Schüler, der im Unterricht extrem fokussiert wirkt und als konzentriert wahrgenommen wird - trotzdem ADHS möglich oder Ausschlusskriterium?

Es ist mir etwas peinlich, da ich hier Kind für Kind durchgehe aber ich habe halt vier an der Zahl und drei davon sind irgendwie neurodivers :sweat_smile:

Mein Großer, 13 Jahre, war ein Schreikind in der Babyzeit, extrem Strukturabhängig, was Schlafens- und Esszeiten anging, merkte selbst nie, dass er müde ist, Hunger, Durst hat usw bis ins ältere Kinderalter hinein - trägt bis heute im Winter T-Shirt und im Sommer Winterjacke (ok, momentan seine dicke Herbstweste wegen der Tasche :smile:)
Seit Einschulung chronische Kopfschmerzen, Psychiaterin hat nichts wirklich gefunden, hoher aber nicht hochbegabter IQ, „Anpassungsstörungen“ erwähnt, „autistische Züge“ aber nicht genug für Spektrum, hatte auch immer soziale Kontakte usw, obwohl er doch sehr verkopft wirkt und ich schon das Gefühl hatte, dass er soziale Verhaltensweisen genau erklärt bekommen musste und dann quasi „auswendig gelernt hat“ (z.B. Jemanden kurz angucken bei Begrüßung“)

Nun sind zwei seiner Geschwister wahrscheinlich (nach Anamnese und Gesprächen von Psychiaterin so eingestuft) von ADHS betroffen, ich nach den Tests hier sogar recht hochgradig…
Er ist allerdings sehr konzentriert. Z.B. wenn ich mit den Kindern mit der Bahn verreise ist er der Jenige, der uns darauf hinweist, dass wir unsere Taschen nehmen sollten, da der Zug gleich einfährt, also das hat er mit 10 Jahren schon gemacht, wo ich mir dachte, ohgottohgott, gut, dass mein Kind das managed, ich hätte in der letzten Minute alles geschnappt und womöglich was liegen lassen :sweat_smile: Er kann mir sogen, wo ich lang fahren muss, wenn ich mich mal wieder verfahren habe… in der Schule schreibt er gute Noten, wenn er anwesend war und im Unterricht hat alles besprochen wurde (und es nicht gerade ein Thema ist, was zuhause auswendig gelernt werden muss), also er ist dort sehr konzentriert; sie haben jetzt Tablets seit der 7. Klasse. Sein bester Freund, den ich so einstufen würde wie mich, total verpeilt, zockt während des Unterrichts oder schaut YouTube. Mein Sohn lehnt das total ab.
Also eigentlich das totale Gegenteil von ADHS.
Andererseits ist er hochsensitiv, was Geräusche angeht, hört und versteht jedes Flüstern, was andere gar nicht wahrnehmen würden. Muss regelmäßig in seinem Zimmer essen, weil wir ihm zu laut sind. Hat mittlerweile chronische Durchfälle. Rastet nach wie vor schnell aus. Heult los wenn am PC mal wieder was nicht klappt. Lässt sich schnell stimmungsmäßig extrem aus der Bahn werfen, wenn ein Plan nicht auf geht - z.B. hat er letztens eine länger geplante Verabredung einfach abgesagt, weil er seine Bahn nicht bekommen hätte, weil wir Eltern nicht da waren, um ihm Fahrgeld zu geben - anstatt sich eine Stunde später zu treffen, was er hätte machen können, war er so am Ende, dass er zuhause geblieben ist.

Da unsere Familie, wie es aussieht, von ADHSlern (in der Großelterngeneration meiner Meinung nach auch schon, nur, dass diese
Gleichzeitig ADHS-Leugner sind) nur so wimmelt, frage ich mich, ob das sehr strukturierte Verhalten evtl eine Art Masking (hieß das so?) sein könnte, ob es möglich ist, im
Unterricht verlässlich auf Hyperfocus umzuschalten, ob er evtl dadurch sehr gestresst ist und seine Psychosomatischen Beschwerden daher rühren (die chronischen Kopfschmerzen sind besser aber im Hintergrund da, Migräne hat er wie ich und eben die Durchfälle, wo die Ärztin noch am Suchen ist aber Stress als wahrscheinlichen Auslöser nennt - er selber bezeichnet sich übrigens nicht als gestresst)
Er hatte jetzt über 40 Fehltage, daher Dreierzeugnis auf Gymnasium. Wenn er da war rieselte es Einsen und Zweien, wo er nachholen musste Vieren, Fünfen, Sechsen…
Er hat nie gefehlt, weil er „keinen Bock“ hatte, er ist eher krank noch zur Schule gegangen… Aber wenn er von der Toilette nicht runter kommt, kann ich ihn nicht schicken… Insofern brauchen wir wirklich Hilfe und daher meine Frage, ob er ein extrem kompensiertes ADHS haben KÖNNTE und ihm Medikamente evtl eine Hilfe sein könnten.

