ADHS und Bewerbungen

Hallo zusammen,

ich habe heute eine Absage für einen Job bekommen, den ich wirklich gerne gehabt hätte und wo ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, nicht dafür bestens qualifiziert gewesen zu sein. Das Ding ist, dass ich das oft habe und bei den Stellen, wo ich genommen werde, auch gut performe, geschätzt werde, mich aber oft langweile und überqualifiziert finde. Da es in der Softwareentwicklung nicht gerade zu viele Entwickler gibt, und die Absage nach einem Gespräch mit

  1. Chef
  2. Team
  3. ‚Deep dive‘ (Vorstellung einer Arbeitsprobe und gemeinsame Besprechung)

Kam, nehme ich an, dass sie es weder auf meine Persönlichkeit (sonst wäre ich nicht in die dritte Runde gekommen) noch auf ‚es war halt jemand anders besser‘ geschoben haben, weil es niemand anderen gab und das ja auch explizit nicht die Begründung war. Das Team (welches vom Chef Entscheidungsgewalt bekommen hat) scheint tatsächlich meine Leistung gemeint zu haben.
Ich habe weder das Gefühl gehabt, schlecht performt zu haben, noch dass ich wesentliche Kritik bekommen habe, und ich bin mit einem guten Gefühl aus dem letzten Gespräch. Ein kleiner Bug, den ich selber gezielt gesucht und gefunden habe, konnte schnell geklärt und gefixt werden. Vor dem Hintergrund, dass es ein Zeitlimit gab, an das ich mich gehalten habe und die Bedingungen sehr künstlich waren, finde ich das vertretbar, wenn damit richtig umgegangen wird und Strategien zur Vermeidung solcher Fehler aufgezeigt werden.

Meine Frage an euch:
Wie kann es sein, dass ich mich in meinem Beruf und in meiner Leistung sicher fühle und das gespiegelt bekomme, aber bei Bewerbungen in einer ziemlich unterbesetzten Branche immer wieder das Feedback bekomme, dass es nicht reicht. (Relativ undifferenziert allerdings)

Ist das typisch für ADHS? Ich bin nach außen hin eher unauffällig, wenn auch mit Symptomen wie Wortfindungsschwierigkeiten etc.

Ist das, weil neuronormalos anderen Fokus/andere Bewertungskriterien haben? Weil die sehen, ‚oh, da ist aber was im Code nicht aufgeräumt, der kann bestimmt nicht programmieren‘ oder ‚so unaufgeräumten Code (im Sinne von „es existieren noch unbenutzte Dateien , da ist was nicht korrekt eingerückt“, nicht „schlecht aufgebaut“) wollen wir aber nicht‘ (obwohl ich transparent eingeräumt habe, dass ich mich zeitlich verzettelt habe und dann nach hinten raus nicht mehr die größte Luft hatte, die Aufgabe an sich aber funktional und architektonisch korrekt gebaut wurde, sowie Einschränkungen transparent/selbstkritisch von mir eingeräumt.)

Oder sind Bewerbungsprozesse wie parlamentarische Demokratie? Menschen tun sich schwer, die besten zu finden und adhsler sind schonmal direkt suspekt?

Dass die Firma sich aktuell im Prozess nicht mit Ruhm bekleckert hat, was Feedback und Timing angeht (letzter Termin war am Mittwoch vor 9 Tagen, Absage kam vor zwei Stunden mit dem Verweis ich könne ja einen Entwickler anrufen, der zwar im Team ist, aber beim entscheidenden Termin nicht anwesend war) ist jetzt nicht hilfreich, um die Fragen zu klären, aber es ist auch ohne den schleppenden Prozess bei anderen Firmen ein wiederkehrendes Muster:
Bei den Jobs, in denen ich arbeite, kann ich mir nicht vorstellen, dass ich ungeeignet wäre für die Jobs, auf die ich mich bewerbe und bei dem Grad an Entwicklermangel kann ich mir nicht vorstellen, dass immer ein besserer parat ist. Besonders, wenn das noch nichtmal die Begründung ist. Bei den Jobs, auf die ich wirklich Bock habe, weil sie auf mich einen professionellen anspruchsvollen Eindruck machen, werde ich abgelehnt, und bei den Jobs die ich bekomme fühle ich mich vom Niveau her fehl am Platze…
Ich hab nen Abi Schnitt von 1,1 und Leute in meinem Umfeld sagten, ich sollte mich Mal auf Hochbegabung checken lassen. Versteht mich nicht falsch, deswegen bewerbe ich mich nicht als Raketenwissenschaftler, sondern als stinknormaler meiner Erfahrungsstufe entsprechender Senior Web Entwickler. Ich will nicht Mal wesentlich mehr Geld, als das was ich jetzt bekomme. (Eigentlich gar nicht, aber 5% Verhandlungsmasse hab ich dann doch einkalkuliert)

