Moin zusammen,
Ich habe gerade schon mal die Suchfunktion zum Begriff „Überkompensation“ befragt, da sie mir allerdings dazu nur ein paar vereinzelte Beiträge ausgespuckt hat, dachte ich mir, ich eröffne mal ein neues Thema.
Mir ist jetzt mit der ADHS-Diagnose und dem ganzen Drumherum immer mehr bewusst geworden, in welchen alltäglichen Bereichen eigentlich meine Schwierigkeiten stecken, und auf welche Art und Weise ich bislang mein ganzes Leben damit umgegangen bin. Also quasi, wie ich meine ADHS-Symptomatik kompensiert habe, ohne zu wissen, dass es sich überhaupt um eine ADHS-Symptomatik handelt…
Jetzt wollte ich euch mal fragen, in welchen Bereichen ihr von euch diese (Über-)Kompensationsmechanismen auch kennt, bzw. wie und in was für Situationen sich das bei euch äußert, und ob ihr vielleicht auch bestimmte Strategien habt, diese Überkompensation auch Stück für Stück wieder abzubauen. Da so ein Verhalten zwar natürlich immer einem Zweck dient und man es sich ja nicht ohne Grund angewöhnt hat, aber doch auch ganz schön viel Energie und teilweise auch Zeit kostet. Nur ist es natürlich gar nicht mal so einfach, sich ein Verhalten wieder abzugewöhnen, welches man sich mehr oder weniger sein ganzes Leben über schon (unbewusst) antrainiert hat…
Ich geb euch mal ein paar Beispiele, in welchen Bereichen ich bei mir so ein überkompensatorisches Verhalten festgestellt habe:
Was mir da immer als erstes einfällt, ist mein „Listen-Fetisch“ :lol: Lässt sich eigentlich ganz gut mit „übertriebene Planung jedes Fitzelchen meines Lebens“ zusammenfassen… Ich hab schon seit ich denken kann immer Listen für alles mögliche gemacht, oder auch z. B. teilweise so gefühlt minutiös durchgetaktete Tagespläne, Essenspläne, To-Do-Listen, Listen welche Bücher ich noch lesen will, welche Filme ich mir ansehen will, … Gibt tausend Beispiele.
Generell muss ich einfach immer alles aufschreiben, was mir durch den Kopf geht, damit ich es nicht direkt wieder vergesse, und irgendwo „abspeichern“ kann. In Bezug auf die ganzen Pläne wäre da meine Theorie, dass ich in meinem Kopf einfach innerlich so wenig Struktur habe, dass ich umso mehr äußerliche/„verschriftlichte“ Struktur brauche.
Das funktioniert so auch einigermaßen, kostet leider aber auch echt viel Zeit. Und so richtig flexibel ist das ja leider auch nicht gerade.
Durch meinen „Listen-Wahnsinn“ dachte ich auch anfangs, dass ich ja unmöglich ADHS haben kann, so organisiert, wie ich ja offensichtlich bin… Bis mir dann mal aufgefallen ist, dass die anderen Menschen, die ich so kenne, irgendwie nicht 70% ihrer Zeit nur damit verbringen, zu planen und To-Do-Listen zu schreiben, um überhaupt was auf die Reihe zu kriegen :lol:
Irgendwie zwanghaft ist es bei mir auch mit dem Sport. Nachdem ich eigentlich die ersten ca. 16/17 Jahre meines Lebens so gut wie gar keinen Sport gemacht habe, mache ich dafür jetzt die letzten 6-7 Jahre umso mehr Sport (im Sinne von v.a. Fitness/Workouts)…
Das habe ich für mich als ne super Möglichkeit entdeckt, um meinen inneren Druck ablassen und ruhig im Kopf werden zu können. Außerdem macht’s mir generell auch viel Spaß, allerdings hat es sich mit der Zeit auch immer mehr zu einem „Muss“ entwickelt, das ich echt so ziemlich jeden Tag brauche, um überhaupt in meinem Alltag irgendwie klarzukommen. Wenn ich mal für zwei oder drei Tage keinen Sport machen kann, z. B. manchmal im Urlaub, geht’s mir dann auch echt deutlich schlechter.
Also es ist inzwischen fast schon so ne Abhängigkeit geworden. Was einen dann auch wieder unflexibel macht, wenn man unbedingt Sport machen muss, und man seinen Tag dann so drumrum plant, und natürlich nimmt das auch viel Zeit in Anspruch - also ich denke, dass schon so 3 Stunden täglich für Sport + spazieren gehen draufgeht, und das finde ich im vergleich zu allen anderen Menschen, die ich so kenne, schon viel.
Ich hab auch einfach ein relativ großes Bewegungsbedürfnis, was ja auch nichts schlechtes ist, aber dieses zwanghafte, unbedingt jeden Tag Sport machen „müssen“, weil es mir sonst nicht gut geht, würde ich schon gerne wegbekommen. Ich denke, dann wäre es auf Dauer auch entspannter für mich und ich hätte mehr Spaß dran. Ist mir aber bisher noch nicht so gelungen, also bin ich dankbar für Tipps.
