Basierend auf einem spannenden Off Topic Austausch mit @tamaracha möchte ich hier die Möglichkeit geben, sich zu folgenden Fragen auszutauschen:
Wie lassen sich unterschiedliche Neurotypen und/oder Diagnosen abgrenzen bei Menschen, die eine Vielzahl von Einflussfaktoren mit sich herumtragen (z.B. komplexe Traumata, somatische Behinderung, Hochbegabung, komplexe und stark verfestigte Maskierungs- und Anpassungsmuster etc)?
Wie erleben wir individuell das Zusammenspiel zwischen unserem subjektiven Erleben der typischen neurodivergenten Züge in Wahrnehmung, Denken, Reaktionsmustern, Verhaltensweisen etc. einerseits und das objektivierende, systematisch Beschreiben durch Diagnostik andererseits?
Welche Ansätze aus neurologischer Forschung helfen, hier Brücken zu bauen und/oder eigene Identität und/oder Problematik sinnvoll zu fassen?
Ich verstehe diese Fragen im wesentlichen zum Austausch von Erfahrungen, Recherchefrüchten und Ideen am Rande des aktuellen klinischen Forschungshorizonts, verbunden mit der Hoffnung, “komplexen” Fällen Futter zum besseren Einordnen und Verstehen des eigenen Erlebens zu geben - ohne den Anspruch auf abschließende Bewertung.
Danke erstmal fürs offene Teilen Deiner Geschichte, das hat mich sehr berührt.
Ich habe einen sehr ähnlichen Fall in meinem engsten persönlichen Umfeld. Diese Person ist körperlich behindert von Geburt an (Robinow-Syndrom), relativ offensichtlich ADHSler (ohne offizielle Diagnose wegen Zugangsbarrieren im Heimatland, aber wir uns sehr sicher, er checkt offensichtlich alle Boxen), ist schwul und kommt - wird gleich noch wichtig - aus Italien, also einer Kultur, die soziale Einbindung in Familie und Freunde:innenkreise erheblich selbstverständlicher lebt als das in Deutschland üblich ist.
Wir versuchen seit einem Jahr herauszufinden, ob er Autist ist - und kommen einfach nicht weiter, weil wir immer wieder an dem Punkt landen: 1. Wie unterscheidet man die Ursache für seine offensichtlich autistischen Verhaltens - und Denkweisen zwischen Autismus und Anpassungsdruck auf Grund seiner körperlichen Behinderung? 2. Wie sieht der soziale Teil von Autismus in einer Kultur aus, in der Einzelgängertum quasi unmöglich ist, weil das soziale Umfeld einen schlicht nicht “gehen” lässt und sich erstaunlich inklusiv verhält, einfach aus Tradition?
Wir hatten uns nach ausgiebigen Tests und Diskussion der Diagnosekriterien schon geeinigt, dass er zwar autistische Züge hat, aber die Besonderheiten im Bereich soziale Interaktion und interpersonale Kommunikation nicht ausreichen, um Autist zu “sein”, da kam die Nachricht, dass seine Mutter - unabhängig von unserer Diskussion - eine Autismusdiagnose erhalten hat.
Auch meine eigene Erfahrung hat viel mit diesen Grenzziehungen zu tun. Im Diagnoseprozess ging es bei mir immer wieder um die Frage: Wie unterscheiden wir angeborene Züge von sehr früh erworbenen? Haben meine anderen “Besonderheiten” (nicht binäres Geschlecht, Hochbegabung, kulturelle Unterschiede zu den anderen Kindern in meiner Heimat, Körpergröße - ich war schon immer sehr groß, Übergewicht, …) bestehenden Autismus verstärkt, sind sie vielleicht sogar teilweise davon verursacht - oder simulieren sie Autismus, wo keiner ist?
