Liebe @tamaracha , wie versprochen hier meine Reaktion auf Deinen Beitrag im anderen Thread.
Danke erstmal fürs offene Teilen Deiner Geschichte, das hat mich sehr berührt.
Ich habe einen sehr ähnlichen Fall in meinem engsten persönlichen Umfeld. Diese Person ist körperlich behindert von Geburt an (Robinow-Syndrom), relativ offensichtlich ADHSler (ohne offizielle Diagnose wegen Zugangsbarrieren im Heimatland, aber wir uns sehr sicher, er checkt offensichtlich alle Boxen), ist schwul und kommt - wird gleich noch wichtig - aus Italien, also einer Kultur, die soziale Einbindung in Familie und Freunde:innenkreise erheblich selbstverständlicher lebt als das in Deutschland üblich ist.
Wir versuchen seit einem Jahr herauszufinden, ob er Autist ist - und kommen einfach nicht weiter, weil wir immer wieder an dem Punkt landen: 1. Wie unterscheidet man die Ursache für seine offensichtlich autistischen Verhaltens - und Denkweisen zwischen Autismus und Anpassungsdruck auf Grund seiner körperlichen Behinderung? 2. Wie sieht der soziale Teil von Autismus in einer Kultur aus, in der Einzelgängertum quasi unmöglich ist, weil das soziale Umfeld einen schlicht nicht “gehen” lässt und sich erstaunlich inklusiv verhält, einfach aus Tradition?
Wir hatten uns nach ausgiebigen Tests und Diskussion der Diagnosekriterien schon geeinigt, dass er zwar autistische Züge hat, aber die Besonderheiten im Bereich soziale Interaktion und interpersonale Kommunikation nicht ausreichen, um Autist zu “sein”, da kam die Nachricht, dass seine Mutter - unabhängig von unserer Diskussion - eine Autismusdiagnose erhalten hat.
Auch meine eigene Erfahrung hat viel mit diesen Grenzziehungen zu tun. Im Diagnoseprozess ging es bei mir immer wieder um die Frage: Wie unterscheiden wir angeborene Züge von sehr früh erworbenen? Haben meine anderen “Besonderheiten” (nicht binäres Geschlecht, Hochbegabung, kulturelle Unterschiede zu den anderen Kindern in meiner Heimat, Körpergröße - ich war schon immer sehr groß, Übergewicht, …) bestehenden Autismus verstärkt, sind sie vielleicht sogar teilweise davon verursacht - oder simulieren sie Autismus, wo keiner ist?
Auf diagnostischer Ebene waren wir irgendwann an dem Punkt wo mein Diagnostiker meinte: Wir können das nicht objektiv klären. Sie erfüllen die Kriterien für eine Diagnose, sie leiden darunter, und eine Diagnose würde Ihnen helfen - also bekommen sie diese auch. Obwohl wir nicht 100 Prozent sicher sein können, ob alle heute, mit Mitte 40, sichtbaren Züge tatsächlich durch angeborenen Autismus verursacht sind.
Für mich persönlich war dieser Pragmatismus sehr hilfreich - und hat mir in der Folge sehr geholfen. Die AuDHD Perspektive erklärt mein Leben und meine Herausforderungen besser als alles, was vorher von Ärzt:innen und Therapeut:innen vermutet wurde, sie ist hochgradig kohärent mit meiner Selbstwahrnehmung und Identität, und die daraus abgeleiteten Interventionen machen mein Leben massiv besser.
Aber dennoch habe ich manchmal Zweifel, ob ich nicht doch irgendwie ein Autismus -”Imposter” bin und, auch angesichts meiner vielen Privilegien, anderen autistischen Menschen Platz und Ressourcen wegnehme, die deutlich klarer und offensichtlicher “ins Raster passen”.
Aber ganz ehrlich - ich bin auch ein Mensch, ich hab ein Recht auf ein gutes Leben und angemessenen Support, und auf der Grundlage des heute verfügbaren Wissens ist AuDHD die beste verfügbare Schublade, um mich dabei zu unterstützen.
Herzlich,
Flo