich quatsch?‘

Danke euch

1 „Gefällt mir“

Ich gehe manchmal davon aus, dass etwas allgemein als „normal“ wahrgenommen wird. Solange dies so ist, würde ich jedoch gar nicht auf die Idee kommen das es anders sein könnte und eben auch nicht fragen.

Letztens hatte ich mir hier im Forum „normale“ Emojis gewünscht. Erst durch die Diskussion hatte ich verstanden - das mein „normal“ da nicht für alle gilt und war überrascht. Bescheuertes Beispiel - hat mir aber mal wieder gezeigt, dass es viele verschiedene „normals“ gibt :sweat_smile:

1 „Gefällt mir“

Mir ist schon lange bewusst gewesen, dass es viele unterschiedliche Definitionen von „normal“ gibt.

Das kann sich auf viele dinge beziehen. Sei es nur für emojis, oder darum, wie man „normal“ wäsche faltet.
Ich machs anders als meine mutter, für sie ist das unnormal, für mich normal.

In deinem bezug möchte ich das aber nochmal etwas anders betonen. Es gibt normales an schnittmengen, die quasi umgeschrieben allgemeingültig sind und in unserer kultur/gesellschaft verankert sind. Normen und Werte. Die sind zwar in familienkonstellationen immer mal wieder etwas anders, haben aber im großen und ganzen eine gleichbleibende Bedeutung/schnittmenge.
Zb. In sehr vielen deutschen haushalten ist es in der deutschen kultur relativ normal abends abendbrot zu essen. Einige Familien wandeln es etwas ab und haben rührei dazu. Manche essen lieber brötchen, statt graubrot. Manche bieten keine wurst an.
Im großen und ganzen ist es aber die gleiche Bedeutung für diese kulturelle norm.

So… wenn das die norm ist, gibt es daher sicherlich ein paar, die abweichend der norm sind.
Zb. Abends wird warm gegessen. Das ist kulturell unüblich. Für die, die das abends machen ist das normal. Andere, die das nicht machen und das sehen, empfinden das als nicht normal.
Dann kommt es zum Konflikt der selbst festgelegten normen. Weil du dann siehst, deine norm ist nicht allgemeingültig, dafür eher individuell für dich richtig.

Das normal anderer als normal richtig anzusehen ist zwar okay. Dein normal ist aber dafür nicht weniger falsch. Daher akzeptiere ich halt einfach, dass mein normal nicht das normal anderer ist. Und das ist ok so.

Was den Tinnitus angeht. Das sind gesundheitliche sachen. Dinge die nicht der norm hierbei entsprechen, können durchaus nicht gut sein.
Ja, man kann mehrere tinniti zur gleichen Zeit haben und gleichzeitig wahrnehmen, aber hier würde ich tatsächlich sagen, das ist tatsächlich nicht normal und sogar bis zu nem gewissen Grad schädlich für die Gesundheit.

Ich hoffe, das lichtet ein bisschen deine Empfindungen?

Ich kenne das sehr gut. Eigentlich habe ich schon als Kind nur einfach normal sein wollen. Mir wurde immer irgendwie signalisiert, dass ich anders bin und meistens hat da „anders ist falsch“ durchgeklungen.

Ich weiß eigentlich erst seit ein paar Jahren, dass ich oft eine komplett andere Wahrnehmung habe… meine Synästhesie zum Beispiel, ich dachte, das hat jeder… oder dass ich bei Musik jedes Instrument einzeln höre und andere hören von Anfang an das Musikstück als ganzes… oder Gespräche um mich herum, an denen ich gar nicht beteiligt war, denen ich ohne zuzuhören, bequem folgen konnte und natürlich oft angeeckt bin, wenn ich plötzlich was dazu gesagt habe… Oder Druckfehler in Büchern… die springen mich an, leuchten regelrecht aus dem Text hervor… usw. usw.

