Barrierefreiheit mit und ohne Neurodiversität

Und noch ein leichtes positives Thema: Kochen. Heute gab es mal wieder Spätzle. Ich muss den Teig vorbereiten und die Zwiebeln & Co schneiden, danach darf mein Partner in die Küche und sportlich den Rest erledigen. Kenner dürften wissen, was gemeint ist. :wink:

Wir haben eine sprechende Küchenwaage, mit der ich die Zutaten abwiegen kann. Mein Partner kann sehen, aber er liebt das Teil, weil er beim Abwiegen nicht auf ein schlechtes Display starren muss. Aus Spaß hatte er mir auch einmal mit Fischertechnik eine Balkenwaage gebaut, aber die digitale hat sich dann doch als praktischer herausgestellt.

Ich schlage den Teig mit der Hand und achte auf haptisches und geruchliches Feedback. Spatzenteig finde ich super zum Stressabbau.

Eine moderne Unart bei Haushaltsgeräten ist, dass mehr auf mechanische Bedienelemente verzichtet wird und stattdessen Touch Screens eingebaut werden. Würdet ihr einen Herd mit Touch-Bedienung wollen? Diese Entwicklung finde ich schon aus Sicherheitsgründen fahrlässig. Wenn es auf die Sekunde ankommt und das Hirn im Panikmodus ist, muss es trotzdem noch in der Lage sein, das Gerät abzuschalten. Außerdem kann der Screen nass werden, was die Touch-Funktion beeinträchtigt.

Wir haben immer noch eine Mikrowelle mit zwei Drehreglern und dem autoritären Pling-Sound, weil mehr Knöpfe und umständliche Menüs nicht bedeuten, dass das Gerät mehr Funktionen hat. Normale Mikrowellengeräte können Leistung und Dauer variieren, das war es schon. Bei den Drehreglern kann ich die Position erfühlen, das ist mit den Knöpfen schwieriger.

2 „Gefällt mir“

Dann sagt dein Sprachprogramm dir nicht nur Smiley, sondern benennt auch die einzelnen?

Also nicht nur picture, wie bei den Elementen zum Beitrag erstellen?

Du hast die Auswahl zwischen acht Elementen,

  1. das Herz :heart:
  2. Daumen hoch :+1:
  3. Daumen runter :-1:
  4. Lacher :laughing:
  5. Erstaunt :open_mouth:
  6. Applaus :clap:
  7. Kleeblatt :four_leaf_clover:
  8. Umarmung :people_hugging:

Nur damit du schon mal ne Übersicht hast, wieviel in welcher Reihenfolge, von links nach rechts, dir da zur Verfügung stehen :adxs_wink:

1 „Gefällt mir“

Danke für die genau Aufzählung, @Silberlocke. :wink:

Die Knöpfe um die Smileys einzufügen sind beschriftet, aber nicht mit einer deutschen Übersetzung, sondern mit dem Syntaxbefehl, also z.B. :heart: oder :clap:. Also mit genug Englisch kriegt man sich das zusammengereimt, was diese Gesten jeweils bedeuten.

In der Toolbar beim Schreiben von Beiträgen sind alle Knöpfe bis auf Fett und Kursiv Image-Links ohne vernünftige Beschriftung für das jeweilige Bild. Irgendwie haben sie es wohl so gemacht, dass die Beschreibung als Tool-tip untergebracht ist und erst nach der unsinnigen Beschriftung vorgelesen wird, nach einer Gedenksekunde. Ich hänge mal eine kleine Aufnahme an. Am Ende gibt es einen kleinen Aussetzer, da musste ich ihn kurz stoppen.

Thema Lesen: ⠃⠗⠁⠊⠇⠇⠑

Eines vorweg: Ich bin sehr dankbar dafür, als Kind die Brailleschrift erlernt zu haben. Lesen ist eine wichtige Kulturtechnik, die sich meiner Meinung nach nicht vollständig durch digitalisierung ersetzen lässt. Fühlbare Schrift vermittelt eine besondere Direktheit und zieht sich durch verschiedene Alltagsbereiche.

  • Medikamentenpackungen müssen mit Braille beschriftet sein. Achtet einmal darauf. Bei kosmetik und Drogerieartikeln ist das nicht vorgeschrieben, aber L’Occitane macht es trotzdem.
  • Analoge Kartenspiele und Gesellschaftsspiele
  • Selbst angebrachte Beschriftungen auf Gewürzdöschen, Ordnern, CD-Hüllen und früher auch Kassetten
  • Für die Feinarbeit beim Erlernen komplexer Musikstücke hilft mir Notenschrift.
  • Mathematikschrift ist ebenfalls eine große Hilfe.
  • Im Restaurant freue ich mich über eine Speisekarte in Braille, es ist aber nicht zwingend nötig.

Die Braille-Zeichen lassen sich auch digital anzeigen. Einmal habe ich eine kleine Web-App gebaut, die das Schreiben der Zeichen mit einer mechanischen Braille-Schreibmaschine nachbildet. Bisher hat kein normalbegabter NT verstanden, warum ich das getan habe, selbst wenn sie blind waren. Solche Sachen tue ich eben hin und wieder. Das ermüdet mich an vielen Menschen, dass sie bei allem einen unmittelbaren Nutzen sehen wollen, der sich direkt auszahlt. Wer mag, darf es gern mit seiner Tastatur am Computer ausprobieren.