Auf diagnostischer Ebene waren wir irgendwann an dem Punkt wo mein Diagnostiker meinte: Wir können das nicht objektiv klären. Sie erfüllen die Kriterien für eine Diagnose, sie leiden darunter, und eine Diagnose würde Ihnen helfen - also bekommen sie diese auch. Obwohl wir nicht 100 Prozent sicher sein können, ob alle heute, mit Mitte 40, sichtbaren Züge tatsächlich durch angeborenen Autismus verursacht sind.
Für mich persönlich war dieser Pragmatismus sehr hilfreich - und hat mir in der Folge sehr geholfen. Die AuDHD Perspektive erklärt mein Leben und meine Herausforderungen besser als alles, was vorher von Ärzt:innen und Therapeut:innen vermutet wurde, sie ist hochgradig kohärent mit meiner Selbstwahrnehmung und Identität, und die daraus abgeleiteten Interventionen machen mein Leben massiv besser.
Aber dennoch habe ich manchmal Zweifel, ob ich nicht doch irgendwie ein Autismus -”Imposter” bin und, auch angesichts meiner vielen Privilegien, anderen autistischen Menschen Platz und Ressourcen wegnehme, die deutlich klarer und offensichtlicher “ins Raster passen”.
Aber ganz ehrlich - ich bin auch ein Mensch, ich hab ein Recht auf ein gutes Leben und angemessenen Support, und auf der Grundlage des heute verfügbaren Wissens ist AuDHD die beste verfügbare Schublade, um mich dabei zu unterstützen.
Danke, auch eine interessante Geschichte, das mit deinem Bekannten. Ich gehe mal mit gutem Beispiel voran und verlinke Bezüge aus dem Forum, wie im Kommunikationsthread angeregt..
Hier ist übrigens noch mein Thread, mit dem ich das Thema schon einmal angestoßen hatte und der auch mein allererster Thread war. Gleich mit irgendeinem ungewöhnlicheren Thema reinstürzen, sehr typisch für mich.
Recht schnell hat dort jemand HB und k-PTBS als potentielle Ursache für neurodivergentes Erscheinungsbild angesprochen.
Finde ich sinnvoll, wobei es dort ja auch um so etwas wie verschiedene Formen von Autismus ging.
Wahrscheinlich fängt es schon mal damit an, dass ich im Leben eher ein geringes Bedürfnis nach „Schubladen“ hatte, Individualist durch und durch. Auch schon in der Jugend: Ich höre Klassik, aber ich bin kein „Klassikhörer.“ Ist doch viel interessanter, alles zu machen und mit jedem zu reden, statt sich einzusortieren.
Ich habe sogar eher die Erfahrung gemacht, dass Leute es leichter damit haben, sich abzugrenzen nach dem Motto „betrifft mich nicht und geht mich nichts an“, wenn man die eigene Identität so stark als Gruppenzugehörigkeit zeigt. Auch das mit dem Geschlecht … Mit meinen Geschlechtsmerkmalen komme ich zurecht, und dass ich mich weniger eindeutig meinem sozialen Geschlecht zugehörig fühle, erschien mir einfach nicht der Rede wert. Es wäre höchstens der leidensdruck und die Suche nach adäquater Behandlung, wofür ich mich auf die Suche nach Diagnosen begeben würde.
Thema inklusives Familienumfeld, eine zweischneidige Angelegenheit: Ich bin in einem ländlichen Umfeld aufgewachsen, von dem ich sagen würde, dass es noch relativ viel Wert auf Gemeinschaftlichkeit gelegt hat. Das ist einerseits natürlich schön und vermittelt Geborgenheit, hat sich andererseits aber auch beklemmend angefühlt. Es gab so wenige Menschen in meiner Entwicklung, mit denen ich meine Gedanken teilen konnte, und noch wichtiger: Es gab so gut wie niemanden, wer mich ehrlich hätte spiegeln können (Lernfortschritte, Verrennen in Gedanken/Ideen usw.). Also was ich meine ist ein Gegenüber, das es gut mit mir meint, mir aber auch die Stirn bieten kann.
Das ist jetzt alles Retrospektive, mein Leben sieht heute anders aus. Bah, es fühlt sich immer so undankbar und überheblich an, über diese Dinge zu schreiben.