Was mir noch einfällt, was bei ihm rein passen würde:

Fingernägel teils blutig abgepult, wie bei mir früher
Essen (z.B. Soße und Nudeln) darf sich oft nicht berühren, Wurst darf z.B. bestimmte Konsistenz nicht haben, Butter geht gar nicht, wenn man sie bemerkt
Macht zu doll, wenn er ausrastet, z.B. kleinem
Bruder gegenüber
Zimmer versinkt schnell im Chaos
Teils ständig müde und antriebslos

Ok, letztere Sachen auch völlig normal in Jugendalter :woman_shrugging:t3:

Ich fand immer, dass er mein kleiner Autist ist, im Positiven, er hat Einiges an Potential und seine Eigenheiten muss man einfach hinnehmen und nicht diskutieren. Aber da er psychosomatisch letztlich leidet, suche ich weiter nach Ursachen für seinen Stress - Autismus wurde ja ausgeschlossen :woman_shrugging:t3:

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Hallo WieWen,

ich denke, das könnte so sein. Die emotionale Unausgeglichenheit und Impulsivität könnte ein Hinweis sein. Und ein Leidensdruck wäre ja da, daher wäre ich an deiner Stelle sehr neugierig, ob ihm Stimulanzien helfen könnten.

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Ich bin keine Expertin. Aber ich habe jetzt meine ADHS Diagnose trotz guter (und sehr guter) Zeugnisse.
Ich war schon immer sehr wissbegierig und habe auch im Unterricht (je nach Thema) aufgepasst. Zugegeben, nicht die ganze Schulstunde durchweg. Aber genug, um das Thema zu verstehen und gute Mitarbeit zu haben. Ich konnte kaum direkt zuhören, sondern musste immer malen oder an irgendwas rumfummeln.

Ich bin zwar selber total zerstreut und chaotisch. Aber mein Freund hat auch ADHS und er hatet zwar nicht diesen Fokus im Unterricht, dafür ist er sehr aufmerksam und denkt immer für alle mit. Er sieht schon von weit weg, wenn z.B. Hunde :poop: auf dem Gehweg liegt und macht mich darauf aufmerksam, damit ich nicht reintrete.

So wie ich es verstehe, ist ja nicht jeder ADHSler gleich. Wir haben alle unsere Kompensationsstrategien, die auch von der Persönlichkeit abhängig sind.

Aber ich bin ehrlich, für mich klingt es auch, als ob dein Sohn Autist sein könnte. Früher wurde ja Autismus + ADHS ausgeschlossen, mittlerweile weiß man es besser. Und gerade die AuDHS Kombination kann auch dazu führen, dass er vllt knapp unter der Schwelle zur Autismus Diagnose kam, denn die beiden Sachen können sich manchmal auch „negieren“, bzw mal ist das eine, mal das andere „dominant“.

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Hört sich bei mir auch an wie ein neurodiverser Cocktail.
Vielleicht könnten ja Medis wirklich ein wenig Entspannung bringen .
Ich kompensiere und verliere damit viel Energie und mit der Medikation muss ich mich nicht mehr so anstrengen und Reize nerven mich auch weit aus weniger .

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Das ließt sich fast alles wie bei meiner Tochter. Sie hat ADS diagnostiziert bekommen, aber wir vermuten stark ASS. Die Diagnose steht aber aufgrund langer Wartezeiten noch aus.

Wann wurde die Testung auf Autismus gemacht? Welche Fragebögen wurden verwendet? Wie viele Termine gab es für die Testung? Wurde der ADOS angewendet? ADI-R?

Ich frage, weil bei meiner Tochter lediglich ein paar Kreuzelbögen gemacht wurden, die sehr veraltet waren. Zudem hat die Psychologin keine Ahnung, was Maskieren ist und Antworten, die ein „kommt drauf an“ beinhalteten konnte sie gar nicht einordnen. Sie wollte eine klare Entscheidung für eine Zahl von 1 bis 5 auf den Fragebögen.
Dass sie keinen Autismus diagnostizieren konnte war klar. Dafür hätte vor ihr ein mit den Händen flatternder Junge sitzen müssen, der keinen Blickkontakt hält und Bausteine nach Größe sortiert.

