Barrieren verstecken Diversität.
Unsichtbare Diversität versteckt Barrieren.
Vor Kurzem habe ich das Buch Mein Weg führt nach Tibet von Sabriye Tenberken nach langer Zeit wieder gelesen. Sie ist blind, hat zuerst für ihr Studium eine Braille-Systematik für die tibetische Silbenschrift entwickelt und in den 90ern eine Schule für blinde Kinder in Tibet gegründet. Das Buch ist relativ unterhaltsam und erbaulich geschrieben, überhaupt nicht larmoyant oder wehleidig. Aber man merkt der Geschichte deutlich an, dass für das Unternehmen eine wahnsinnige Resilienz nötig war.
Beim Lesen ist mir eine Stelle aufgefallen, die das Problem oben deutlich macht. Frau Tenberken hat zuerst versucht, ihre Idee über offizielle Wege umzusetzen, über Kooperationen mit Ämtern, Behörden usw. Bei einer dieser Gelegenheiten wurde sie durch einen Amtsaugenarzt darüber informiert, dass es in der gesamten autonomen Region Tibet keinen einzigen Blinden gäbe. Also wären entsprechende Nachforschungen und die Schule überhaupt nicht notwendig, wobei man zu den eingetriebenen Geldern trotzdem nicht nein sagt. Das ist natürlich Quatsch, zumal Erblindung dort wegen Mangel an vitamin A, Infektionen und Unfällen sogar eher häufig bei Kindern vorkommt. Theoretisch hätten aber alle Beteiligten zufrieden nach Hause gehen und den bequemen Selektionsfehler so beibehalten können. Keine blinden Kinder, kein Problem, kein Handlungsbedarf. Zum Glück hat sie aber auf eigene Faust weitergeforscht und blinde Kinder gefunden in einem sehr heterogenen Spektrum zwischen gut integriert und komplett vernachlässigt. Diese Kinder waren oberflächlich betrachtet unsichtbar, weil sie durch Barrieren marginalisiert wurden:
- Fehlende Bildungsangebote um einen Beruf zu erlernen und ausüben zu können
- Angst und Aberglaube in der Bevölkerung, Blinde würden mit Dämonen im Bunde stehen
- Scham und Überforderung in der Familie, weshalb einige Kinder versteckt oder sogar ans Bett gefesselt oder gegen ein sehendes Bettelkind eingetauscht werden
All dies macht Betroffene und damit auch Barrieren unsichtbar. Hier ist natürlich nicht Tibet und die Probleme sind auf einem anderen Niveau, aber den Selektionsmechanismus beobachte ich auch hier und heute: Wenn Betroffene scheinbar nicht existieren, beschwert sich niemand und es existiert auch scheinbar keine Barriere. Dabei hindern die Barrieren die Betroffenen daran, sichtbar zu sein.
- Hier im Forum bin ich sichtbar, weil die Benutzeroberfläche mich nicht behindert.
- Beim Skeptischen Netzwerk hätte ich mich z.B. auch gern eingebracht, aber die UI ist von unterirdischer Qualität, am Computer für mich nicht ohne große Mühe nutzbar. Somit bin ich dort unsichtbar. Und nein, ich will nicht für jeden Quatsch eine App auf dem iPhone installieren oder Texte am iPhone schreiben.
Das Skeptische Netzwerk wird von einem Verein angeboten, die GWUP. Vor einem halben Jahr habe ich den Betreuer freundlich auf das Problem hingewiesen und meine Mithilfe angeboten. Viel mehr als „Ich versuche das Thema zur nächsten Vorstandssitzung auf die Tagesordnung zu bringen“ kam dabei aber leider nicht heraus. Diversität bitte nur auf dem Papier. Der Entwicklerfirma der Plattformsoftware hatte ich eine ziemlich deutliche Mail geschrieben, dass in Deutschland 2025 die Rechtslage für digitale Barrierefreiheit strenger wird und sich die Firma bzw. ihre Kunden einem Rechtsrisiko aussetzen, wenn sie nicht in die Gänge kommen. Solche Firmen verstehen leider nur diese Sprache. Der Verein als Kunde hätte definitiv ein bisschen Druck auf die Firma ausüben können. Damit hätten sie sogar zeigen können, dass Diversität mehr als eine Phrase fürs Wahlprogramm wäre. Mailinglisten, die relativ barrierearm sind, wurden auch eingestellt, um die Aktivitäten zu konsolidieren. Zum Glück war ich zu dem Zeitpunkt noch Mitglied und hatte damit einen sehr klaren Anlass zum Austritt.
Wenn Betroffene auf so etwas hinweisen, sollte das nicht als Sonderwunsch einer Einzelperson gesehen werden, sondern es kann eine Chance sein, einen Selektionsfehler oder Bias zu reduzieren. Leider erlebe ich oft genug das Gegenteil, also dass solches Feedback von mir zu sehr an meiner Person festgemacht wird. Langsam bekomme ich wirklich Lust darauf, mir einen Abmahnanwalt zu suchen und die ganzen Ignoranten einfach mal abzumahnen. Wär doch auch eine Abwechslung zum ewigen Urheberrecht und Datenschutz.