Übrigens gibt es schon ziemlich lange eine Forschungslinie dazu, dass Blinde Kinder autistische Merkmale zeigen können und dabei früher gelegentlich als autistisch fehldiagnostiziert wurden, weil sie bestimmte Kriterien erfüllten (blickkontakt). Als ich zum erstenmal davon gehört hatte, habe ich auch gedacht: „Wie dämlich kann man eigentlich sein als Diagnostiker?!“
Ich merke gerade, dass ich hier gar nicht geantwortet habe bislang. Hole ich hiermit nach:
Krasse Geschichte… auf den ersten Blick klingt das lustig, aber auf den zweiten Blick zeigt es meines Erachtens ein sehr tief verwurzeltes Problem in der klinischen Diagnostik: Den Fokus auf von außen wahrnehmbare Charakteristika bei etwas, das im wesentlichen die subjektive eigene Erfahrung betrifft.
Das ist etwas, was mich schon lange beschäftigt: Wie entkommt man dem Widerspruch, dass für eine wissenschaftlich gesicherte Diagnostik eine Objektivierung nötig ist, aber das Phänomen, vom dem wir sprechen, per Definition nur von der betroffenen Person selbst wahrgenommen und beschrieben werden kann?
Ich zum Beispiel als sehende Person würde mir niemals anmaßen, sinnvolle Dinge darüber zu sagen, wie es ist, blind zu sein. Klar, ich kann versuchen eine ähnliche Erfahrung zu erzeugen - einen Tag mit verbundenen Augen verbringen und so -, und ich kann versuchen, wissenschaftlich beobachtbare Dinge statistisch auszuwerten. Aber letztlich kann nur eine blinde Person beschreiben wie es ist, blind zu sein. Dummerweise kann sie, zumindest wenn von Geburt an blind, wiederum nur wenig darüber sagen wie es ist, zu sehen.
Angewendet auf die Frage, ob sich “das Autistische” fassen lässt würde ich sagen: es ergibt, zumindest bei Erwachsenen, wenig Sinn, von äußerlich sichtbaren Merkmalen auszugehen. Die “Symptome” des Autismus können zig andere Ursachen haben.
Ich glaube wirklich entscheiden kann das nur die Person selbst.
Für mich war damals die Frage entscheidend: “Erklärt die Hypothese ‘Autismus’ wesentliche, existentielle und für mein Leben konstituierende Fragen besser als andere mögliche Erklärungen?”
Und das kann ich für mich mit einem klaren Ja beantworten.
Und dann wird es auch egal, ob ich bei jedem einzelnen Detail ins Raster passe.
Inhaltlich heruntergebrochen ist “Das Autistische” für mich
Wie schon erwähnt ein sehr tiefes, schon immer vorhandenes und über Situationen und Lebensphasen stabiles Gefühl, sehr “anders” zu sein - in ganz vielen Merkmalen und Aspekten.
Offensichtliches “Anderssein” in vielen Bereichen der sozialen Interaktion und Kommunikation, die sich nicht alleine durch Hochbegabung, Queersein, Dicksein oder kulturelle Unterschiede erklären lassen.
Eine Vielzahl von Denkweisen, Verhaltensweisen und Präferenzen, die sich um den Cluster “Interesse, Logik, Konsistenz und Struktur” sammeln.
Die anderen “Symptome” - Reizoffenheit, schnelle Erschöpfung, geringe Stressresilienz etc empfinde ich zwar als dem Autismus zugehörig, aber nicht definierend.
Was für mich auch noch hilfreich war um diagnostischen Frieden zu erlangen: wenn ich die Ratschläge für Autist:innen befolge, geht es mir viel, viel besser; auch wenn ich gar nicht immer genau weiß, warum.
