Überdiagnostik von ADHS bei Kindern und Jugendlichen?

Hallo ihr,

ich bin gerade über diese Studie bzw. eine umfassende Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2021 gestolpert, die mich doch stutzig gemacht hat:

„Overdiagnosis of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder in Children and Adolescents - A Systematic Scoping Review“

https://jamanetwork.com/journals/jamanetworkopen/fullarticle/2778451

Die Kurzfassung: Sie kommen zu dem Schluss, dass ADHS bei Kindern und Jugendlichen stark überdiagnostiziert sei. Ich habe gerade leider weder die Zeit noch den Kopf dazu, mich da richtig intensiv einzulesen, daher meine Frage:
Kennt jemand von euch diese Scoping Review und deren Ergebnisse? Ist das so für bare Münze zu nehmen? Wie kann man das einordnen? Ich dachte eigentlich, Konsens in der Forschung aktuell sei, dass es einen Großteil un- und unterdiagnostizierter ADHS gibt, vor allem bei Frauen und Mädchen. Klar, hier geht es gezielt um Kinder und Jugendliche, nicht Erwachsene. Aber trotzdem hat mich das sehr irritiert…

Danke schon mal für euren Input, ich bin gespannt auf eure Antworten!

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Wie lesen immer wieder wie unterschiedlich die Wege zur Diagnostik sind. Es gibt da nicht den einen universellen Standard. Ich bin in einem Verteiler wo sich Experten darüber streiten, welche Diagnostik richtig ist, welcher Fragebogen schlecht/gut ist und welche weitere Faktoren ausschlaggebend sind.

Dementsprechend ist diese Übersichtsarbeit in ihrer tatsächlichen Aussagekraft sehe begrenzt.

Deswegen akzeptiert so mancher Psychiater keine vorangegangenen Diagnosen und will sie selbst komplett neu machen.

Das ist uns auch passiert.

Mein Sohn hatte eine ADS-Diagnose vom SPZ einer Klinik, dann 4 Jahre später eine ADHS-Diagnose vom Gesundheitsamt im Zusammenhang mit der Beantragung einer Schulassistenz. Dort kam die Empfehlung, Medikation zu probieren.

Und als ich meinen Sohn direkt im Anschluss in einer niedergelassenen Praxis zwecks Medikation vorstellen wollte, bestanden die tatsächlich darauf, gleich wieder eine Diagnostik zu machen…

(Und dann sind wir im Eilschritt weiter zur Autismus Diagnostik, obwohl der ADHS-Arzt meinte, der Screening Fragebogen gebe keine Indikation. Aber… hallo… ich hatte vier von 10! Fragen mit „weiß nicht mehr, wie das damals war“ beantwortet… )

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Also Überdiagnostizieren… nee… hier im Umkreis sehe ich das nicht… eher Unwissen und damit keine Diagnose für Fälle, wo jemand dringend Hilfe braucht…

Diese Frage wo einer die Diagnose hat und ein Arzt das anzweifelt, die stellt sich glaube ich nur, weil es Ärzte gibt, die den Riecher haben und die Diagnose stellen und dann unerfahrene Vollpfosten das in Frage stellen…

Ganz schlimm: wenn die Eltern sich trennen, dann wird einfach immer nur alles darauf zurückgeführt und nicht medikamentiert, trotz Diagnose.

Die Kinder sollen einfach zur Psychotherapie. Und solange viele Therapeuten sich nicht mit ADHS auskennen, stellen die am Ende die Diagnose dann auch wieder in Frage.

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Und das wird alles, ohne Nachfrage, von der Krankenkasse übernommen?

Was für ein Elend :adxs_noooin:

Die beim Gesundheitsamt musste unsere Kasse nicht zahlen, meine ich.

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Die Diagnose bekam mein Sohn dann und der ADHS Arzt sagte zweimal bei späteren Terminen, dass wert nicht verstehen kann, wie unser Sohn diese Diagnose bekommen konnte.

Inzwischen ist es aber nicht mehr zu übersehen…

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Das kann doch eigentlich aber echt nicht sein! Ein Fachexperte stellt eine Diagnose. Wie kann es sein, dass ein anderer Fachexperte einfach sagen darf: Nö, erkenne ich nicht an!
Ich verstehe das, wenn ein Diagnostizierter kommt und eine zweite Meinung möchte. Aber, wenn der einfach nur kommt, um z.B. eine Medikamentierung weiterzuführen, weil z.B. umgezogen oder so, dann sollte das mMn gar nicht zugelassen sein!

