Schuld und Scham

Hallo,

das finde ich auch gleichgültig. Richter legen Gesetze aus und entscheiden keine moralischen Fragen. Was juristisch richtig oder falsch ist, ist es nicht unbedingt moralisch.

Es gibt ja ganze Armeen von Jurist*innen, die darauf trainiert sind, für ihre Klienten Gesetzeslücken auszunutzen. Stichwort Steuerrecht.

Ja, da fällt mir mein Cousin ein, der war so 4 Jahre älter als ich. Ich erinnere mich an seine Konfirmation, und das vorlaute ADHS-Kind, das ich damals war, mag ich heute gar nicht mehr. Er hat bei der Feier ein Klavierstück vorgespielt und sich dabei vertan, und ich habe laut gelacht.

Ich habe immer wieder an diesen Tag in den 70-er Jahren gedacht und mich sehr geschämt deswegen. Ich wollte ihm auch lange sagen dass mir das sehr leid tut, aber dazu kam es nicht mehr, er ist 2021 mit nicht mal 60 Jahren an einer schlimmen Krankheit gestorben. :adxs_icon_redface:

Also von daher: Geht am Besten nie davon aus, für dieses oder jenes wäre ja noch Zeit.

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Ich weiß nicht, wie alt du bist, aber ich möchte hier unbedingt in den Raum werfen, dass ein Mensch mit 72 Jahren in einer ganz anderen Welt aufgewachsen ist und gelebt hat, als wir.

Wenn man bedenkt, wie mit psychisch erkrankten Menschen noch vor 30-40 Jahren umgegangen wurde, und wieviel mehr Zeit jemand in einer Welt verbracht hat, in der ausschließlich individuelle moralische Verkommenheit als Erklärung hingehalten hat - zumindest wenn man den Stand der gesellschaftlichen Debatte ausgeht - dann zeugt es von ziemlich viel Reflektionsvermögen, wenn man trotzdem nochmal hinschaut und versucht andere Wege zu gehen.

Und nein, dass ist nicht selbstverständlich oder einfach nur dem Alter geschuldet. Wenn ich überlege, wieviele hochgradig verbitterte und selbstgefällige Menschen in höherem Alter ich kenne, dann kann ich nur jedem Respekt zollen, der bereit ist, sich selbst und die von ihm getroffenen Entscheidungen zu hinterfragen.

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Ich denke, du hast mich absolut missverstanden. Denn wo bitte mache ich Mutabor irgendwelche Vorwürfe? Und was bitte hat mein Alter mit meinem Kommentar zu tun? Ich bin zwar auch schon 56 Jahre alt, aber auch jemand mit 25 Jahren kann wohl nachvollziehen, dass jemand mit 73 vollkommen anders aufgewachsen ist.

Ich habe Mutabor lediglich zu verstehen gegeben, dass dieser starke Fokus auf die Schuldfrage nicht besonders gesund für ihn ist und zu nichts führt. Nicht mehr und nicht weniger. Sich selbst ständig schuldig zu fühlen hat, nichts mit wahrer Selbstreflexion zu tun, sondern mit Traumata und psychischen Problemen.

Schuld und Scham: man verurteilt sich selbst, bevor es andere tun. Und wie oft haben wir gehört, wir sollen doch bitte schön anders sein.
Ich habe verinnerlicht, so wie ich bin, bin ich nicht gut. Und so wie ich sein soll, kann ich nicht sein.
Diese Zerrissenheit erzeugt Kognitive Dissonanzen und daraus Stress. Die Angst, nicht geliebt zu werden macht mich dann nicht liebenswert.
Hinzu kommt dieses Okkulte Rejection Dingsbums obendrauf. Kein Wunder, dass ich zuerst den Fehler immer bei mir suche.

Wenn eine Freundschaft zerbricht, muss es ja an mir liegen, denke ich. Dabei ist diese Freundschaft vielleicht schon nur noch Gewohnheit? Und es lagen einige unbearbeitete Baustellen wabernd im Raum. Oft entwickeln wir uns ja auch auseinander. Und Freundschaften haben wie Liebschaften ein Ablaufdatum.

Ich habe mal eine Schulfreundin via StayF wieder gesehen. Total in der Eso-Schwurbel-Ecke abgedriftet. So ein bisschen „was wäre wenn“ ist ja OK. Astrologie, Horoskop und so. Aber dass sie bei anderen Channeling macht und was „von Oben“ durchgesagt bekommt…neee. Das war sie nicht mehr, wie ich sie kannte.
Nachdem ich ihr das zu verstehen gab, war aus. Radikal und vor ever. Von ihr aus.