Und: ich habe eine große Resonanz mit anderen autistischen Menschen. Sowohl positiv - unmittelbares Vertrauen, Entspannung, großes Interesse füreinander - als auch negativ - bestimmte Autist:innen machen mich schnell unglaublich wütend und können mich sehr einfach und tief kränken und verletzen. Gleichzeitig ist mein Interesse für nicht autistische Menschen deutlich geringer ausgeprägt und braucht schon einen sehr guten Grund.
Hi ihr zwei und sorry das ich mich dazwischen drängel aber da muss ich einfach drauf reagieren: Was?! Ernsthaft?! Was heißt früher ungefähr, von welchem Zeitraum reden wir?
Ich bin deshalb so entsetzt weil ich leider auch schon oft persönlich die geballte Inkompetenz von sogenannten Fachleuten abbekommen habe. Also bei mir geht es um einen Zeitraum von den letzten circa 3 1/2 Jahren… und es hält leider immer noch an und sorgt auch dafür dass es mir zunehmend schlechter geht, aber das nur nebenbei, dass würde hier defintiv den Rahmen sprengen.
Wie gesagt, wollte nur mein absolutes Entsetzen darüber mitteilen. Unglaublich.
Das geht schon in die 50er zurück. Es ist schon so, dass blinde Kinder objektiv beobachtbares Verhalten zeigen, das auch mit Autismus in Verbindung gebracht wird.
Selbstverständlich zeigen sie keinen Blickkontakt. Wenn jemand komplett hirnlos seine STrichliste abarbeitet, ist damit ein „Häkchen“ für ASS erfüllt.
Blinde Kinder zeigen „Manierismen“ wie schaukeln, mit den Händen flattern usw., viele stützen ihren Kopf so auf die Hände, dass ein Finger im Auge ruht. Auch solches Verhalten wird klassisch dem Autismus zugerechnet.
Die TOM-Tests erforderten i.d.R., dass das getestete Kind sehen kann, also z.B. Filmchen anschauen und die Frage der Fragen beantworten.
Blinde Menschen bekommen manchmal nicht so genau mit, ob jemand sie beobachtet, kritisch betrachtet, ob man zu laut ist, sich unangemessen verhält. Es fehlt viel von diesem sozialen nonverbalen Mikrofeedback.
Blinde müssen sich auf ihr Gehör verlassen. Zu viel Lärm ist im Grunde, wie wenn man Sehenden die Augen zuhält oder sie mit Nebel einsprüht. Das kann zu emotionaler Überforderung führen.
long Story short: Blinde können Verhalten zeigen, das vordergründig autistisch wirkt.
Ich habe auf Proton Drive mal eine auszugsweise Präsentation hochgeladen, die Teil einer Weiterbildung an meiner früheren Blindenschule war. Es wurden z.B. barrierefreie TOM-Tests für Blinde entwickelt und siehe da, plötzlich verschwand der Unterschied zwischen blinden und sehenden nichtautistischen Kindern bzgl. TOM-Test.
Das ist so logisch das ich mich ernsthaft frage wie man mit soviel … ja ich tue mich damit echt schwer aber leider fällt mir dazu nur das ein … Ignoranz/Dummheit? Ich tue mich immer noch schwer. Ich will ja niemanden rückwirkend beleidigen, aber wie kann man denn?
Ach ich glaube ich lass es lieber Ist ja lange her und wird heute hoffentlich nirgendwo mehr so passieren.
Danke für diese faszinierenden und verstörenden Einblicke.
Für mich passt das in mein großes Wehklagen über Fremdwahrnehmung und das fast schon obsessive “Normalisieren”, welches die gesamte Psychologie, Psychiatrie und Medizin historisch prägt.
Aus einem mir unerfindlichen Grund scheinen die Fragen: “Was nimmt Patient:in wahr?” und “Was beschreibt Patient:in als hilfreich, was als Problem?” für Menschen mit Behinderung sehr nachrangige Fragen zu sein.
Puuh. Das muss ich erstmal verarbeiten, das triggert sehr tiefe Ängste und Entsetzen bei mir.
Wie schön, dass Menschen wie Du dazu menschenfreundlich forschen und lehren.
