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Tür 7 und 8: Rein und raus aus der Scheiße - das neue Therapie-Tool mit Dr. Paul Krampitz

„Steißlage, Dr. Krampitz. Das wird eine schwere Geburt.“ sagte Sherlock-Leni.

Paul und sie starrten wie gebannt auf das, was noch von „Mario, der Super-Ratte“ zu sehen war.

„So lang, wie er ist: Wenn wir hier nur noch die Pfoten sehen: Wie tief drin steckt dann bitte seine Schnauze? Wie hat sie das bloß geschafft?“ wunderte sich Paul.

„Sie hat noch sehr kleine Hände. Und sie hatte zu viel Zeit. Aber interessiert Dich das Wie wirklich mehr als das Warum?“

„Zum Warum habe ich so eine Ahnung.“

Es war fast schon ein Ritual geworden, dass sich Paul (in einem früheren Lebensabschnitt promovierter Ratten-Dopamin-Forscher) jeden Abend eine Geschichte für Julia einfallen ließ. Im Mittelpunkt stand immer Mario, die Plüschmaus. Paul verwandelte ihn mit einer Serviette als Cape in Super-Mario, der die Prinzessin rettete. Gestern Abend hatte er Super-Mario, die Kanalratte, auf eine imaginäre Reise durch die Abwasser-Rohre geschickt, um für etwas Abwechslung zu sorgen.

Heute früh wollte Super-Kanal-Mario dann aber wohl nochmal selbst nach der Prinzessin sehen: im Abfluss des Gäste-WCs.

Leni riss ihn aus seinen Gedanken: „Wie und warum auch immer. Ich bringe die Täterin jetzt zum Schwimmkurs. Die Welle, Du erinnerst Dich? Anjas Mutter wartet sicher schon auf uns.“

Paul blickte noch immer fassungslos auf Marios Pfoten.

„Kümmer Dich um ihn, Paul. Jetzt!! Je länger er sich vollsaugt, desto schwerer wird es. Und nicht mit Gewalt! Wenn der Kopf stecken bleibt, verlieren wir ihn. Das darf nicht passieren. Das wäre eine Katastrophe. Guck auf den Plan: das Mausgesicht. Morgen ist Kuscheltier-Tag in der Kita.“

„Schon verstanden. No pressure. Jetzt nicht mehr pressen, Leni.“

Das war alles Pauls Schuld. So lautete auch Rikes Blitzdiagnose, als er sie anrief, um grob zu umreißen, warum er erst später kommen könnte oder sogar erst morgen.

„Warum bringst Du sie auf solche Ideen? War doch klar, dass das passiert! Sie ist 5. Und warum war sie so lange unbeaufsichtigt? Sie hätte mit dem Arm im Klo stecken bleiben können. Man kann Euch einfach nicht alleine lassen. Ich lasse mir jetzt Krücken bringen und entlasse mich selbst.“

„Tu das bitte nicht, Rike. Ich bring das wieder in Ordnung. Ich wollte nur kurz Bescheid geben, dass ich noch nicht kommen kann. Wo finde ich denn Werkzeug?“

„Unter der Spüle in der Küche, ein bisschen. In der Garage mehr, aber da kommt man schwer ran gerade. Im Keller. Da aber lieber auch nicht. Im Gästezimmer ist so eine rote Box mit dem nötigsten.“ Rike wurde weniger vorwurfsvoll, als sie sich an ihre eigenen Baustellen erinnerte. „Danke, Paul.“

Der Tag hatte eigentlich so gut angefangen. Leni war ganz in ihrem Meal-Prep-Element und schnitt in der Küche Gemüse für die kommende Woche. Niklas war mal nicht in seinem Zimmer, sondern stand seit einer gefühlten Stunde unter der Dusche. Julia saß derweil mit Mario auf dem Gäste-WC und erzählte ihm dort irgendwas.

Das dachte Paul jedenfalls, als er sich Sonntagvormittag endlich um die tagelang angestauten Mails kümmerte. Vor allem die seiner Assistentin, Frau Meyerling, wurden im Ton immer ärgerlicher. Noch zwei Mails und sie würde wohl wieder mit Kündigung drohen.

Er hatte zu wenig Erfahrung mit Familienalltag: Ruhe war verdächtig, ein Signal für drohendes Unheil. Aber er würde es in Ordnung bringen. Alles in dieser Villa Kunterbunt würde er wieder in Ordnung bringen. Paul sah sich gedanklich kurz selbst im Superhelden-Cape, aber nichts (außer Rückenschmerzen) bringt so effektiv in die Realität wie mit den Händen in einem verstopften Familienklo zu stecken. Vielleicht sollte er daraus ein Therapie-Tool entwickeln: „Rein und raus aus der Scheiße - mit Dr. Paul Krampitz“.

Vorsorglich machte er mit dem Smartphone (40 % Akku!) ein Foto von Marios Pfoten. Vielleicht brauchte er das später mal für Insta als Gründungsmythos des Tools. Auch Mäuse-Merchandise musste man frühzeitig mitdenken. Mentale Gesundheit musste sich heute kaufmännisch rechnen.