Den Wunsch kann ich gut verstehen. Ich wünsche dir aber, dass er sich nicht erfüllt. Ich glaube, dass für uns „normal“ einfach nicht zu verstehen ist und mich, ehrlich gesagt, hat es immer frustriert, wenn ich dann irgendwann mal Antworten hatte, die haben mich eher noch mehr verwirrt…

„Wie jetzt? So ist es normal? Echt jetzt? Nein Danke.“

1 „Gefällt mir“

Wie schön! Gib mir Bescheid, wenn du so jemanden gefunden hast! Wird eine einmalige Rarität sein.

Leider kann ich dir nicht helfen. Denn seit meiner Kindheit denke ich über „normal“ nach. Allerdings fand ich mich zwar durchaus anders, aber das war OK und ich fand das auch ganz gut so, denn: Für mich war es normal, nicht normal zu sein.

Das bekam nun mit der Diagnose vor gut einem halben Jahr eine neue Dimension. Inzwischen denke ich anders darüber. Aber das ist nicht dein Thema hier.

Mein Vater verschwand aus meinem Leben, als ich 13 war. Weitere Familienmitglieder waren mir nicht zugänglich. Oder ich ihnen. Was schlussendlich egal ist. Doch ich habe mir immer wieder mal gewünscht: Einen Mentor, eine Mentorin. Das ist schwierig, weil ich da auch Ansprüche habe. „Normal“ gehörte nicht dazu, aber Fachwissen, Moral/Ethik, Füsse-auf-dem-Boden, Stabilität (ich darf nicht befürchten müssen, jemanden mit Fragen selbst in Zweifel zu bringen).

Ich kann deinen Wunsch nach einer Mentorin (muss es eine Frau sein?) nachvollziehen.

Das kenne ich nicht. Ich will verstehen. Die Menschen, die ich als „normal“ betrachte, sind mir zuwenig neugierig, stellen zu wenig Fragen, nehmen zu viel als Gegeben hin, sind mir zu konventionell, vielleicht auch etwas zu eindimensional. Ja, das kann überheblich klingen, ich weiss. Aber das ist es nicht. Ich - oder sie - sind einfach anders.

Was mich am meisten beschäftigte über lange Zeit (und es noch immer tut) ist, dass ich zu gewissen Menschen schlicht keinen Zugang habe. Z.B. der einfache Büezer (ja, Klischee, klar, damit lässt es sich aber verdeutlichen) mit Interessen an Bier, TV, Fussball, Autos und an Frauen einfach nur super Aussehen und Ficken - ich versteh es nicht, wirklich einfach nichts davon, kann es nicht einordnen, nicht nachvollziehen, nichts.

Ich lese oft Publikationen zum Thema, Artikel aus der Psychologie, das hilft einzuordnen. Und ich habe begonnen, mit anderen Menschen direkt zu solchen Fragen auszutauschen. Statt einem Mentor oder einer Mentorin habe ich nun 10 Mentörchen. Das funktioniert schon mal ganz gut (dank MPH kann ich überhaupt wieder mit Leuten vertieft ins Gespräch kommen). Und ich bin erstaunt, wie gerne andere mit mir über vermeintlich Selbstverständliches reden.

Viel Spass dabei!
Felixyz

1 „Gefällt mir“

Danke dafür. Und wieso lügen alle andauernd bei dem kleinsten Anlass, wo man doch mit der Wahrheit viel weniger Aufwand hätte? Und wieso soll ich mich anpassen, wer will denn so sein?

1 „Gefällt mir“

Das ist ein Satz, der an die Wand gehängt gehört…

Hilf mir bitte kurz, ich bin jetzt nicht sicher, worauf du dich beziehst. Wer ist „alle“? Worin bestehen die Lügen?