Ich war und bin immer tief verletzt, wenn mir jemand die Freundschaft oder Beziehung kündigt. Es tut richtig körperlich weh. Aber deshalb meine Überzeugungen zu verraten?
Früher oder später kommt der Konflikt ja doch wieder auf den Plan.
Trotzdem fühle ich mich mies dabei, denn ich habe es wieder verbockt, bestimmt weil ich so ehrlich war, und mein Herz auf der Zunge hatte. Oder sie hatte andere Erwartungen. Frauen da zu verstehen…

@Mutabor

Bist du eher ADS?

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@Andromache
ADS wurde zwischenzeitlich erwogen, derBefund aber war dann final eindeutig ADHS.

@Wolkenbraut , Haben mir den Tag gerettet, deine Worte. Aber auch Andromaches Kommentar war hilfreich.
Die 50er, 60er Jahre - ja, das waren ganz andere Welten, sehr vitale Jahre, mitunter aber auch üble Ellenbogenjahre. (Es geht hier nicht um „besser“ oder „schlechter“…). Es muss furchtbar gewesen sein, damals als körperlich oder geistig Behinderter zu leben. Wer damals ADHS hatte - zu einer Zeit, die nicht die Spur an Ahnung vom Thema hatte - der hatte so manches einzustecken, darunter auch üble Demütigungen. (Mich wundert noch heute, dass ich iregendwie klarkam, beruflich , heiraten konnte, Kinder bekam, Hausbau… etc. ) Also, so gesehen leben wir eindeutig in besseren Zeiten. Bin ja froh, auf die verbleibenden Jahre eine andere Wahrnehmung zu haben - und meist auch anders wahrgenommen zu werden.

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Was mich aber sehr interessiert, wie geht es weiter, mit dieser deiner Freundschaft, hat sich da etwas ergeben, wie denkst du inzwischen darüber?

Oder gibt es eine Tendenz, in welche Richtung du dieses Vorkommnis einordnen wirst, so von wegen Rettung oder nicht?

Aus deinem ersten Post geht ja auch nicht wirklich hervor, wie lange bereits dieser Verlust im Raum steht.

Entschuldige meine Neugier :adxs_rot: @Mutabor und wenn es zu persönlich ist, darauf zu antworten, kein Problem…

@Silberlocke

Ja, ich würde da mit der Antwort zögern auch weil ich da in Teilen (noch) keine wirkliche Klarheit habe. Dank fürs Verständnis.

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Sehr gut. Vielleicht fragst Du dann auf dem Weg zur Klarheit nicht nur den inneren Richter, sondern auch den inneren (Selbst-)Verteidiger. Der gehört auch zur (Rechts-)Ordnung.

"Will ich die Jahre 70+ mit jemandem verbringen, der sich

bewegt?" könnte man sich ja auch fragen. Ergebnisoffen. Kann sein, dass Du das in Kauf nimmst, weil jeder Macken hat, klar. Du. Der Freund. Wir alle.

Kann aber auch sein, dass Du eher einem Ideal von Freundschaft nachhängst als wirklich der Person selbst?

Kann auch sein, dass das ADHS-Hirn Schuld und Scham anschmeißt, weil es das ohnehin das ganze Leben getan hat… Und weil es sich eine unerklärliche Situation, zu der auch so eine Richtung „Trump/Putin/AfD“ gehören kann, irgendwie zurechterklären will. Und dann sucht es eben den Fehler ganz vorrangig bei sich selbst. Hauptsache, die Gleichung stimmt wieder. Ich habe gelesen, dass das Gehirn das gern macht und leichter erträgt als Chaos.

Ich schätze mal, an Schuld und Scham war die letzten 70 Jahre kein Mangel. Vielleicht ist ja auch mal Zeit für andere Gefühle jetzt.

Als Geschworene könnte ich mich jedenfalls schon vor dem Jüngsten Gericht zu einem Freispruch durchringen, falls Dir das wichtig ist.

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Na, da kamen bei mir wechselweise Erleichterung wie auch Heiterkeit auf. - Tatsächlich: für mich ist die Überwindung des Schuld&Scham-Komplexes das derzeit Wichtigste. Habe in ein paar Tagen die erste Therapiesitzung, bin gespannt, wie das Thema da behandelt/verhandelt wird.

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Vielen Dank @Elementary du bist für mich, mal wieder, auch hier eine wertvolle Stichwortgeberin :bouquet:

Priorisierung ; da war die Jahrzehnte lange Freundschaft, der Alkohol, aber der Meinungsverschiedenheit inhaltlich, habe ich wohl zu wenig Aufmerksamkeit gegeben.

