Das ist genau der Punkt, den jeder vorher für sich selber beantworten muss. Habe ich einen Leidensdruck? Wenn ja, was kann ich dagegen tun?
Sachlich betrachtet und beantwortet: Ja! Aber immer in Abhängigkeit der vorherigen Frage. Habe ich einen Leidensdruck?
All diese Fragen muss jeder für sich selbst beantworten. Natürlich kann man das mit der „Gesellschafts-Brille“ betrachten und darüber schimpfen, dass Neurodivergente nur die Medikamente nehmen müssen, damit sie in diese Gesellschaft passen. Das stimmt einerseits. Andererseits ist das aber auch nichts, was nur schwarz oder weiß betrachtet werden sollte. Es gibt Abstufungen dazwischen. Und genau dann zielt es wieder auf die Eingangsfrage ab. Hast DU für Dich persönlich einen Leidensdruck, den du nicht anders ändern kannst? Dann probiere die Medikamente aus und prüfe für dich, ob sie dir dabei helfen.
Wenn du aber für dich selbst definierst, dass ein gewisses Maß an Hibbeligkeit okay ist, oder ein bisschen Vergesslichkeit in deinen Alltag passt, oder dass dir dein Fokus für deine persönlichen Ziele reicht und du keine Medikamente benötigst. Dann kannst du für dich ja auch bestimmen, ob du die Medikamente nimmst oder nicht.
Ich sehe es übrigens etwas anders als @Falschparker. Mein Ansatz ist: Ich bin auch mein ADHS, weil ich so funktioniere, wie ich funktioniere. Wenn das aber Dinge sind, die mich stören, dann ändere ich daran etwas. Und damit sind wir am Ende wieder gleicher Meinung.
Das ist aber auch eine grundsätzliche Einstellung. Ob eine Bereitschaft zur Änderung vorhanden ist oder nicht. Es ist natürlich wichtig zu hinterfragen, ob es gerechtfertigt ist etwas für andere zu ändern. Und In gewisser Weise muss auch eine Anpassung im „Außen“ stattfinden. Aber auch das hat seine Grenzen. Es gibt einfach Gegebenheiten oder Situationen, in denen eine Anpassung unumgänglich ist.
In deinem Beitrag schwingt viel Frust mit – über gesellschaftliche Erwartungen, äußeren Druck und Ungerechtigkeit. Das ist verständlich. Aber nicht alles wird von außen bestimmt. Es geht vielmehr darum, wie man selbst damit umgeht und was man daraus macht.
Bezogen auf deine allgemeinen Fragen ein Beispiel:
„Ich finde es okay, dass ich aufgrund von fehlendem Fokus regelmäßig Flüchtigkeitsfehler mache“. Du arbeitest aber in einem Job, in dem es nicht okay ist, zb als Buchhalter, in der Qualitätssicherung oder gar als Arzt? Dann wechsle entweder den Job und such dir eine Tätigkeit, die besser zu dir und deinen Stärken passt oder ändere etwas - z.b. durch ADHS-Medikamente.
Ich sehe bei diesem Thema schnell die Gefahr der Doppelmoral. Von anderen etwas erwarten aber selbst nichts tun. Eine Gesellschaft ist keine Einbahnstraße, es müssen sich immer beide Seiten aufeinander zu bewegen, andernfalls wäre es scheinheilig. Und jeder muss für sich selbst abwägen, in welchem Maß eine Anpassung notwendig oder gerechtfertigt ist und ob sie mit den eigenen Werten übereinstimmt.