ADHS-mäßig lange Frage. Danke, wer auch immer es bis hierher geschafft hat…

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Danke, dass du diesen ausführlichen Beitrag geschrieben hast. So wirklich weiterhelfen kann ich dir nicht mit deinem Problem, aber ich fühle mich gerade extrem gut verstanden. :laughing:

Meine Vermutung wäre, dass es sogar weniger am ADHS liegt und mehr an einer potentiellen HB. Stellenausschreibungen sind ja oft eher schwammig und allgemein formuliert, obwohl die Firmen vermutlich in Wirklichkeit viel spezifischere Vorstellungen davon haben, was sie wollen. Mit komplexem Denken, viel visionärer Vorstellungskraft usw. lässt sich in solche Stellen ganz viel Potential hineinlesen, was sich alles daraus machen ließe und wie das Große Ganze aussehen könnte. Wenn du diese Art des selbständigen Denkens im Bewerbungsprozess signalisierst, kann das die Leute abschrecken, weil sie lieber jemand wollen, der nicht zu groß denkt und zu viel aufmischt, sondern sich einfügt (Dienst nach Vorschrift). Da muss kein ADHS hinzukommen, es reicht schon zu viel Begeisterung und Commitment. Sobald es eine größere Firma ist, geht Kompetenzologie leider oft vor Qualität und es gibt blöde zwischenmenschliche Indirektionsebenen, so meine Erfahrungen. Vielleicht musst du dich deutlich braver und ungefährlicher geben. Jemand, der schnell und gewissenhaft Stupidiumsarbeit ausführen kann. Wenn man erst mal drin ist, kann man immer noch versuchen, Rahmenbedingungen für sich umzustrukturieren. :wink:

Im Studium hatte ich ein Praktikum bei einer Firma gemacht, die mal gut funktioniert hat und dann von einer größeren gefressen wurde. Zudem wurde Scrum mit der Brechstange eingeführt, also komplett verkünstelt, echt absurd. Nur zur Sicherheit: Ich will nicht agile Methoden bashen. :wink: Die mussten jeden Morgen um 11:00 alle auf den Flur, sich im Kreis aufstellen und jeder erzählt etwas von gestern. Das war die Vorstellung eines Daily. Die meisten dort waren unmotiviert, es ging nicht vor oder zurück, zu wenig Autonomie und zu viele Fürhungsentscheidungen um mehrere Ecken herum. Also wenn du einen interessant klingenden Job nicht bekommst, kann das auch viele Gründe haben, die nicht in deiner Person liegen, sondern in der Unternehmensstruktur.

So, HBmäßig lange Antwort. Ich hoffe, du kannst etwas damit anfangen.

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Und die Sache mit den Einrückungen: Wäre das nicht die Aufgabe der IDE und von Prettier, Code konsistent zu formatieren?

Hi,

Danke für die schnelle Antwort, dir schonmal sehr weiterhilft.

Was die Formatierung des Codes angeht: ja, das macht natürlich zum großen Teil die IDE, aber es gibt ja noch Entscheidungsfreiraum. Z.b. habe ich etwas gewöhnungsbedürftig verschachtelt einen decorator-stack instanziiert. Ich habe auch erklärt, dass man das evtl. Anders machen könnte, nicht nur vom Format her, sondern auch flexibler konfiguriert (was aber die Probeaufgabe sowas von gesprengt hätte).

Ich hätte dir jetzt erstmal entgegnet, dass ich gar nicht groß auf die kacke gehauen habe, sondern einfach einen architektonisch durchdachten handwerklich guten, erweiterbaren Code abgegeben habe. Aber vielleicht ist das schon das Problem. Vielleicht habe ich gar nicht gemerkt, dass ich mich damit schon überqualifiziert habe und einfach meine Gegenüber und die Stelle überschätzt? (Was aber echt übel wäre, wenn man nicht fähig wäre, mir das zurückzumelden.)

Ansonsten macht(e) die Firma wirklich einen sympathischen, menschlichen und zumindest von der Perspektive her geordneten Eindruck. Ich kenne sogar zufällig deren organisatorische Coach recht gut persönlich. Zumindest gebe ich einiges auf ihre Meinung und für sie war die Firma eine absolute Empfehlung.

