Ich glaube, es herrscht teilweise immer noch das stereotype Bild von ADHSler:innen in den Köpfen einiger (Fach-) Leute vor. Daraus ergeben sich einige Probleme: Wenn ich an den „klassischen Zappelphilipp“ denke, also an einen Jungen mit ausgeprägter Hyperaktivität, dann fallen dort automatisch viel zu viele andere ADHSler:innen raus. Dass ADHS sich nicht „verwächst“, auch bei Erwachsenen vorliegt und nicht zwangsläufig anhand einer mit Abbrüchen und Misserfolgen gespickten Biografie feststellbar ist, beziehungsweise (beruflicher) Erfolg und Co kein Ausschlusskriterium darstellen, ist manchen Fachpersonen leider immer noch nicht ausreichend präsent. (Ich empfehle an dieser Stelle den Thread „ADHS Bullshitbingo“ aus dem Forum.)
Meist fällt, gerade in der Schulzeit, das beziehungsweise der*die auf, was aufgrund von externalisierendem Verhalten (also das, was beobachtbar ist und von normativen Erwartungen abweicht) in irgendeiner Art und Weise „stört“. Der kippelnde, reinrufende Klassenkasper stört tendenziell eher als die in sich gekehrte, zurückhaltende und etwas langsam erscheinende Träumerin.
Hinzu kommen auch geschlechtsspezifische Sozialisierungen: Von weiblich gelesenen Personen werden (leider noch immer) andere Verhaltensweisen erwartet und toleriert als bei männlich gelesenen. Das ist nicht nur in Bezug auf ADHS ein Problem, aber halt auch.
Es gibt außerdem Studien dazu (ich habe gerade keine parat, ich müsste erst googeln), dass weiblich gelesene Personen bei der Schilderung ihrer Beschwerden tendenziell weniger ernst genommen werden als männlich gelesene. Ich befürchte, dass das auch beim Erkennen von ADHS mit reinspielen könnte.
Hinzu kommen individuell ausgeprägte Coping-Strategien, sprich Bewältigungsstrategien zum Kompensieren. Mit hoher Intelligenz kann man beispielsweise einiges über längere Zeit hinweg ausgleichen und somit maskieren.
Auch das Vorliegen bestimmter Komorbiditäten, zum Beispiel Autismus, kann Einfluss auf die „Sichtbarkeit“ beziehungsweise Ausprägung einiger Symptome haben. Hinzu können ebenfalls Fehldiagnosen kommen, welche einige Symptome erklären sollen.
Ebenfalls wird das Umfeld eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielen. Bin ich in einem lernförderlichen, unterstützenden und ressourcenorientierten Umfeld, in dem meine Stärken zum Tragen kommen können und meine Schwächen nicht im Vordergrund stehen oder mir unterstützend zur Seite gestanden wird? Dann werde ich mit Glück ebenfalls nicht oder zumindest weniger an dem vorliegenden ADHS leiden.
Einige merken beispielsweise erst im Studium, dass die bisherigen Strategien nicht mehr ausreichen. Denn die Ansprüche an Selbststrukturierung und -organisation sind nicht mit Schule vergleichbar. Generell Wechsel scheinen ein gewisses Risikopotenzial zu bergen, da dann teilweise mit neuen Anforderungen und Herausforderungen umgegangen werden muss, wofür bisherige Strategien teilweise adaptiert und neue etabliert werden müssen.
Zu guter Letzt wird ADHS leider nicht immer völlig ernst genommen. Denn jede:r kennt es vermutlich, mal zu prokrastinieren, etwas zu vergessen, chaotisch zu sein oder impulsiv zu handeln. Und das macht es so tückisch, da dann mitunter von sich selbst auf andere geschlossen wird und der Leidensdruck somit womöglich nicht adäquat erkannt und sogar relativiert werden kann. (-> „Ach, ich bin auch manchmal so vergesslich. Und letztens habe ich sogar erst am nächsten Morgen die Spülmaschine eingeräumt. Dann müssten ja alle ADHS haben!“ „Heutzutage hat ja angeblich auch jede:r ADHS. Voll die Modediagnose.“)