Kontextlosigkeit ist meine besondere Begabung. Sorry. :melting_face:
Du hast es unter konventionell eigentlich schon mitgedacht: dieses normierte Sozialverhalten, das für mich zu für mich zu 99% daraus zu bestehen scheint, dass man sich gegenseitig irgendwas vormacht oder Dinge tut, weil man sie eben tut und schon immer getan hat.
Ich bremse mich an dieser Stelle, sonst schimpfe ich noch gegen Feiertage. :wink:

Für diese Leute sind das keine Lügen, es sind für sie sinnvolle Konventionen, Traditionen, sozio-gesellschaftlicher Kitt, der das Zusammenleben strukturiert und vereinfacht, verbindlich wirkt und Sicherheit bietet.

Normen haben nicht nur in der Technik ihre Berechtigung.

Das weiß ich, ich verstehe es nur einfach nicht. :slight_smile:

1 „Gefällt mir“

Oh, DAS verstehe ich.

:crazy_face:

2 „Gefällt mir“

Hey @powercaro
Spannendes Thema!

Was ist normal? Hm, von der Ableitung des Wortes her (normalis=der Norm entsprechend) könnte man fragen: was ist die Norm?
Und die ist je nach Bereich, Kultur, Nationalität durchaus unterschiedlich.

Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass ich privat im Familien- und Freundeskreis als „normal“ gesehen werde, also niemand grenzt mich aus oder lässt mich spüren, dass ich unnormal oder defizitär bin. So wie ich bin, passt es :slight_smile:

Anders im Job: da weiss niemand von Adhs, die Kollegen erleben mich aber manchmal unkonzentriert, wenn ich wieder etwas verlegt oder vergessen habe usw . Das ist mit Medikamenten sehr viel besser, je nach Tagesform kommt es aber natürlich durch.

Und genau da ist es nicht normal. Im beruflichen Umfeld gibt es einen gewissen Rahmen, eine Norm, den die anderen in meiner Wahrnehmung besser erfüllen.

Und jetzt kommts: auch das ist subjektiv! Mein Chef und meine Mitarbeiter sind sehr zufrieden und lieben meine Begeisterungsfähigkeit und Energie, Power, die Empathie und den Kampfgeist. Meine Kollegen allerdings sind manchmal genervt weil ich etwas vergessen habe oder im Online Termin abgelenkt war und sie es 2x sagen müssen.

Unterm Strich würde ich sagen: ich bin normal mit adhs bedingten charmanten Ecken umd Kanten, die mir bewusst sind und die ich korrigieren kann … wenn ich will!

Meine Leitplanke sind Situationen bei denen ich geschusselt habe, daraus lerne ich.

Und was „normal“ ist wird ja von Menschen definiert. Und wer sagt, dass diese Menschen wissen was Normal ist? Da kommen wir schon ins philosophische :smile:

Schönen Abend wünsche ich dir :slightly_smiling_face:

Ich fahre euch für eure tollen Antworten. So viele so unterschiedliche Ansätze an die ich nicht gedacht habe. Ich glaube ich wüsste gerne was denn normal ist als Ziel, als so ist es gut genug einerseits, als eine Marke wenn ich die erreicht habe darf ich mit dem Minderwertigkeitsgefühlen aufhören. Andererseits war dies Frage ganz anders gedacht, mehr vom 'mir wurde früher als normal beigebracht X und ich habe mich damals vielleicht aus Unkenntnis, Kindheit, Abhängigkeit was auch immer davon überzeugen lassen, aber das war die schnelle nicht so schlimm stell dich nicht an Erklärung einer überforderten depressiven Mutter an ihr Aufmerksamkeitsbedürftiges eins von vier Kindern und eben eigentlich gar nicht normal/gesundes verhalten. Dass es ganz normal ist und sich alle Kinder Mal so fühlen dass sie nicht dazu gehören. Aber dass zwischen dem normalen Maß und der rückblickenden Aussage „die haben dich das ganze Gymnasium lang gekonnt bis aufs Blut“ vielleicht doch ein Unterschied liegt hätte mir glaub viel Leid ersparen können hätte ich oder sie oder jemand das früher anders erkannt. Und jetzt zweifele ich wieder einmal alle grundlegenden Kenntnisse und vermeintliche Tatsachen an und… Ja… Es ist Nacht, alles schläft außer ich die vor Erschöpfung direkt in den Abgrund gerauscht ist. Urlaub ist so anstrengend. ich will nicht mehr. :dotted_line_face:

