Bei mir wurde vor kurzem nach einem langen Leidensweg ADHS diagnostiziert - und das, „obwohl“ ich mitten in der Promotion stecke, die (zumindest von außen betrachtet) bisher auch einigermaßen läuft. Nun stehe ich vor der Herausforderung, meine über Jahre gewachsenen Bewältigungsstrategien durch andere Formen der Selbstorganisation zu ersetzen. Bisher hatte ich meine Strategien an den Erfahrungen meiner Kolleg*innen orientiert; seit der Diagnose merke ich aber immer mehr, dass meine Probleme selbst mit Medikamenten komplett anders gelagert sind als bei einer „neurotypischen“ Doktorandin. Ich verzettel mich wahnsinnig leicht, komme vom Hundersten ins Tausendste, habe viele Ideen und kann keine davon umsetzen, und bin gefühlt immer einen Schritt hintendran. Gibt es hier Gleichgesinnte mit ähnlichen Erfahrungen, die Lust haben, sich auszutauschen?
Herzlich willkommen liebe@Otterin,
Ich promoviere nicht, bin aber an einer Universität beschäftigt. Um mich zu organisieren schreibe ich mir Wochenpläne und versuche daran festzuhalten. Im Laufe der Jahre habe ich viele Doktorand*innen erlebt und mitgelitten. Gut dass Du diagnostiziert bist und Medikamente nimmst. In welcher Phase bist Du? Wissen andere von Deiner Diagnose und unterstützen sie Dich mental?
Mein Partner hat vermutlich auch ADHS und hat promoviert. Er hat sich vor allem zum Schluss beim Zusammenschreiben in den Details verloren. Der Quellencheck ist wahrscheinlich nie ausführlicher erfolgt. Er musste endlich mit der Diss fertig werden und hat da viel Druck und Frustration erlebt. Ich hoffe, das entmutigt Dich nicht. Er hat es ja geschafft und Du weißt, es kann ein steiniger Weg sein.
Wenn deine bisherigen Strategien funktioniert haben (bis zu diesem Punkt waren sie ja offensichtlich mehr oder weniger erfolgreich), dann solltest du sie jetzt nicht während der Arbeit alle hinterfragen und/oder über Bord werfen.
Eine ordentliche Zitiersoftware hast du wahrscheinlich schon in Nutzung?
Du hast durch die Promotion schon Druck genug und solltest dir jetzt nicht noch zusätzlichen Druck aufladen.
Denn Verhaltensänderungen bedürfen Zeit und Geduld und beides hast du gerade nicht. Daher würde dein Ansinnen, dein Verhalten jetzt auf Teufel komm raus ändern zu müssen und das sichere Scheitern nur zu Frustration und Verzweiflung führen.
Lebenslang eingeübte Copingstrategien lassen sich nicht von Heute auf Morgen ändern und das Verzetteln werden viele ADHSler trott Medis und Therapie nie ganz ablegen können.
Das einzige was kurzfristig helfen könnte, wäre ein Coach, mit dem du die Milestones festlegst und der dich engmaschig kontrolliert, ob du zeitlich im Plan bleibst. Das bringt etwas externe Kontrolle und sorgt dafür, dass deine Ausarbeitungen nicht völlig aus dem Ruder laufen.
Viel Glück!
ps: ich habe zwar nie promoviert, bin aber ein alter AD(H)S-Hase
Ich sehe im Anforderungsprofil schon eine Änderung zum bisherigen Weg: Der Fristendruck ist - gerade, wenn Doktorvater/-mutter eher ein Ausfall sind - deutlich anders, da weniger engmaschig und für ADHS sehr schwer zu handeln. Und der Druck ist auch nicht mehr so existentiell wie beim Abschluss selbst. Also ein anderer Hormoncocktail, der andere Strategien erfordern kann.
Das scheinen mir alles private Anbieter, die in die - teils erheblichen - Betreuungslücken stoßen, aber wenn sie helfen und einen Rahmen und eine Infrastruktur bauen, haben sie ihre Berechtigung.
Danke für deine Antwort! Ja, die habe ich zum Glück schon seit einer Weile. Viele meiner Strategien haben zwar insofern „funktioniert“, als dass sie mich immer irgendwie zum Ziel gebracht haben, mir aber absolut nicht gut getan…
Vielen Dank für deine Gedanken. Da hast du absolut Recht, es wird sicherlich eine Weile dauern - meine Promotion allerdings leider auch . Der Punkt mit der externen Kontrolle ist hilfreich, vielleicht kann das auch in stressigen Phasen immer mal wieder eine Person aus der Familie übernehmen.
Danke für deine Antwort und toll, herzlichen Glückwunsch an deinen Partner zum Abschluss
Wochenpläne habe ich bereits versucht, allerdings überfordert es mich jedes Mal, wenn dann doch was länger dauert oder was Unvorhergesehenes funktioniert - dann bin ich immer komplett raus. Wie gehst du mit solchen Situationen um?