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Ist ein schwieriges Thema. Ich kann da schon beide Seiten verstehen.
Für den Patient mit legitimen ADHS ist das natürlich ein Supergau. Auf der anderen Seite hat der Arzt auch eine gewisse Sorgfaltspflicht, gerade bei der Verschreibung von BTM-Stimulanzien.

Dass sich der Arzt zumindest nochmal ein kurzes Bild vom Patienten verschaffen will, bevor er einfach weiter verschreibt, kann ich schon verstehen.

Schwieriges Thema…

Zum Thema Über/Unter-Diagnostik. Auch da ist es wieder sehr schwierig, weil es zahlreiche andere Ursachen für ADHS-typische Symptomatik geben kann. Gerade in unserer heutigen Social-Media und Smartphone überladenen Welt…

Basierend darauf, dass es in Deutschland allerdings ohnehin sehr schwer ist eine Diagnose dafür zu bekommen, gehe ich eher davon aus, dass ADHS unterdiagnostiziert wird.

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Weiter unten unter Methods wird erklärt was mit Overdiagnosed gemient ist:
Nämlich Fälle mit eher milden Symptomen die in der Summe eher nicht von Behandlung profitieren oder eher schlechter dabei rauskommen als ohne Behandlung.

Es wird explizit gesagt das es nicht um falsch oder bisher undiagnostizierte geht! Sondern nur um einen Teil der von einer Behandlung(teilweise mit Medikamenten) nicht profitiert. Und das Resourcen mehr auf Fälle die davon profitieren oder noch nicht erkannte/diagnostizierte Fälle gelenkt werden.

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So lange die dann selber eine erneute Diagnostik machen finde ich es noch halbwegs ok . Schlimmer finde ich , wie selbst erlebt , wenn eine Fachtussi in einem Erstgespräch ohne ADHS-Expertise es einfach aus ausschließt.

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Hallo,
Ich habe auch eine heftige Erfahrung mit einem Arzt gemacht, der pauschal glaubt in der Diagnostik es besser zu machen als alle anderen. Er ist sogar Professor und hat wohl in den 90ern an ADHS geforscht. Ich bin zwar Erwachsen aber er ist auch Kinderpsychiater. Als ich eine Email geschickt habe, in der stand, dass ich bereits eine Diagnose habe hat er mich wütend zurück gerufen, warum ich nicht zuerst zu ihm gekommen wäre. Er sagte auch dass es heute eine krasse Überdiagnostik von selbsternannten Diagnoseinstituten gäbe. Er würde noch mal prüfen ob er bereit wäre meinen Fall zu übernehmen. Da scheint es einen Ideologie Krieg zwischen konservativen und moderneren Ansichten zu geben, die auch über den Patienten ausgetragenen werden. Ich habe mehrere Psychiater und Psychotherapeuten getroffen die Medikamente grundsätzlich unsinnig finden. Die unseriösen Angebote bei denen man eine Diagnose bestellen kann gibt es aber im Netz wirklich.
Ich selbst schätze dass es Patienten gibt die über und welche die unterdiagnostiziert sind. Wahrscheinlich wird Beispielsweise einerseits nicht jedes Kind mit unauffälligeren Symptomen erkannt, während andere Medikamente zur Leistungssteigerung oder Symptomunterdrückung anderer Erkrankungen bekommen. Ich halte es für unseriös es pauschal auf den Einzelfall anzuwenden.

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Ich hab mal reingeschaut.
War gute Augengymnastik.

  • Die Diagnosen steigen?
    Na gottseidank!???
  • Es werden mehr leichte Fälle diagnostiziert?
    Klar, relativ zu früher sind die Fälle zwangsläufig leichter. Zum Beispiel auch deshalb, weil das DSM schlauer geworden ist und nicht mehr nur die Extremfälle erfasst.
    Sagt das was darüber, ob Leid da ist, oder nur darüber, dass die Götter in Weiss früher nicht verstanden hatten, welches Leid da war?
    Ah, kann man daraus nicht ableiten?
    Aber andersrum soll das gehen?