Aber nochmal etwas spezifischer zur Frage “Autismus Diagnose bei anderweitig behinderten Menschen”:
Die sozialen Auffälligkeiten im Kindesalter in der Diagnostik beziehen sich ja in weiten Teilen auf Peergroup Verhalten.
Müsste man dann nicht bei behinderten Kindern gucken, wie sie mit ihren Peers umgehen? Also z.B. ob ein blindes Kind sich gut in Gruppen mit anderen blinden Kindern integriert?
So wie bei mir z.B. die reine Tatsache, dass ich als schwuler Mann Schwierigkeiten mit anderen Männern habe nicht reicht, es aber auffällig ist, dass ich auch in Gruppen gleich alter schwuler Männer Probleme mit Integration und Kommunikation habe?
Das ist ja auch ein seltsames Kriterium. Würde bedeuten, dass ich autistisch bin, wenn ich mich möglichst von Gruppen gleichaltriger Frauen fernhalte, weil ich da überhaupt nicht klar komme.
Da stellt sich mir sowieso schon länger die Frage, wieso eine Person sich unbedingt integrieren muss, um als psychisch gesund zu gelten.
Ich denke das hat auch viel damit zu tun, ob man Menschen mit Behinderung im eigenen Bild von vornherein als „beschädigt“ rahmt, oder ob man ihnen ergebnisoffen eine chance gibt und ihre Fähigkeiten „herauskitzeln“ will und nicht nur eigene Ängste und Stereotype bestätigen. Ich hoffe, das macht halbwegs Sinn.
Wenn du BLinde nicht angemessen förders, können sie natürlich verwahrlosen und wirken dann auch dementsprechend psychisch und mental deformiert. Und dieser Förderungsgedanke kam erst ungefähr ab der Mitte des 20. jh so richtig auf.
Aber ja, es ist verstörend.
Heute Abend schreibe ich noch mehr zu den anderen Gedanken hier.
Da gebe ich Dir Recht. Bzw. Etwas weiter gefasst würde ich einfach sagen: Das ist Ableismus pur. Die Welt wir betrachtet, beschreiben, normiert und sortiert aus der Perspektive denjenigen, deren Fähigkeiten und Verhalten dem der Mehrheit möglichst ähnlich ist.
Wobei ich Seheinschränkung da ein besonders interessantes Beispiel finde, da diese ja erstmal “nur” eine einzige Eigenschaft betrifft und somit die Mechanismen des Ableismus besonders “pur” beobachtet werden können.
Bei Leuten wie meinem Freund mit multiplen Faktoren - körperlich Behinderung, Neurodivergenz, untypische sexuelle Orientierung plus in seinem Fall noch untypische Familienverhältnisse weißt du ja nie, was woran liegt…
Freue mich auf mehr Einblicke aus Deiner Welt. Das ist echt spannend zu lesen und für mich relativ unbekannt. Ich kenne glaube ich keine blinde Person enger.
Da sollte ich vielleicht differenzierter antworten.
Das offizielle Diagnosekriterium nach DSM 5 heißt:
“Defizite, soziale Beziehungen in einer Weise zu entwickeln und aufrechtzuerhalten, die dem Entwicklungsstand entspricht (außer denen mit Bezugspersonen); diese reichen von Schwierigkeiten, das Verhalten an den sozialen Rahmen anzupassen über Schwierigkeiten, sich in Rollenspiele mit anderen hineinzuversetzen oder Freundschaften zu schließen bis hin zu einem offensichtlich fehlendem Interesse an Menschen.” (Quelle)
Dieses Kriterium zeigt sich häufig, aber natürlich nicht nur, in altersuntypischen Beziehungsmustern. Und alterstypisch sind wiederum bei Kindern eine Einbindung in Gruppen gleichen Alters und Geschlechts (die “Jungs” und die “Mädels” in der Grundschule).