Da dein Sohn 13 ist und dank hohem IQ stark maskieren kann, würde ich nochmal selber mit ihm zusammen Fragebögen ausfüllen. Könnt ihr Englisch? Dann empfehle ich wärmstens die Seite https://embrace-autism.com und hier ganz besonders den CAT-Q.

Meine Tochter hat ebenfalls seit der Grundschule extrem viele Fehltage, Kopfschmerzen und Durchfall (besonders in Stresssituationen). Körperliche Ursachen haben wir nie gefunden. Dazu war sie extrem reizbar und es gab zu Hause viel Streit. Anfang des Jahres haben wir dann die ASS Fragebögen gemacht und besonders beim CAT-Q hat sie mir extrem vieles erzählt, was sie bis dahin für sich behalten hatte. Sie hat extrem hohe Werte in Bezug auf Camouflaging/Masking gehabt! Seit dem läuft es bei uns im Vergleich zu davor bombastisch gut. Ich verstehe jetzt, was los ist, sie kann viel besser ihre Emotionen verstehen und einordnen. Überforderungssituationen gibt es natürlich trotzdem, aber der Umgang damit ist ein völlig anderer.

Vielleicht helfen euch die Fragebögen auch. Sie können ein guter Weg sein, miteinander ins Gespräch zu kommen. Sollte er viel maskieren, könnten die Fragebögen das aufdecken und vielleicht auch erklären, warum die Testung bei ihm negativ ausgefallen ist. Je nachdem, wie die Bögen bei ihm aussehen könnt ihr dann auch nochmal eine Zweitmeinung anstreben. Dann habt ihr selber schon mehr Wissen und könnt auch die Fragen besser einordnen.

Wow, danke!

Ich habe gerade mal, um das anzuschauen, diesen empfohlenen Test selbst gemacht. Masking ist relativ hoch im Vergleich zu „normal“, Compensation etwas erhöht und Assimilation gar nicht. Also BEI MIR, was ich nur nicht rausfinde: was bedeuten die einzelnen Begriffe? Ich hatte das bisher alles etwas über einen Kamm geschert aber bin auch recht neu hier im Forum und habe hier auch das erste Mal überhaupt darüber gelesen.
Ich suche nochmal weiter, vielleicht finde ich es auch gleich :slight_smile:

Also seine Tests waren sicher keine direkten Autismustests, das war eine normale Kinder-und Jugendpsychiatrische Praxis und er wurde wegen seiner Kopfschmerzen durchgecheckt.
Hatte mal vorsichtig angefragt, ob er nicht autistische Züge haben könnte, sie bejahte aber hat gesagt, dass es zu wenig wäre für eine Diagnose oder einen härteren Verdacht in die Richtung.
Was das genau für Tests waren kann ich grad (aus dem Urlaub) nicht sagen, eben IQ, Verarbeitungsgeschwindigkeit… letztere war wohl etwas niedrig, IQ normal hoch, sonst hab ich nichts dazu im Kopf, müsste ich aber zuhause alles noch haben.

Mein Gefühl sagt mir immer, dass er irgendsowas hat aber da er überraschend viele Freunde hat und teilweise locker wirkt und übers ganze Gesicht strahlt wenn er nen Witz erzählt usw wurde mir da immer der Wind aus den Segeln genommen. Andererseits ist er überhöflich und wird von allen Seiten so gelobt für seine Hilfsbereitschaft usw, (gerade gestern wieder); für mich wirkt das zu viel und nicht natürlich. Halt ganz doll bewusst.

Ich versuche mal, ihm diese Tests unterzuschieben. Ich glaube, er möchte sich sehr „normal“ fühlen, dass er eher den Gedanken, dass da sowas sein könnte, total verdrängt und das gar nicht machen wollen wird :expressionless:

Letzte Frage noch - was hätte es für eine Konsequenz, wenn wirklich raus kommen sollte, dass er eher in Richtung Spektrum geht als ADHS - bis auf die Selbsterkenntnis - wirklich Medikamente gibt es da nicht oder? Da er ja keine schreienden Symptome hat, es sind ja hauptsächlich die Psychosomatischen Beschwerden und der (bzw aufgrund des) höhere(n) Stress(es).

Also erstmal ist Autismus ja ein Spektrum. Dass Autisten nicht in die Augen schauen können, keinen Spaß oder Ironie verstehen und keine Freunde haben sind veraltete Klischees.