Niklas hatte fertig geduscht und stand mit nassen Haaren vor Paul. „Sag mal, Paul, könntest Du mir evtl ein Attest besorgen, wenn ich, sagen wir mal, etwas in der Klemme wäre? Hypothetisch? Ich bräuchte aber eins ohne Psycho-Arzt und so.“

„Von was für einer Klemme reden wir denn? Du siehst ja: Du bist hier gerade nicht allein damit.“

Paul fokussierte weiter das Abflussrohr und bemühte sich, betont beiläufig zu klingen, um Niklas entspannter zum Reden zu bringen. „Mario klemmt auch. Gib mir mal die Zange da, bitte.“ Die Stille jetzt eine Weile aushalten und …

„Latein.“ Wieder Stille. „Stammformen und Ablativ und so.“

„Verstehe. ‚Das sind die Stammfoamen. Die müssen sie lährnen. Sonst geht die ganze Übersetzung in die Hosse.‘“

„Was?“

„Das hat Frau Geyer immer gesagt. Ich höre ihre Stimme immer noch. Unsere alte Lateinlehrerin. Rike hatte sie auch. Sie kam aus Russland, daher der Akzent. Latein-Vokabeln und Stammformen haben eine lange Endgegner-Tradition in unserer Familie, Niklas. Daran sind wir alle verzweifelt.“

Schweigen. Mist, Paul hatte sich durch Nostalgie hinreißen lassen und das Gespräch gekapert. Ein Gruppengefühl im Lateinversagen war wohl nicht, was Niklas gerade brauchte.

„Ist ja alles bisschen viel gerade für Euch.“ setzte Paul neu an.

„Geht eigentlich schon länger so. Ich kann das einfach nicht, Paul. Ich habe alles versucht, um mich zu konzentrieren. Wirklich. Da ist was kaputt bei mir. Das zeigt ja auch die Diagnose.“

„Darüber reden wir nochmal, wenn ich nicht alle Hände … in Eurem Klo habe, ja? Wann schreibt Ihr denn die Arbeit?“

„Morgen. 3./4. Stunde, steht doch auf auf dem Plan in der Küche: L mit Blitz!"

Paul hatte eigentlich nur weiter an einer Schraube gedreht, um das Gespräch in Fluss zu halten. Nach der letzten Umdrehung löste sich die Toilette aus der Verankerung in der Wand - und mit ihr ein Schwall Abflusswasser auf die Fliesen.

„Igitt, ist ja saueklig.“ Niklas rannte in sein Zimmer. Seine nassen Sockenabdrücke zeigten, dass er das Gesamtkunstwerk seiner Schwester nun noch weiter im Haus verteilen würde.

Wenigstens Mario lächelte Paul an, als der ihn endlich aus seiner misslichen Lage befreit hatte. Etwas fleckig, aber tapfer und dankbar, der kleine Kerl.

Paul steckte Mario in die Waschmaschine, 30 Grad mit Vorwäsche, Überdosis Lenor, und er nähte auch sein halb abgerissenes Ohr wieder an, mit blauem Häkelgarn aus dem Gästezimmer. Mario trug jetzt einen Verband, saß auf der Heizung und wartete auf Julia, die jeden Moment mit Leni vom Schwimmkurs kommen müsste.

„Das Leben zeichnet Narben, Kumpel“, nickte Paul ihm zu. „Und lass Dich von Teddy und den anderen nicht mobben deswegen.“ So weit waren wir also: Paul redet mit Plüsch-Kanalratten. „Animismus“ schoss es ihm als Selbstdiagnose durch den Kopf: der Glaube, dass unbelebte Objekte eine Seele oder einen Geist besitzen. Kann bei ADHS stark ausgeprägt sein. Besser imaginäre Freunde als gar keine. Die Familienratte war gerettet. Der Neffe war dann später dran.

Oder doch jetzt gleich? Denn Paul hörte ein lautes „FUCK“ aus Niklas’ Zimmer. Irgendwas flog gegen die Wand. Das Lateinbuch? Oder hatten sie heute Tablets dafür?

Aus medizinischer Sicht war der Attest-Ausweg nicht ideal. Weglaufen war keine Lösung. Ganz schlecht auch mit Blick auf Selbstwirksamkeitserfahrung. Aber in dem Bermudadreieck aus verstopftem Klo, Marios Befreiung und Niklas Wutausbruch waren Stunden verflogen.

Paul hängte sich ans Telefon, um eine Lösung zu besorgen: ein Attest „ohne Psycho drauf“, wie bestellt. Nicht ohne Stolz ging er dann zu Niklas: „Hier ist das Attest, das Du wolltest. Ich weiß aber nicht, ob das der richtige Weg ist. Ob es Dir hilft oder ob das alles schwieriger macht, mittelfristig?“

„Ein Attest von einem Rheumatologen? Hast Du 'n Defekt? Ich will nächstes Jahr in die Handball-Auswahl! Mit Rheuma nehmen die mich noch nicht ins Team! Und drei Stunden Fahrzeit von hier? Gar nicht auffällig.“ Niklas war außer sich. Er war von Idioten umgeben. Ganz allein auf der Welt. Nur er und die Latein-Stammformen. Alles im Arsch.

„Die andere an einem Sonntag erreichbare Alternative wäre meine frühere Mitbewohnerin Sabine gewesen, aber die ist jetzt Frauenärztin. Vier Stunden von hier.“ Paul fand das eigentlich witzig, aber Niklas erreichte er gerade nicht mehr.

„Gib mal die Liste mit den Stammformen her. Ich guck mal mit rein, ja? Einen Attest-Plan B haben wir ja jetzt, wenn auch einen mit Arthritis. Vielleicht nimmt das etwas Druck raus und löst die Latein-Blockade. Komm. Mario haben wir auch zusammen aus seiner Klemme befreit.“

Veni, vidi, vici. Ich kam, ich sah, ich … griff ins Klo und rettete eine Ratte.

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