Bei Erwachsenen ist das natürlich differenzierter, und es ging eine Menge Gründe, weshalb Menschen ihre sozialen Kontakte außerhalb der eigenen Alter & Geschlechts-Peer Group suchen.
Dennoch würde ich aus meiner eigenen Erfahrung sagen: Die Tendenz Beziehungen eher mit Unterschieden zu suchen (egal in welchem Bereich) kommt bei autistischen Personen schon häufiger vor als bei Allist:innen.
Und für mich kann ich sagen: ich komme gut zurecht mit Gruppen älterer Frauen und unabhängig vom Geschlecht jüngeren Menschen, aber fühle mich sehr unsicher, so bald mehrere Männer in meinem Alter abwesend sind, egal welcher sexuellen Orientierung. Und ich weiß, dass wenn ich mich unmaskiert verhalte das mit gleichaltrigen Männern zu sehr seltsamen Reaktionen führt, während Frauen und jüngere sowie deutlich ältere Männer eher interessiert neugierig auf mein “Anders”sein reagieren.
Aber das ist natürlich nur meine persönliche anekdotische Evidenz.
Aber ich würde für mich schon sagen: Nicht-Einbindung in gleich alt & gleiches Geschlecht ist erstmal eine Auffälligkeit, die auf autistische Züge hinweisen kann. Aber wie immer muss man dann tiefer gehen, verstehen warum - und diese Beobachtungen ins Gesamtbild einordnen, um Autismus zu identifizieren und von anderen Gründen zu differenzieren.
Zur Auflockerung mal wieder eine Anekdote einer lieben älteren Dame aus meinem privaten Umfeld (als ich mit ihr ihre eigene Autismus+Diagnostik besprochen habe):
Frage im Test (ich glaube es war der RADDS, evtl auch CAT-q): “Ich muss mich verstellen, damit anderen Menschen mich mögen “
Dame: Nein, das trifft auf mich nicht zu.
Ich(Sie sehr gut kennend): Bist Du dir da sicher?
Dame: Ja, andere Menschen interessieren mich ja gar nicht. Warum sollte ich mich verstellen, damit die mich mögen?”
Ich: Nun, aber stell Dir mal vor Dein Ziel wäre aus irgendeinem Grund, dass andere Menschen Dich sympathisch finden, müsstest Du dich dann verstellen?
Oder aber auf ein grundlegendes breiteres Interesse an die Menschen .
Ich bin auch noch nie mit gleichaltrig sehr weiblichen Gruppierungen klargekommen. Es wurde sogar schon mal einstimmig beschlossen, dass ich in so eine Gruppierung (Damen-Stammtisch) nicht reinpasste und bitte nicht wiederkommen sollte.
Ich komme am besten in einer gesunden Mischung aus egal wie alt , egal welches Geschlecht , welchen Beruf , Status und sonst was aus .
Es geht ja um den einzelne Menschen und die Gruppe an sich und nicht wir tun denken und machen alle das gleiche und sind deswegen toll. Mir fehlt dann das einzelne Individuum.
Das kann ich gut nachvollziehen. Aber ich bin ja auch Autist
Mir ist schleierhaft wie allistische Menschen das machen mit all den Vereinen, Kegelgruppen, Elternsprechtagen, Teams etc.
Lustigerweise kann ich super Gruppen leiten, coachen, moderieren, das ist gar kein Problem. Aber auf gleicher Augenhöhe.. das klappt nicht und ich hab ganz schnell auch nicht mehr die Kraft und Motivation, es hinzukriegen.
Und ich für mich empfinde das schon als sehr verbunden mit meinem Autismus.
Aber es gibt natürlich viele Gründe, warum es Menschen so geht, nicht nur Autismus.
In allen Vereinen seit Kindheit an, wo ich bisher war hat es am besten geklappt wenn er bunt gemischt war. Ich habe mich in gleichaltrigen Gruppen, dann nie richtig zugehörig gefühlt obwohl ich dazugehörte. Mir wurden aber auch die immer gleichbleibenden Themen langweilig. Im gemischten Verein wird man ja auch zwischenmenschlich anders gefordert , der alte „knorrige Sack“ braucht was anderes wie der Teenager, der grade seinen Platz im Leben sucht.