Natürlich möchte er “normal” sein :smiling_face: Vielleicht ist aber gerade das ein guter Grund für ihn, sich die Fragebögen mal anzuschauen. Denn sollte er sich dort wieder erkennen, kann das eine Chance sein, sich eben nicht unnormal zu fühlen. Es gibt ja ganz offensichtlich noch mehr Menschen, die so sind.

Um zu sagen, was euch oder eurem Sohn eine Diagnostik bringt, kenne ich euch zu wenig. Wir wissen ja noch nicht, ob er wirklich im Spektrum ist. Ich halte es aber immer für sinnvoll zu wissen, was los ist - oder eben nicht.

Medikamente gibt es nicht, das stimmt. Die Selbsterkenntnis ist aber nicht einfach nur ein “Ja ok, bin Autist.” und damit hat es sich. Dazu gehört viel mehr. Stichwort Psychoedukation und Selbstwirksamkeit.
Man kann damit Therapien bekommen und im besten Fall ein selbstbestimmtes und glückliches Leben führen. Denn man hat eine Erklärung für seine Wahrnehmung und daraus resultierende Schwierigkeiten. Man kann Mechanismen erkennen und sich sein Leben bedarfsgerecht einrichten. Man muss nicht ständig über seine Grenzen gehen, sondern kann lernen, seine Grenzen zu erkennen, sie zu respektieren und im Bedarfsfall auch mal kontrolliert darüber hinaus zu gehen. Dann aber mit einer Erholungsphase danach. Man ist richtig so, wie man ist. Nur vielleicht etwas anders als die Meisten, aber man hat auch eine Gruppe, der man sich zugehörig fühlen kann. Von ihnen kann man lernen und sich austauschen. Man ist nicht alleine. Dein Sohn kann lernen, sich seinen Möglichkeiten entsprechend zu entwickeln, statt immer irgendwie unter den Möglichkeiten zu bleiben. Vor allem aber hat er eine Erklärung.

Ich zeichne jetzt mal bewusst ein Bild vom Ernstfall. Das muss natürlich nicht so sein! Es ist aber eine Art Fallbeispiel, das man immer wieder von spät diagnostizierten Autisten hört.
Gehen wir mal davon aus, er sei tatsächlich im Spektrum. Mit der Zeit werden es mehr Probleme. Psychosomatik nimmt zu, er kann sich immer schlechter konzentrieren und lernen, Schulprobleme werden mehr, soziale Probleme nehmen zu, vor allem im Berufsleben. Er weiß nicht wirklich, warum das alles so ist, hält sich selbst für falsch.
Wird das nicht erkannt und er maskiert immer weiter, rutscht er im schlimmsten Fall in einen autistischen Burnout und/oder entwickelt Komorbiditäten wie Depression, Essstörung, Angststörung und Zwangsstörung. Noch dazu vermindertes Selbstwertgefühl.
Das Gefühl, immer falsch zu sein und nicht ins System zu passen, nicht verstanden zu werden und einfach nicht dazu zu gehören halte ich für die schlimmste Seite am unerkannten Autismus. Daraus entwickeln sich mit der Zeit viele psychische Probleme, daraus dann sogar chronische körperliche Probleme.

Ich kann jetzt ja wirklich nur von unserer Erfahrung sprechen. Meine Tochter hatte schon ein besseres Verhältnis zu mir, als ich mit ihr die Fragebögen zur ADHS gemacht habe. Sie fühlte sich dadurch ernst genommen. Richtig gut wurde es dann aber durch die Fragebögen zum Autismus. Darin hat sie sich direkt wiedererkannt. Sie hatte dadurch einen Türöffner, um sich mir zu öffnen.
Bei uns kommt noch die Tendenz zum PDA Profil dazu, daher habe ich auch direkt mit der PANDA Strategie gearbeitet und seit dem ist bei uns kein Streit mehr entstanden. Ist sie von etwas überfordert (Schultag zum Beispiel), kann sie mir das sagen und ich fordere nicht noch mehr ein (Zimmer aufräumen z.B.). Außerdem hat sie jetzt “die Erlaubnis” zu Hause zu stimmen. Sie hat das immer verdeckt und unterdrückt, weil sie sich seltsam vorkam. Stimming gehört jetzt zu unserem Alltag und ist manchmal sogar richtig lustig und befreiend.
Außerdem kann sie endlich das anstrengende Maskieren (und all die anderen Camouflaging Sachen) runter fahren. Das war bei ihr zuletzt ja richtig schlimm und hat sich jetzt deutlich gebessert.

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