Liebe Grüße

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Wenn es eine interessante Firma mit einem hohen Qualitätsanspruch ist, kann die Aufgeräumtheit des Code tatsächlich ein Faktor bei der Bewertung sein, den man nicht vernachlässigen sollte. Die Sache ist ja, dass Code nicht nur einmal von einer Person ausgedacht und geschrieben wird, sondern dass viele Menschen über viele Jahre an diesem Code arbeiten und ihn leicht lesen und erfassen müssen. Chaoscode kostet in Review-Prozessen die Beteiligten viel Zeit/Produktivität, und „toter“ Code ist eine unnötige Belastung. Falls du eigentlich kompetent bist, es aber an diesen Dingen noch hakt, könnte es sich für dich wirklich lohnen, dir Methoden aus DevOps und Qualitätssicherung anzueignen. Das entlastet auch beim Denken, IDEs wie Webstorm sind da schon eine große Hilfe. Erfolgreiche Open Source basiert auch stark auf dem Prinzip, dass man immer an sein Zukunfts-Ich denkt und an die Leute aus dem Team, die das eigene Kunstwerk auch nach einem halben Jahr pause noch verstehen können müssen.

Ich hab das hier nochmal so geschrieben, weil mir auch schon viele Senior Devs begegnet sind, die sich bei dem Thema nicht so fortgebildet hatten. Wenn du darin schon fit bist, desto besser.

Ach geil, ich kann mir das so lebhaft vorstellen. :wink:

Nein, das fühlt sich für einen selbst gar nicht nach „auf die Kacke hauen“ an. Schon überhaupt das Thema Architektur ist vielen schon zu viel und kann als gefährlich empfunden werden. In Architektur, Schnittstellen, Requirements usw. zu denken gibt dir die Möglichkeit, alles losgelöst von der Implementierung zu überblicken. Je nach dem, mit wem du es zu tun hast, kann das schon zur Überforderung führen, weil Leute an Implementierungsdetails festhalten und nicht abstrahieren können oder wollen.

Das ist der HB-Fluch: Man will nicht protzen oder angeben, sondern es einfach nur möglichst gut machen.

Naja, also wie gesagt, 98% macht die IDE und wenn wir uns darüber streiten müssen, wie man einen hartgecosdeten decorator Stack formatiert, der mehrere Konstruktoren ineinander verschachtelt finde ich das schon müßig, weil das Beispiel einfach unrealistisch ist.
Und ansonsten habe ich vielleicht noch ungenutzten Boilerplate Code drin gelassen. Also unwichtige generierte Dateien, nicht verwirrender unnützer Code in wichtigen Klassen.
Das sind finde ich Dinge, über die man reden kann, die aber auch evtl. Etwas abstrahiert werden können.
Aber da sind wir wahrscheinlich im Bereich Bewertung/priorisierung und ADHS.

Mein Gehirn abstrahiert das weg und denkt sich „das ist klar, dass das ein Artefakt einer Testaufgabe ist“ und der neuronormalo denkt sich " was’n das für ne schlampe"

Meine Interpretation. Und das schlimme daran ist, dass mit mir halt noch nicht Mal jemand drüber redet.

Furchtbar!

Ich danke dir so für deine Worte!

Jetzt bin ich sogar fast erleichtert, dass das nicht geklappt hat, weil ich wahrscheinlich fast vom Regen in die Traufe gekommen wäre und nur scheinbar in ein kompetentes Team gekommen wäre.

Bevor sie mir Codebeispiele von sich zeigen konnten, bin ich ja rausgeflogen.

Zur Mauer des Schweigens („Keiner redet mit mir“) kannst du dich evtl. bei der Antidiskriminierungsgesetzgebung und einigen anderen Verrücktheiten im Personalwesen bedanken. Zu mir würde auch niemand etwas sagen, wenn meine Blindheit als Risiko und Abschreckung empfunden wird. Da gibts nur Ausreden.

Ja, das hört sich wirklich konstruiert an und bei solchen Testungen könnte auch deutlich klarer kommuniziert werden, was genau an Fähigkeiten getestet werden soll. Ob du deine Skills im Wählen von Design Patterns unter Beweis stellen sollst, oder ob du möglichst nah an den Erwartungen der Reviewer bleiben sollst, würde auf ein ziemlich unterschiedliches Ergebnis hinauslaufen. Das würde schon viel Kopfzerbrechen herausnehmen, wenn das getestete Zielkriterium deutlich wäre.

Wenn du mehr ehrliches Feedback zu deinem Code brauchst, wäre es vielleicht wirklich eine Option, in Open-Source-Projekten mitzumachen. Je nach Projektkultur kann man sich beim Einreichen eines PR eine ausführliche Diskussion liefern, da gibts mit Glück mehr Feedback als im Bewerbungsprozess.

