Mit stark ausgeprägten Sinnes- oder Körperbehinderungen nimmt das Thema Barrierefreiheit von Anfang an sehr viel Raum ein, fast wie Medikamente bei ADXS. Menschen mit weniger offensichtlichen Einschränkungen haben oft nicht auf dem Schirm, dass es sie ebenfalls betrifft, vor allem bei sich einschleichenden altersbedingten Einschränkungen. Mich würde mal interessieren, wie stark das Thema hier schon in seiner modernen universellen Betrachtungsweise angekommen ist. Hervorheben würde ich an der Stelle Digitale Barrierefreiheit, aber Dinge wie z.B. bauliche Gegebenheiten gehören auch dazu.
Barrieren sind technische oder organisatorische Bedingungen, die euch daran hindern oder es euch massiv erschweren, am Gesellschaftsleben teilzunehmen. Das schließt Bereiche ein wie:
- Schule, Ausbildung, Arbeit
- Zu Hause, Selbstverwaltung
- Kultur und Freizeitgestaltung
- Soziale Interaktion, Austausch, Reisen
- Politische prozesse, geheime Abstimmungen, Umfragen usw.
Technisch gesehen verschmilzt das Gebiet mit den weniger extremen Bereichen wie Ergonomie oder Usability. Vielleicht kann man hier eine Analogie herstellen zu Persönlichkeitsmerkmal vs. Störung, nur dass hier keine Menschen beurteilt werden, sondern Technik und Prozesse. Bei Barrieren geht es nicht mehr um ein „Könnte schöner/bequemer/praktischer sein“ sondern um kritische Belastungen und Blockaden.
Leider wird Barrierefreiheit oft isoliert als Randgruppenthema dargestellt, sodass es gern abwechselnd als Wahlwerbung oder als Sündenbock dient. Die Tendenz, jede Behinderung für sich allein zu betrachten, macht es auch eher unübersichtlicher, statt das Potential bei gemeinsamen Schnittmengen aufzuzeigen. Teile und herrsche. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, dass alle Menschen ein Verlangen nach Usability und Produktivität bei Technik entwickeln, statt irgendwelchen Hypes nachzulaufen oder sich nur berieseln zu lassen. Technik, die tut, was sie soll, und einen bei der Umsetzung der eigenen Arbeit dezent unterstützt statt abzulenken.
Die gängigen ADHS-Tipps für mehr digitale Barrierefreiheit auf Webseiten zielen auf Reduktion des Cognitive Load ab und helfen somit im Grunde allen Menschen.
- Inhalte gut strukturieren, keine Textwände, Wichtiges priorisieren
- Sprachliche und stilistische Konsistenz, visuelle Kennzeichnungen wie Farben oder Symbole müssen immer dasselbe bedeuten oder auslösen
- Irrelevante Ablenkungen vermeiden
- Multimodale Darbietung einer Information, also neben verbal z.B. auch bildlich
Das wäre die schnittmenge. Für spezifische Behinderungen kommen jeweils noch besondere Aspekte hinzu, die auf diesem Fundament aufbauen können. Blinde nutzen z.B. am Computer oder am Smartphone ein Vorleseprogramm, einen Screen Reader, um Webseiten und Apps per Tastatur oder Touch zu bedienen. Ein Screen Reader kann den Bildschirminhalt nicht rein visuell interpretieren wie ein Mensch, sondern es muss beim Programmieren auch semantisch und sprachlich hinterlegt sein, wie z.B. ein Button heißt, ob er aktiviert ist usw. Gute Semantik empfiehlt sich sowieso auch wegen der Nachhaltigkeit bei der Entwicklung, aber uns Blinde killt es sehr schnell, wenn sie fehlt und Information nur grafisch vorliegt.
Hier könnt ihr in einem Video-Tutorial nachverfolgen, wie jemand mit einem Screen Reader das Notensatzprogramm MuseScore bedient, ggf. den Installationsteil überspringen.
https://youtube.com/playlist?list=PLpx1s2WkyujYgLkA0r30sQGjVhWl4NKZ3
Schreibt doch gern mal hier rein, welche Barrieren euch konkret belasten. Vielleicht stellt sich heraus, dass Sprachausgaben auch für Neurodiverse nützlich sein könnten. Oder es findet sich eine technische Lösung, um nervige Ablenkungen zu reduzieren. Der Thread darf auch gern eine Art Klagefluch werden, wo ich immer wieder Beispiele von mir schreibe, ggf. mit Lösung dazu.
Dann mache ich doch gleich den Anfang. Meine Krankenkasse hat mir einfach mein Kärtchen deaktiviert, ohne wie angekündigt ein neues zu schicken. Ich rufe also das Online-Formular auf, um ein neues Kärtchen anzufordern. Zur Frage „Was kostet das?“ steht da viel allgemeines Geschwafel und erst der letzte Satz hat einen Bezug zur Frage. Ein einfaches „Nichts“ wäre völlig ausreichend. Die Eingabe der Daten bereitet keine Probleme, doch was taucht am Ende des Formulars auf? Ein verdammtes Captcha! Ich brauche extra sehende Hilfe, um dieses lächerliche Formular abschicken zu können. Dabei gibt es inzwischen kryptografisch zuverlässigere Methoden um einen echten Browser von einem Bot zu unterscheiden. KI hat uns inzwischen sogar im Lösen von Captchas überholt.
Die Online-Terminbuchung der 116117 ist auch nicht schlecht. Bei der Frage, ob ich einen Vermittlungscode habe, kann ich nicht auslesen, ob gerade Ja oder Nein ausgewählt ist, weil sich die Knöpfe vor dem Screen Reader verstecken. Im Inspector unter Firefox kann ich sie ausfindig machen. Hingegen bleiben Teile des Formulars für mich „sichtbar“, auch wenn sie visuell ausgeblendet werden. Die Auswahl der Fachgruppe ist kein standardmäßiges Auswahlfeld, sondern etwas selbstgebasteltes, das sich auf verschiedenen Browsern unterschiedlich verhält. So simpel das Formular aussieht, ich konnte es nicht auf Anhieb selbständig mit dem Screen Reader nutzen und musste jemand Sehenden dazuholen. Da hat die Vereinigung der Krankenkassen inkompetent gebauten Müll eingekauft. Was ich so erschreckend finde ist, dass es sich eigentlich noch um ein relativ übersichtliches wenn auch nicht ganz triviales Szenario handelt, keine besonders komplexe UI. Ich könnte das übers Wochenende in besser nachbauen. Aber die Erklärung zur Barrierefreiheit wurde rechtskonform eingebunden, das ist die Hauptsache bei solchen Angeboten. Danke vielmals.
Ohje, ganz schön lang geworden. Wen das Thema interessiert, wer Fragen hat oder etwas eigenes beitragen will, nur immer rein damit.