Ich bin im dritten Jahr und habe noch 2 vor mir, d.h. rein zeitlich bin ich über der Hälfte, aber durch ADHS und Covid bin ich immer noch mit Datensammeln beschäftigt. Mein Betreuer weiß von der Diagnose und unterstützt mich, kennt sich allerdings gar nicht damit aus und kann deshalb nicht mehr machen als Verständnis aufbringen. Hast du deinem Umfeld davon erzählt und wenn ja, mit welchem Ziel?
Genau, es muss ja kein professioneller Coach sein, aber es sollte jemand sein, dem du vertraust und bei dem es dir nicht unangenehm ist, dass du ihm/ihr die Kontrolle übergibst. Außerdem sollte diese Person für dich eine Respektsperson sein, die doch etwas Druck insofern aufbauen kann, dass es dir etwas unangenehm ist, wenn du den Milestone nicht erreichst, denn sonst läuft das Coaching ins Leere.
Ich habe das mal mit einer Freundin bei einem meiner Umzüge gemacht. Ich habe mich ihr und ihrer Struktur komplett untergeordnet. Sie hat sogar die Pausen festgelegt.
Das hat super geklappt und es war der beste Umzug, den ich je erlebt habe.
Keine Heulkrämpfe! Keine Nachtschichten! Und kein Komplettzusammenbruch nachdem alles erledigt war.
Ich weiß, dass man dies nicht mit einer Promotion vergleichen kann, aber es zeigt auf, wie es laufen kann, wenn man ein Stück weit die Kontrolle abgibt und sich steuern lässt.
Das Unvorhergesehene ist natürlich oft Alltag , ich halte nicht streng an diesen Plänen fest. Dennoch bieten sie eine gute Struktur. Ich hake an, was erledigt ist. Der Rest wird neu priorisiert oder angeordnet. Das stört mich allerdings nicht so sehr, weil ich damit auch Raum für „verträumte“ Tage schaffe. Früher haben sich unsere Doktorand*innen regelmäßig getroffen und realisierbare Monatsziele festgelegt. Und beim nächsten Treffen geschaut, ob es geschafft wurde oder wie Einzelne unterstützt werden können. Wenn Dein Doktorvater Bescheid weiß ist das prima. Ansonsten ist wohl der Anteil der ADHSler in der Wissenschaft nicht so gering. Das kann ich mir sogar gut vorstellen. Mir macht das auch immer wieder Freude, besonders wenn es neue faszinierende Projekte gibt. Und die verpeilten Professoren sind ja schon sprichwörtlich.
Da ich noch nicht diagnostiziert bin, rede ich nur mit engen Kollegen darüber, weil mir immer häufiger der Berufsalltag schwer fällt und die anderen das merken. Letztens habe ich einer Doktorandin von dem nervigen Computertest während der Diagnostik erzählt. Da meinte sie: ah, das klingt ja so wie der Test den ich gemacht habe, als bei mir ADHS festgestellt wurde Cool oder? Sie ist Türkin und sie war 5 bei der Diagnose. Sie nimmt keine Medikamente, raucht allerdings und hat den dicksten Wochenplaner der Welt. Sie sagt allen Bescheid, damit die sich nicht wundern, z Bsp dass sie viel quatscht.
Ich glaube Citavi hat auch eine Planungsfunktion, wo man sich Aufgaben einfügen kann und eine Timeline festlegen kann.
Ich habe zwar nur einen Master gemacht aber mir hat es bei der Masterarbeit sehr geholfen, so eine Timeline zu haben, was muss bis wann erledigt sein.
Und dann habe ich (sicherlich auch kein ganz gesundes Muster) mir einfach bei jedem Teilschritt vorgespielt, dass das DIE Deadline ist.
Nicht nur irgendeine, sondern extrem wichtig.
Überlebenswichtig.
Trotzdem war ich zeitlich immer extrem knapp.
Aber ich glaube mit Medikation könnte das besser funktionieren .
Das klingt wirklich hilfreich! Geht es dir dabei in erster Linie darum, dass dir jemand von außen den Zeitplan vorgibt (8.00-10.00 packen, Kaffepause, etc.) oder geht es dir über das Abarbeiten von Punkten? Wie hast du das damals bei deinem Umzug mit der Freundin organisiert?
Das mit den Monatszielen werde ich mal ausprobieren, das ist als grobe Struktur sicherlich hilfreich. Planst du deine Wochenpläne auf Papier oder hast du ein bestimmtes System/eine bestimmte Struktur dafür (z.B. Kategorien, nach denen du die Aufgaben sortierst o.ä.)?
Witzig! Wahrscheinlich hast du Recht und es gibt wirklich einige auch unter meinen Kolleg*innen, von denen ich es einfach (noch) nicht weiß. Ich habe bisher beschlossen, den Kreis der „Eingeweihten“ so klein wie möglich zu halten, weil ich Angst vor Stigmatisierung habe. Toll, dass du direkt eine Verbündete gefunden hast
Diese Art des Planens kommt mir sehr bekannt vor, ich hab das damals bei der Bachelorarbeit auch so gemacht…hatte den Effekt, dass zwar alles pünktlich fertig war, ich allerdings nervlich am Ende
Seit ich Medikamente nehme, merke ich, WIE viel einfacher alles ist!