Bevor ich dir jetzt ausführlich antworten kann würde ich wissen, ob es eine Team oder Einzelarbeit war. Du schreibst ja auch, daß ein Team dabei war.

Ich hab Schon ein Bauchgefühl was da gelaufen ist, bzw. wenn ich es richtig verstehe ja irgendwie ofte bei dir gleiche Muster wie zu sagst zu haben scheint.

Wie funktioniert bei die die Deckung deiner Selbstwahrnehmung und die Fremdwahrnehmung? Hörst du öfters, wenn du Situationen beschreibst und überrascht bist, daß andere die Situationen (auch privat) ganz anders empfunden haben?

Falls es aus meinen anderen beiträgen noch nicht klar wurde: Das versteht sich von selbst und gehört auf jeden Fall zu einem Senior dazu. Mir ging es eher um die genannten Edge cases.
Darum geht es ja auch bei der Architektur: Ich baue kleine, lesbare, sinnvolle, wiederverwertbare Elemente.

Das ist inzwischen klar geworden, und als ich den Beitrag geschrieben hatte, waren die anderen ja noch nicht da. Ich gehe nicht von Inkompetenz aus, versuche solche Sachen aber vorher abzuklären. Du gehst wie selbstverständlich von deinen hohen Ansprüchen an dich aus, aber diese Ansprüche hat längst nicht jeder.

Die Arbeit war vorab allein. Eine Woche Zeit, der Quellcode wurde währenddessen hochgeladen. Die Besprechung war im Team.

Im großen und ganzen finde ich bei Freunden schon die Bestätigung, dass meine Wahrnehmung nicht ganz falsch war. Aber klar wird die ein oder andere Fehleinschätzung dabei gewesen sein, ich ticke ja schon anders als die meisten Menschen.

Ich verstehe aber nicht ganz, worauf du hinaus willst:
Dass ich die Situation nicht richtig eingeschätzt habe? Also Kritik nicht als solche wahrgenommen oder was denkst du?

Was die Qualität meiner bezahlten Arbeit angeht kann ich mich in den letzten Jahren auf jeden Fall nicht an Kritik erinnern.

Ich finde es aber auch nach wie vor beeindruckend wie wenig neuronormalos da von ihren Erwartungen abweichen können. Also, wenn ich so drüber nachdenke kann ich mir vorstellen, dass einige Leute da nicht über ihren bewertungskriteriumtellerrand hinausschauen können und eben nicht sagen können: OK, das ist nicht das, was ich wollte, aber er hat gezeigt, dass er was drauf hat…

„Wir wollten doch jemand für React und Tailwind, was kommt der hier mit was anderem um die Ecke!“

Das mit den nicht gezeigten Codebeispielen spricht dann sogar auch für Open source, weil man sich dadurch Code angucken kann, an dem die betreffende Firma arbeitet. Dadurch kann man eher ein Feeling dafür bekommen, wie die arbeiten.

Was ich im übrigen gar nicht als gutes Zeichen sehe. Ich wäre bei meinem jetzigen Arbeitgeber gerne öfters gechallenged worden.

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Würde ich auch schön finden, wenn „was drauf haben“ mehr gewürdigt werden könnte und einfach etwas mehr Risikobereitschaft und Offenheit für Potential da wäre. Glaub das liegt aber sogar nicht allein am Neurothema, sondern hat teils auch mit Deutschland und der Arbeitskultur zu tun.

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Ja, also offiziell ist das mit dem nicht gezeigten Quellcode an Zeitmangel und Krankheit gescheitert. Keine Ahnung, ob die Interesse daran haben, was zu verstecken. Ich werde es schon nicht von deren Bildschirm klauen…

Wie gesagt, ich bin gespannt, was da noch an Feedback kommt, was ich definitiv nächste Woche einfordern werde…

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Definitiv. Es ist furchtbar eng. Und das habe ich der Firma in der Weise eigentlich nicht zugetraut. Vor allem weil die Anforderungen eigentlich schon ziemlich gut gematcht haben. Ich meine, das war ungefähr das dritte Mal in drei Jahren, dass mich deren headhunterin angemailt hat…

Interessant. Du meinst, das könnte also der Grund für floskelhafte, unbegründete Absagen sein, mit Verweis auf ein telefonisches Feedback Gespräch?
Selbst, wenn es theoretisch um Kompetenz geht? Aber weil es wahrscheinlich eben nicht um Kompetenz geht, darf mir das keiner per Mail schreiben. Das klingt sinnvoll. Ich bin gespannt. Und Werd jetzt Mal ins Bett.

Noch einmal @tamaracha , riesigen dank, du hast mir echt den Abend und das Wochenende gerettet!

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