Hallo zusammen,
ich habe mich hier angemeldet, weil die Forenkultur hier relativ angenehm auf mich wirkt und weil mich vor allem privat, aber auch beruflich Themen beschäftigen, die mit Neurodivergenz evtl. zu tun haben. Offiziell bin ich aber NT und bin auch kein großer Fan davon, diagnostische Kategorien aufzuweichen, nur um endlich eine Schublade für die eigene individuelle Schneeflockigkeit zu haben. Nützlich kann es trotzdem sein, wenn verschiedene Gruppen etwas ähnliches brauchen oder ähnliche Bedürfnisse haben.
Bedingt durch mein Fraser-Syndrom bin ich von Geburt an blind und mittel- bis hochgradig schwerhörig. Deutliche Verbesserungen bei Hörgeräten kamen erst nach meiner Jugend und medizinische Eingriffe haben wenig zur Besserung in beiden Sinnesmodalitäten beitragen können. Die HG haben mir trotzdem dabei geholfen, sehr verständlich sprechen zu lernen. Was mich schon sehr lange umtreibt, ist die Frage, ob und wie sich eine so veränderte Wahrnehmung von Anfang an auf die kognitive Entwicklung auswirkt. In der Blindenkultur habe ich bisher sehr selten einen ehrlichen und reflektierten Umgang damit erlebt, und die meisten anderen Menschen trauen sich kaum, sich da mal wirklich hineinzudenken. Ein zu großer Schrecken wohnt dem Thema inne und viele sind auf das Scheindilemma „Integrier dich oder verschwinde“ getrimmt.
- Man muss stetig ein inneres Modell der Welt im Gedächtnis halten und aktualisieren, weil das gezielte Einholen von Updates langwieriger ist.
- Updates über Umgebungsveränderungen kommen z.B. durch akustische Events rein, die bei ihrem Eintreffen ausgewertet und ins Modell integriert werden müssen. Dies setzt Vigilanz voraus.
- Das Modell muss immer wieder korrigiert werden. Naiven Empirismus im Sinne von „Ich glaube nur, was ich sehe oder mir direkt vorstellen kann“ kann man sich da gar nicht leisten. Ich muss mich ständig auf Konzepte einlassen, die mir nicht unmittelbar zugänglich sind und rege mich schnell über Leute auf, die dazu nicht bereit sind. Ich bin zwar kritisch, aber pauschales Misstrauen würde überhaupt nicht funktionieren.
- Durch schlechte akustische Bedingungen muss man es irgendwie schaffen, von lückenhaftem Input auf den Sinn zu schließen. Ich kann mich sehr schnell in diverse Dialekte, Gendersprache und andere Sprachspielereien einhören. Wenn ich eine Sprachmode mal nicht mitmache, liegt das am Wollen und nicht am Können.
- Je sparsamer sich das Modell im Kopf abbilden lässt, desto mehr Welt passt in den Kopf, desto bessere Vorhersagen kann man treffen und umso leichter fallen die Updates. Dabei hilft es, induktiv Regeln, Prinzipien und Konzepte zu erschließen. Induktives Schließen ist ein zentrales Merkmal allgemeiner Intelligenz.
- Abstraktes deduktives Denken wiederum in formalen Zusammenhängen ist extrem effizient, weil dadurch eine Menge an sensorischen Zwischenergebnissen übersprungen werden kann. In der Grundschule waren für mich Grammatik und Musiktheorie eine wahre Erleuchtung. Für ITler: Wenn ihr einen App State habt, wo auch Derived State dranhängt, ist es ggf. sinnvoll, den Derived State erst nach einer Serie von Updates auszurechnen und nicht nach jedem Update-Schritt.
- Komplexe räumlich-visuelle Vorstellungen sind hingegen extrem mühsam im Arbeitsgedächtnis zu halten und mental zu manipulieren.
Zum Kompensieren dieser Voraussetzungen habe ich einen abstrakten und analytischen Denkstil entwickelt, der mich in der Kommunikation mit anderen oft vor Schwierigkeiten stellt und durch den mir Menschen oft das Gefühl geben, dass ich anders oder sogar falsch sei. Wenige wollen wirklich Zusammenhänge durchdringen und sich von der konkreten Repräsentation lösen, sondern einfach ihre gewohnten Symbole reproduzieren (Begriffe, Formulierungen, Narrative). Bei irgendwelchen Entwicklungsideen, Ereignissen usw. malt sich mein Geist schon die Implikationen und Dynamiken aus, während man vielen Leuten alles auf Kindergartenniveau schmackhaft machen muss. Vieles an Marketing und Werbung, insb. im B2B-Bereich, ist für mich Abturn statt anregend, weil nur hohle Wertungen herumposaunt werden ohne die Rahmenbedingungen klar zu nennen. Dito Stellenausschreibungen. Gute Ideen und Potential erkenne ich an den Eckdaten, da kommt die Motivation von ganz allein. Viele wollen konkrete Handlungsanweisungen statt Strategien oder übergreifende Prinzipien, da schützt auch kein Studium davor. Ich will das Gegenteil, auch weil konkrete Vorgaben fast nie zu mir passen. Viele Leute brauchen 100 konkrete Beispiele, um z.B. ein philosophisches Prinzip zu festigen. Ich erfasse den Kern i.d.R. zügig und probiere es in verschiedenen Situationen aus. Ich fühle mich unwohl, wenn Leute zu oft durch irgendwelche sozialen Codes oder Rituale ihre Zugehörigkeit gegenseitig versichern. Ich kann zwar vom Perfektionismus abweichen, aber dann sollte man auch ehrlich zugeben, dass es gerade ein Spaßprojekt oder Testbalon ist und nicht noch so tun, als ob man irgendeinen Schein gegenseitig mühsam wahren müsste. Das hat mich meine letzte Anstellung aufgeben lassen, verstanden haben das nur wenige.
Ob das nun Hochbegabung ist oder irgendeine andere Meise, wird durch die Blindheit sowieso eher schwierig zu diagnostizieren sein. Ich frage mich aber schon länger, ob und wann solche Sinnesbehinderungen eine Art geistige Deformation Professionelle bewirken können, die teils wie neurodivergenz aussehen kann. Ich kenne mehr Forschung zu dem Thema, Autismus-Fehldiagnosen bei blinden Kindern zu vermeiden. Das hat dann aber auch mit sehr dämlichen Verfahren und Kriterien zu tun (Blickkontakt, visueller TOM-Test). Entwickle einen haptischen Test, et voilà, die TOM ist da. Nun sind die meisten Blinden nicht geburtsblind, was die Fragestellung noch einmal empirisch erschwert. Auf der Blindenschule bei uns war so etwas nie Thema und es gab viel Druck, der sozialen Normalität zu genügen. Die Sichtweise ist eher: „Wir sind schon behindert genug, da braucht man nicht auch noch Dachschäden zusätzlich.“” Als Jugendliche hätte mir eine solche Ursachenforschung wahrscheinlich bei der Selbstakzeptanz geholfen. Bis auf Christina Heil sind mir kaum Profis bekannt, die sich von der Seite aus mit dem Thema befassen. Vielleicht ist der Link aber auch zu vage und schwierig erforschbar, sodass ich diese beiden Bereiche wirklich als zwei getrennte Baustellen behandeln muss. Beide gleichzeitig zu haben nervt mich zunehmend.
Falls euch das Thema hier im Forum zu weit hergeholt ist, habe ich vollstes Verständnis dafür.