Aber du hast schon recht der Autismus spielt bei dir noch mal ganz anders rein.
Ich wollte das auch ein wenig „positiv“ beleuchten , dass wir vielleicht nicht nur „überfordert sind“ sondern uns solche Gruppen vielleicht auch nicht weiterbringen und unser inneres sich dann so dagegen sperrt.
Es war schlimm ohne Diagnose, immer dieses Gefühl „das müsste doch irgendwie gehen“.
Jetzt weiß ich, das es nicht geht, und lasse es halt auch.
Seitdem geht es mir viel besser.
Auch wenn ich es schade finde, weil zum Beispiel in einem Chor singen mir immer Spaß gemacht hat. Und das geht halt einfach nicht.
Aber jetzt nehme ich Einzelunterricht und das ist viel besser
Also ich leide nicht darunter, dass es so ist. Aber ich habe sehr darunter gelitten, keine Erklärung zu haben und gegen dieses nebulöse „Das ist irgendwie schwierig“ anzukämpfen.
So, nachdem ich mit meinem C-Crashkurs gut vorangekommen bin, melde ich mich nochmal kurz.
Puh, ehrlich gesagt tue ich mich mit diesen Konzepten eher schwer. Zusätzlich rufen die Begriffe aus dieser politischen STrömung inzwischen reaktanz bei mir hevor, gerade wenn noch internalisiert dazu kommt. Ich weiß, wie das gemeint ist: als Feststellung systemischer ungerechter Effekte, als ungleich verteilte Macht. Für viele Menschen bringt so eine Perspektive aber nicht wirklich viele Handlungsoptionen außer ihr „Privileg zu checken“ und sich moralisch besser zu fühlen. Außerdem nimmt man den Menschen damit die Option, aus Empathie heraus zu handeln. Ich zumindest möchte aus Empathie, Anteilnahme und intrinsischer Überzeugung heraus handeln, und nicht weil ich gerade auf der privilegierten Seite stehe und mein Gewissen erleichtern will.
Klar, ich wünsche mir, dass meine Stärken gesehen werden und dass „die Gesellschaft“ mir dabei hilft, das Beste aus der Sache zu machen. Aber blind zu sein ist eine ziemlich blöde Einschränkung, das wirkt sich auf enorm viele Lebensbereiche und die Selbständige Lebensführung aus. Und wenn man das genetisch bedingte Fraser-Syndrom irgendwie heilen könnte, wäre ich sofort dafür. Es zu haben macht echt nicht viel Spaß, man kann nur das Beste draus machen. Ich sehe darin nur praktische Nachteile.
Und das ist auch ziemlich logisch. Für mich ist das natürlich erschwerend bis schlichtweg kacke, und ich sehe es auch so, dass jeder Mensch ein Recht auf Würde und Teilhabe hat. Aber ich kann es den Menschen nicht verübeln, dass sie Kulturtechniken entwickelt haben, mit denen die Mehrheit einigermaßen zurecht kommt und die für sie möglichst effizient funktionieren. Der Mensch ist bequem und sucht sich den Weg des geringsten Widerstands. Das meine ich als Feststellung, nicht als Vorwurf oder Anklage. Und deswegen kann es leider ganz schnell wieder bergab mit uns gehen, wenn wir dem Individuum zu viel Anpassung und Unbequemlichkeit abverlangen.
Ich bin beruflich im Bereich Digitale Barrierefreiheit unterwegs und ich habe noch nie etwas bei jemandem erreicht, indem ich ihn als ableistisch bezeichnet habe. Deswegen versuche ich immer, Barrierefreiheit als etwas „einzuschleusen“, von dem möglichst viele Beteiligten etwas haben und das am besten gar nicht auffällt. Beim Programmieren von Benutzeroberflächen ist es z.B. so, dass du schon allein dadurch sehr viel barrierefreier wirst, indem du hochwertigen guten Code schreibst, statt irgendwas zusammenzustümpern. Das macht den Code stabiler, nachhaltiger, für neue Teammitglieder leichter verständlich, es entstehen weniger Bugs bei der Weiterentwicklung und und und.