„Eine Überdiagnose liegt dann vor, wenn bei einer Person eine Krankheit klinisch diagnostiziert wird, die Diagnose aber im Endeffekt eine negative Wirkung hat.“

Hier die Zusammenfassung, was die Autoren als positive und negative Wirkungen fanden (jede Zahl ist eine Quelle):

Vorteile berichtet für

  • schulischen Leistungen (11 Studien)
  • Verletzungen (4 Studien)
  • Krankenhauseinweisungen (3 Studien)
  • kriminelles Verhalten (2 Studien)
  • Lebensqualität (3 Studien)

Schädliche Ergebnisse berichtet für

  • Herzfrequenz und kardiovaskuläre Ereignisse (6 Studien)
  • Wachstum (7 Studien)
  • Gewicht (3 Studien)
  • Risiko für Psychosen und Tics (2 Studien)
  • Stimulanzienmissbrauch oder -vergiftung (4 Studien)

Jeder hier, der sich auskennt, kann die genannten Vorteile und Nachteile gewichten.

  • Herzfrequenz?
    Ja, meist Eindosierungsnebenwirkung. Häufig Wechselwirkung von Koffein.
  • Kardiovaskuläre Probleme?
    In der Summe sogar negativ, weil ADHS-Betroffene, die Stimulanzien einnehmen, da genauer untersucht werden.
    Und falls das ein Nachteil wäre, der die Vorteile nicht aufwiegt, frage ich mich ja, warum dann von denen, die diese Probleme berichten, so viele nach einer Lösung suchen, die Vorteile ohne die Nachteile zu kriegen (und deshalb auf Guanfacin umsteigen), wenn die Vorteile so klein wären.
  • Wachstum?
    Ja, bei Kindern. Aber keine dauerhafte Wachstumsbehinderung, sondern bekanntlich lediglich eine Verzögerung, also nur ein späteres Wachstum.
  • Gewicht?
    Dito.
  • Psychosen und Tics?
    Ja, Risiko existiert. Aber dermaßen selten, dass es die vielen verhinderten Toten durch Unfälle und Suizide nicht im Entferntesten aufwiegt.
  • Stimulanzienmissbrauch?
    • Bekanntlich verringern ADHS-Medis in der Summe das Sucht- und das Suchtrückfallrisiko.
    • Missbrauch durch Nichtbetroffene? Studis im Examen?
      Ja, ist extremer Stress. Stimulanzien mindern Stress und bewahren im Stress die Neuroplastizität. Viele haben ADHS-Traits und es gibt keine Berichte, dass jemand das Zeug nach dem Examen weiter nähme.
      Aber was hat das mit der Medikamentierung bei leichten Fällen von Kindern und Jugendlichen zu tun? Wie kann Missbrauch (der definitiv nicht durch Kinder und kaum durch Jugendliche stattfindet) als Nachteil einer Behandlung leichter Fälle bei Kindern und Jugendliche erfasst werden?

Ich musste über Wissenschaft eines recht bitter lernen:
Eine einzelne Studie sagt nichts, egal wie groß und aufwendig sie gemacht ist. Die Autoren haben durch die Auswahl ihrer Methoden ganz grundlegende Möglichkeiten, dass das rauskommt, was sie sich wünschen. Meist unbeabsichtigt, aber falls, dann oft eben doch befriedigend und daher umso intensiver verfolgt.

Nachzulesen hier (wobei die ganze Seite im weiteren Sinne davon handelt):

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Also ich finde die Metastudie nicht so schlecht. Sie stellt ja auch fest, dass Mädchen unterdiagnostiziert wurden, während die Zahl der Diagnosen bei männlichen Jugendlichen zu hoch sein dürfte. Das wäre ja auch hinsichtlich der einer genetischen Ursache für ADHS nur plausibel. Ich persönlich kenne auch zwei Fälle, in denen die Symptome jeweils nur in einem Lebensbereich, in einem Fall nur in der Schule und einmal nur zu Hause zum Vorschein traten, die dann trotzdem die ADHS-Diagnose erhielten. Das sollte eigentlich nicht so gehandhabt werden, weil die Störung dann durch andere Ursachen besser beschreiben und behandelt werden könnte.