Alkohol, dazu übermäßig, ist selten eine Hilfe. Dazu die lange Freundschaft, die sicher bereits Höhen & Tiefen überstanden hat. Somit war für mich der Grund, der Auseinandersetzung eher nachrangig.

Da liegt mein Gedankenfehler, es gibt einfach Dinge, die kann auch die längste Freundschaft zerstören.

Dazu gerade dieser alte Spruch „Betrunkene & kleine Kinder sprechen die Wahrheit“…

Im Idealfall entwickeln wir uns alle weiter, nun hat sich dein @Mutabor langjähriger Freund in eine Richtung orientiert, die nicht mit deinen Vorstellungen überein kommt.

Vielleicht war er ja auch bereits immer so, nur ist es dir noch nie so bewußt gewesen, wie in jenem bierseligen Moment.

Oder es liegt auch mit am Alter, ich stelle selber bei mir fest, das mein Verständnis für gewisse Dinge sehr viel sparsamer geworden ist.

Worüber ich früher einfach so hinweg sehen konnte, klappt heute nicht mehr.
Worüber ich früher Stillschweigen bewahrt hätte, könnte ich heute nicht mehr so stehen lassen.

„Will ich die xy Jahre mit jemandem verbringen, der/die sich wohin auch immer bewegt…“ was aber im Grunde meines Herzens nicht mit mir vereinbar ist?

Nein, definitiv nicht Punkt.

Und was die Macken angeht @Elementary ich glaube inzwischen, da sind wir weit vorne, die verschiedensten einfach so hinzunehmen, aber @Mutabor s Streitthema geht weit über eine bloße Macke hinaus.

Vielleicht hat der Alkohol dir nur dabei geholfen, deine Meinung zu artikulieren, hast du es mal von dieser Seite betrachtet?

Eventuell gab es ja auch bereits andere Sachen, die Risse in eurer Verbindung verursacht haben und jetzt war da dieser eine Tropfen, dieser eine Tropfen zu viel…

Wieviel bleibt noch übrig, von Schuld & Scham, von dieser Seite aus betrachtet?

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@Silberlocke
zunächst: Ich erfahre, dass dieses Forum so gut wie hilfreich ist.
Dann: Ich habe so etwas wie einen Zwang zur Wahrheit - und grenze mich damit scharf ab. Zwischentöne wären geboten, aber ich neige zu verschärfter Präzision. Und da ich verbal nicht untalentiert bin (Drang in Richtung Metaphernbildung…) , setze ich mich in Kontroversen argumentativ häufig durch - dies aber nicht selten zu meinem Schaden. Das ist nicht unbedingt Rechthaberei eines Ex-Lehrers… Aber ich weiß, dass diese aggressive Verschärfung weder der Sache dient noch meinem sozialen Bezug. Auch das wird wohl im Zentrum meiner Therapie stehen.

Also wenn Du „Metaphern-Drang bei ADHS“ zum eigentlichen Thread-Thema gemacht hättest, fallen mir jetzt aus dem Stand zwölf Geschworene aus dem Kreis der Foristen ein, die Dir hier einen Freispruch erster Klasse verschafft hätten nach der kürzesten Jury-Beratung, die es im Forum je gab.

War das jetzt eine Metapher? Ich konnte dem Drang jedenfalls nicht widerstehen.

Ich fürchte, die Antwort auf die Frage „Willst Du Recht haben oder willst Du geselliges Beisammensein und/oder Beziehungen?“, die ändert sich im Lauf des Lebens mehrfach. Auch umständehalber. Das werden wir alle lernen müssen. Vielleicht kannst Du es uns dann lehren, wenn Du es geschafft hast. Da bist/hast Du uns etwas voraus.

„War das jetzt eine Metapher?“ -Im weiteren Sinne schon :grinning: - Wie eng, wie weit der Begriff zu fassen ist: da findet man durchaus divergierende Sichtungen. /

Naja, belehren will ich hier wahrlich nicht, erst recht nicht als Neuling. Bin froh, hier einiges bzgl. ADHS lesen zu können. Apropos „Metaphern“: Schon als ich Kind war, hieß es mehrfach: „Nie ein Kind mit einer solchen Phantasie gesehen.“ Auf dem Gymnasium dann fortgesetzt - doch „unser Träumer“, Rechenschwäche, aber einer der wenigen, die mit komplexen Metaphern (Trakl, Celan…) klarkommen konnte. naja, ist alles über 50/60 Jahre her. Schwamm drüber…

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Es gibt ein sehr gutes Buch über die Scham: Stephan Marks: „Scham.Die tabuisierte Emotion“. Leider kein Miteinbezug von ADHS - aber dennoch sehr lesenswert auch und gerade für ADHSler.

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