1 „Gefällt mir“

Als ich zur Diagnostik ging, wurde ich gefragt, warum - also im Sinne von, was ich mir erhoffe.
Meine Antwort war, dass ich besser einschätzen können möchte, wer/wie ich bin. Also was muss ich an mir akzeptieren und an welchen Stellen gibt es Potential für Veränderung.

Ich habe durchaus gewusst, welches Verhalten von mir erwartet wurde, aber ich wusste nicht, ob ich da jetzt nen Sockenschuss habe oder ob die Gesellschaft da einfach den totalen Knacks hat.
Stichwort starker Gerechtigkeitssinn.

Aber auch die Normalität eines „deutschen Haushaltes“ - das ist genauso verzerrt, wie die Schönheitsideale der Modeindustrie. Das soll nicht bedeuten, dass es nicht Menschen gibt, die tatsächlich so ordentlich sind, wie die meisten vorgeben zu sein (genauso wie es Menschen gibt, die einfach mega schlank sind), aber die meisten geben vor etwas zu sein, was sie nicht sind, und schämen sich gleichzeitig zu Tode.

Oder nehmen wir Konfliktbewältigungsstrategien… Wie viele Erwachsene Menschen kennt ihr, die tatsächlich ruhig bleiben und an einer gemeinsamen Lösung interessiert sind?

Sollen wir mit Kindererziehung weitermachen? Die ganzen normalen „Erziehungsratgeber“ sind Bücher über Konditionierung durch Strafen…

Und dann kommt noch dazu, dass Menschen dermaßen unterschiedlich sind, dass wir tatsächlich von unterschiedlichen Planeten kommen könnten - und zwar auch ohne Neurodivergenz…

Aber, ich glaube, dass was du meinst, ist das, was ich mit meiner besten Freundin habe… Eine urteilsfreie Zone… In der man Fragen stellen kann, die man sich nirgendwo anders traut zu stellen… Das Problem ist, dass es kaum möglich ist, jemanden zu finden, der alle Fragen beantwortet kann… Alleine deshalb, weil jeder Mensch seine eigenen Macken hat… Frag mal in einer Selbsthilfegruppe für Tinitus-Patienten, ob das mit den dtei verschiedenen normal ist… Für sie ist es „normal“ im Sinne von alltäglich. Und es gibt so viele Dinge, über die niemand spricht, so dass eigentlich die „Normalität“ im Dialog sich nur über „kenn ich/kenn ich nicht“ definieren lässt… Außer du hast da so ein wandelndes Lexikon…

Über vieles wirst du nur zufällig stolpern…
Ich mit 25: wie, es ist nicht normal jede Nacht mindestens einmal auf Klo zu gehen? Ich mache das Zeit meines Lebens… Mein Kind macht das, seit es windelfrei ist…
Durchschlafen gibt es wirklich?!
Ich mit 34 (als ich erstmals noise-canceling-Kopfhörer getragen habe): wie, man spürt die Schwingungen von Waschmaschine oder der Stimme meines Gegenübers nicht wirklich mit seinem Körper?!
Es gibt einfach Dinge, die man einfach gar nicht in Frage stellt, wenn man nicht weiß, dass es ein „anders“ gibt…

1 „Gefällt mir“

Sicher?
Vielleicht bin ich biased in der Selektion.
Aber alle Ratgeber, die ich bisher gelesen habe und auch die Elternzeitschriften machen das überhaupt nicht, im Gegenteil.

Ja genau das meine ich!