Stimmt, es ist wissenschaftlich gesprochen genau eine veränderte Variable und es gibt somit weniger Confounder. Allerdings hat es Auswirkungen auf diverse Lebensbereiche, in denen z.B. Schrift eine Rolle spielt oder eigenständige Mobilität. Zum Beispiel haben nur Medikamente eine Beschriftung in Blindenschrift, aber weder Kosmetik, noch Lebensmittel haben das. Ich bin auch kein ganz „purer“ Fall, weil noch Schwerhörigkeit dazu kommt. Die Schnittmenge aus beidem macht es nochmal schwieriger, weil die Kompensationsmethoden für Blinde teils auf ein sehr gutes Gehör angewiesen sind. Das beißt sich intersektional.
Im Grunde sind Hilfsmittel immer Kompensation. Ichc kann nicht verlangen, dass die welt komplett für Blinde umgebaut wird.
Ich kann Deine Haltung und Gefühle für verstehen. Und aus dieser Perspektive auch Deine Schwierigkeiten mit dem Konzept Ableismus.
Ich nutze den Begriff etwas anders:
Das würde ich individuell auch nicht tun. Für mich ist Ableismus, genau wie Rassismus, Misogynie, Queerfeindlichkeit etc. Einfach eine Analysekategorie für etwas, das in unserer Gesellschaft immer da ist, in jeder einzelnen Person, und das man auch nicht einfach wegbekommt, nur weil man „seine Privilegien checkt“.
Ich finde es nur wichtig, immer wieder darauf aufmerksam zu machen, dass unsere Gesellschaft auf mehreren sehr harten und für Individuen teils grausamen Ausschlüssen aufgebaut ist. Ich glaube nicht, dass es möglich ist, noch nicht mal theoretisch, einen Zustand ohne all diese Mechanismen zu erreichen. Aber ich glaube, dass es Enpathie, kritische Reflexion und auch politische Intervention verbesserter, wenn wir immer wieder darauf aufmerksam gemacht werden, dass dem so ist, und dass es möglich ist, im Kleinen andere Wege zu suchen.
Und es wichtig ist, ernsthaft zuzuhören, wenn Menschen von der „anderen“ Seite berichten und ihnen zu glauben, dass etwas eine Barriere darstellt, oder weh tut, oder..
In der Folge „verüble“ ich Menschen auch nicht, wenn sie den Weg des geringsten Widerstands wählen ohne das Wissen, was das für andere bedeutet. Aber wenn sie dieses Wissen von sich weisen und Bequemlichkeit rechtfertigen mit „das kann man nicht ändern“, dann finde ich das schon schwierig und zumindest lehne ich das dann persönlich ab.
Mein Bewusstsein, behindert zu sein, ist so neu, dass ich da noch nicht gut argumentieren kann - ich lerne vor allem. Aber aus anderen Bereichen habe ich deutlich mehr Erfahrung.
Zum Beispiel habe ich Jahrzehnte lang schwule Männer beobachten können - sowohl diejenigen, die versucht haben, „unauffällig“ und ohne Ungemach für die Mehrzeit zu ihren Rechten zu kommen, als auch diejenigen, die Homophobie klar benennen und Veränderung einfordern.
Zumindest individuell geht es der zweiten Gruppe eindeutig besser. Und ich würde auch sagen, dass sie mehr erreicht hat.
Jetzt ist das so scharf geworden, das wollte ich gar nicht. Verzeih bitte.
Ich finde Deine Perspektive sehr verständlich und hilfreich und interessant. Ich wollte eigentlich nur erklären, dass ich den Begriff etwas anders verwende und auf der Basis eine etwas andere Perspektive als hilfreich für mich empfinde.