Ich finde sie unterirdisch. Da sind komplette Löcher in der Logikkette. Für mich ein Paradebeispiel für schlechte Wissenschaft…
Nachteile einer Diagnostik werden ausschließlich anhand von Medikation aufgezählt (obwohl gerade bei leichteren Fällen nichtmedikamentöse Behandlung eine Option sind, wird diese Möglichkeit nicht einmal erwähnt) und die Vor- und Nachteile werden lediglich aufgezählt, ohne jegliche Abwägung von Wahrscheinlichkeit und Schwere.

Es springt mich geradezu an, dass das Wunschergebnis von vornherein feststand und erst danach die Studie dazu hingebastelt wurde.
Für mich ein Kandidat für die goldene Himbeere.

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Ich hab mir die Studie auch nochmal angeschaut. Also es wurden 334 Studien, von denen 273 wissenschaftlichen Forschungszwecken dienen, mit einem relativ neuen standardisierten System namens „PRISMA“ ausgewertet, das wenn ich es richtig verstanden habe, für verschiedene Forschungsbereiche verwendet werden kann.
25 Studien davon wurden als leichte Fälle identifiziert.

Natürlich kann eine Studie, die hauptsächlich Pro- und Contras der Auswirkungen einer Indikation gegenüberstellt, nicht ganz objektiv sein. Das Problem bei ADHS ist allerdings auch, dass eine Überdiagnose nicht einfach durch die Abnahme ihrer Stabilität im Erwachsenenalter, wie bei anderen psychischen Erkrankungen im Kindesalter bewiesen werden kann, weil bei leichten ADHS-Fällen im Erwachsenenalter tatsächlich die klinische Schwelle nicht mehr erreicht wird.
Soll heißen, kann sich auswachsen.
Genau das macht es jedoch auch für Kinder- und Jugendpsychiater ziemlich einfach, die Diagnose zu vergeben, schließlich kann eine falsche Diagnose kaum nachgewiesen werden und im Zweifelsfall wird argumentiert, dass einer Persönlichkeitsstörung z.B. Borderline-PS eine ADHS vorausging. Das Ganze wäre auch nicht weiter schlimm, denn das multimodale Therapiekonzept funktioniert auch bei Persönlichkeitsstörungen gut, wenn dabei nicht auch etwas übersehen werden könnte.
Symptome einer ADHS können nämlich auch den Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung z.B. durch Misshandlung sehr ähneln, z. B. Hypervigilanz, Unkonzentriertheit, emotionale Instabilität, Schlafstörungen usw.
Ich fände es bedauerlich, wenn diesen Kindern nicht geholfen wird, nur weil nicht gründlich diagnostiziert wurde oder ein Lieblingsschema zum Einsatz kommt.
Dann schützt die ADHS-Diagnose nicht die Kinder, sondern ihre Eltern.

…Diese Ergebnisse weisen möglicherweise auf eine klinisch bedeutsame Komorbidität zwischen autistischen Entwicklungsbeeinträchtigungen und Borderline Störungen hin. Die Entwicklung einer BPS auf dem Boden von Entwicklungsstörungen erscheint – auch vor dem Hintergrund der bekannten hohen Komorbidität der BPS mit der ADHS – plausibel. Ungünstige Lerngeschichten, dysfunktionale und invalidierende Erfahrungen sind bei abweichenden Eigenschaften, die bereits früh in der Entwicklung auftreten, wahrscheinlich. Es stellt sich damit aus klinischer Perspektive die Frage, ob eine möglicherweise subsyndromal ausgeprägte Variante des Autismus im Sinne eines Persönlichkeitsmusters (Tebartz van Elst, 2016) Basisstruktur für eine sich daraus psychoreaktiv entwickelnde Borderline-Persönlichkeitsstörung sein könnte
(Tebartz van Elst et al., 2013)…

Quelle: https://www.psychologie.uni-freiburg.de/abteilungen/psychobio/team/publikationen/nanchen_heinrichs_2016

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" ADHD-associated mood fluctuations present an important source of impairment especially in those with developmental disabilities and ADHD. Especially in adults with ASD, the ADHD diagnosis may be overlooked, resulting in a bipolar or borderline personality disorder misdiagnosis."

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