Dann gibt es ganz, ganz viele Beispiele bei mir für Überkompensation in sozialen Kontexten. Generell bin ich in sozialen Interaktionen oft super unsicher, und habe dann wohl über die Zeit den Kompensationsversuch entwickelt, im Gegenteil in Konversationen möglichst selbstbewusst zu wirken. Damit also bloß niemand meine innere Unsicherheit mitbekommen kann.
Mir ist inzwischen aufgefallen, dass ich in solchen Situationen dann dazu neige, schneller und lauter als normal zu sprechen, möglichst keine Pausen in der Konversation entstehen zu lassen (Pausen sind mir sowas von unangenehm!), und Anderen oft ins Wort falle.
Gleichzeitig halte ich in sozialen Interaktionen alles meistens nur auf einem eher oberflächlichen Level und gebe meist nichts „Tiefergehendes“ von mir preis. Dabei erzähle ich dann interessanterweise auch immer nur alles, was bei mir gerade gut läuft, und alles irgendwie negative verschweige ich komplett. Habe auch total Probleme darin, Schwächen einzugestehen, sondern „vertusche“ immer lieber alles, was schlecht läuft.
Inzwischen gelingt mir das zwar alles in einigen Situationen oder mit bestimmten Personen deutlich häufiger, auch mal die Masken fallen zu lassen, und das ist dann auch immer total schön, aber das ist leider trotzdem immer noch ein über viele Jahre antrainierter Automatismus. Ich vermute mal, dahinter steckt bei mir einfach ne ganz große Angst vor Zurückweisung oder Verurteilung.
Dazu passt auch, dass ich immer eher so in die Rolle vom „People Pleaser“ verfalle, also bloß immer derselben Meinung sein mit der anderen Person sein, sonst mag sie mich am Ende vielleicht nicht mehr.
Ok, letzter Punkt (hab eh schon wieder viel zu viel geschrieben, sorry dafür), und der bezieht sich aufs Arbeitsgedächtnis - was bei mir oft ziemlich schlecht funktioniert, jedenfalls vergesse ich super schnell Dinge und verliere den Faden, und weiß nicht mehr, was ich eigentlich sagen wollte etc.
Besonders unangenehm ist es für mich immer, dass ich sehr oft in Gesprächen, vor allem in Gruppen, nach ein bis spätestens zwei Stunden schon super angestrengt bin, und mein Kopf dann einfach „abschaltet“ (da erstelle ich dann vielleicht auch noch mal ein eigenes Thema zu, weil das echt ein Problem für mich darstellt). Ich hab dann also einen richtig „leeren“ Kopf und mir fällt dann überhaupt nichts mehr ein, was ich noch sagen kann, und habe auch Mühe, bei dem Gespräch am Ball zu bleiben.
In der Vergangenheit habe ich es dann oft so gemacht, dass ich mir vor einem Treffen schon überlegt habe, über welche Themen ich mit der Person reden kann, und versucht mir das einzuprägen, oder teilweise sogar Notizen im Handy dazu gemacht… Und während des Gesprächs dann immer schon krampfhaft überlegt, was ich als nächstes sagen könnte… was allerdings eher dazu geführt hat, dass ich mir vor Treffen super viel Druck und Stress gemacht habe.
Deswegen versuche ich jetzt, Treffen einfach auf mich zukommen zu lassen, mich nicht darauf „vorzubereiten“, und es auch okay ist, wenn ein Treffen/ein Gespräch nicht so super gut läuft.
Generell ist es bei mir aber so „drin“, dass ich automatisch versuche, darüber hinwegzutäuschen und es irgendwie zu überspielen, wenn meine Gedanken mir gerade nicht richtig „gehorchen“ wollen. Was allerdings auch wieder super anstrengend ist, gerade weil mein Kopf dann ja eh schon irgendwie erschöpft ist. Aber einfach gar nix mehr sagen, ist dann ja auch blöd, und vor allem erst recht unangenehm :roll:
Okay wow, es tut mir echt leid, ich kann mich einfach nicht kurzfassen, wenn ich erstmal losschreibe - noch so ein Problem (und ich habe gerade schon versucht, zu kürzen - UND mir würde bestimmt noch viel mehr einfallen)
Mich würde es jedenfalls aber total interessieren, welche (Über-)Kompensationsmechanismen ihr so bei euch beobachten könnt, und ob ihr vielleicht auch schon teilweise Möglichkeiten gefunden habt, damit auf eine entspanntere, und nicht so erschöpfende, energieverschwendende Art und Weise umzugehen.
Ach, schreibe ich auch direkt noch mal dazu: Ich nehme jetzt seit ca. drei Wochen Elvanse (vorher Medikinet), was auch definitiv schon in vielen Bereichen sehr hilft. Aber über viele Jahre eingeschliffene Verhaltensweisen lassen sich ja leider auch mit einem Medi nicht mal so eben in Luft auflösen. Ich bin aktuell auch noch in Therapie, was auch hilft, bin also ganz gut „versorgt“, wollte einfach nur mal eure Erfahrungen zu dem Thema hören, weil ich das ganz interessant finde.