ADHS und Lesen

Das ist ein ganz schwieriges (aber spannendes) Thema, das mich schon länger beschäftigt.

Man muss da m. E. deutlich unterscheiden zwischen (Achtung, laienhaft…) verschiedenen Ebenen und Anforderungen.
Lesen ist ja eine Kulturtechnik, die sich entlang einer physiologischen Norm entwickelt. Menschen mit ADHS weichen aber von dieser Norm ab.

Ebenen und Anforderungen:

  • der Abstraktionsvorgang des Lesens, also die Umsetzung von zunächst bedeutungslosen abstrakten Zeichen in eine Vorstellungswelt - da kann Lesen durch nichts ersetzt werden. Die Schwelle, die hier eingezogen ist, ist zum einen die Schwelle des mühelosen Entzifferns der Zeichen auf Basis eines allgemein verfügbaren Vokabulars ABER auch: das Kontrollieren der Augenbewegungen. Und das ist wichtig, wenn man das in Bezug zu ADHS setzt. Das Dopamin ist da noch überhaupt nicht im Spiel. Wie man an dem Artikel sieht, ist das Thema aber noch nicht wirklich auf dem Schirm.

Die Schwelle und damit der Aufwand, den sie betreiben müssen um einen Benefit aus dem Lesen zu erhalten ist für viele Menschen mit ADHS erhöht
a) über die abweichende Blicksteuerung (andere Sakkaden) und b) die fehlende Motivation mangels … all der feinen Stöffchen von denen wir hier immer sprechen.
kompensiert wird das durch Phantasie und Neugier.

  • je anspruchsvoller die Literatur, desto mehr „Training“ braucht es, das Vokabular erweitert sich - aber darüber hinaus, auch die Komplexität der Konstruktion, also die Semantik (?).

  • auf einer noch „höheren“ Ebene: abstrakte Zeichen bezeichnen abstrakte Sachverhalte, wie das z.B. im Bereich der Wissenschaft, wenn zur Entzifferung über das reine Lesen spezielle Kenntnisse oder ein neues Vokabular nötig sind, um die Zeichen zu interpretieren. Meist ist die Semantik ebenfalls deutlich komplexer. Wenn man schon auf Basis der Grundfunktionalität scheitert hat man einen deutlich höheren Aufwand, das heißt: man ist nicht nur weniger motiviert (woran ich übrigens ohnehin zweifel) sondern man braucht MEHR Motivation als die Norm, auf die die Technik des Lesens ausgerichtet ist.

Das Problem ist, dass Menschen mit ADHS oft schon auf der scheinbar einfachsten Stufe scheitern.
Der Artikel stellt in den Raum, dass Menschen mit ADHS mehr Lesen sollen weil sie damit die Aufmerksamkeit trainieren.
Das halte ich für grundfalsch.
Auf die Weise erreicht man höchstens, dass Kinder mit ADHS überhaupt nicht mehr lesen wollen. WEIL sie vernünftig abwägen, wie das Menschen nun mal machen und Aufwand und Nutzen gegenüberstellen. Zu dem höheren Aufwand kommen eben dann noch negative Erfahrungen von Zwang und Drill dazu… brrrrr…

Menschen mit ADHS und Leseschwierigkeit brauchen ein gutes, fundiertes Lesetraining - schon zu Beginn ihrer Lesesozialisation.
Denn - und das kann ich aus eigener Erfahrung sagen - GERADE wenn sie als Kind viel aber falsch lesen lernen, scheitern sie dann auf den höheren Stufen.
Ich fände es interessant, wie es wäre, wenn man bei allen Kindern zunächst die Augenfunktion testet und ihnen Lesen dann auf einer individuellen Basis gleich richtig beibringt.

Computerspiele können auch Welten erschließen - wenn sie denn intelligent sind. Und mittlerweile gibt es viele intelligente Spiele.
Oftmals kommen sie der Funktionalität von Menschen mit ADHS näher - das könnte man auch wertschätzen und darauf aufbauen.