Bei allen Vorzügen hat gedruckte Schrift aber auch ein paar Nachteile gegenüber der Digitalisierung.

  • Flexibilität: Digitale Inhalte sind platzsparend und lassen sich leicht an alle möglichen Orte und Kontexte mitnehmen. Die Luther-Bibel in Braille umfasst 36 sehr dicke Wälzer. Stellt euch das mal vor.
  • Kompatibilität: Digitale Inhalte kann ich mit Sehenden austauschen. Deswegen habe ich z.B. Lilypond gelernt, um für Sehende Musik zu notieren.
  • Skalierung: Digitale Inhalte lassen sich mit minimalem Aufwand kopieren und verbreiten.
  • Digestibilität: Inhalte mit geringerer Informationsdichte sind für mich leichter zu hören als zu lesen. Ich kann vorgetragene Texte auf ein höheres Tempo einstellen als es mir durch Lesen möglich wäre.

Diese Faktoren haben das (kommerzielle) Hörbuch und auch Podcasts zu einer sehr wertvollen Hilfestellung gemacht. Zu meiner Oberstufenzeit gab es noch kein Blinkist, aber zumindest konnte ich die Hörbuchkassetten von Effi Briest auf den PC überspielen und die Dateien in beschleunigtem Tempo abspielen. Papa Schlumpf liest Fontane. Da kam noch hinzu, dass das kein kommerzielles Hörbuch mit profi-Sprecher war, sondern mit exquisiter Monotonie vorgetragen. :wink:

Von Menschen mit ADHS habe ich schon oft die Klage gehört, dass ihnen Lesen trotz starker visueller Vorstellungskraft Mühe bereite, fast schon eine Barriere darstelle. Von manchen habe ich gehört, dass ihnen der Wechsel auf Hörbücher enorm geholfen habe. Für sie war es auch eine große Erleichterung, sich von diesem zwanghaften Aber ich muss doch lesen, sonst bin ich kein richtiger gebildeter Erwachsener zu lösen. Sofern es einem hilft, sollte man sich nicht von irgendwelchen Fernsehliteraten und Kulturfetischisten verunsichern lassen.

  1. Die Tradition, Geschichten zu erzählen und zu hören, ist deutlich älter als Schrift. Es ist eigentlich nichts künstliches, sondern zutiefst ursprüngliche Kultur.
  2. Hörmedien sind wie Laufbänder. Sie zu stoppen kostet mehr Überwindung als sie weiterlaufen zu lassen. Schrift ist wie ein Ergometer. Jeder Strampler kostet Motivation. Lieber hören als gar nicht lesen.
  3. Manchmal finde ich den Zusammenhang in einer Geschichte sogar leichter zu erfassen, wenn man bei Füllmaterial ab und zu wegdriften und sich beim Hören frei bewegen kann. Wahrscheinlich hängt es aber von den jeweiligen ADHS-Symptomen ab, ob das für jemanden funktioniert.

Oft fehlt mir die Geduld für Belletristik, aber während meiner Krankheit zwischen den Jahren habe ich einen Krimi nach dem anderen gehört, um das Herumliegen etwas aufzupeppen. Zum Glück hat das Deutsche Zentrum für barrierefreies Lesen eine iPhone-App. Wäre schon manchmal nett, wenn Robodoc vorbeikommen könnte, nach dem Motto „Keine Macht den Viren.“

2 „Gefällt mir“

Sensibles Thema: Sonder:zeichen in Wörtern*

Für Blinde ist dies normalerweise keine echte Barriere, sondern ein Zusatzaufwand, der sich in Kauf nehmen lässt, sofern man an den Sinn der Sache glaubt. Traumhaft, die Welt vom Schreibtisch aus ein kleines bisschen gerechter zu machen, allein durch Sprache. Amen. Für manche Autisten, Nichtmuttersprachler, Menschen mit Lernbehinderungen, LRS, Dyslexie, Legastenie usw. hat der Traum allerdings seine Grenzen. Mündlich in irgendwelchen Talkshows sollen sich die Leute meinetwegen in Glottisschlägen überbieten, aber schriftlich finde ich Sonderzeichen mitten in Wörtern umständlich, ablenkend, inkonsequent, stümperhaft, unnötig. Seit einiger Zeit nutze ich deswegen das Firefox-Addon Remove German Gender Language, um etwas weniger Ablenkung beim Lesen von Pressetexten zu haben.

Der glottale Plosiv ist doch ein eigener Konsonant. Es wäre doch konsequenter, wenn wir für ihn ein bestimmtes Zeichen oder Modifikator reservieren und ihn in die Rechtschreibung integrieren würden (naïv, beïnhalten, Schlossïnnenhof). Statt des Tremazeichens müsste eine Alternative gefunden werden, die sich nicht mit Umlauten beißt. Mit einem solchen Fundament würden wir die deutsche Sprache sogar phonologisch präziser festhalten, was bestimmte Personenkreise ebenfalls freuen dürfte. Auf der Grundlage könnte man sich dann in Ruhe überlegen, wann und wo man Gerechtigkeit in die Sprache einbauen will. Mit der Linguistik kann es irgendwie nicht allzu weit her sein, wenn die Genderpause bereits gut 40 Jahre alt ist, so eine langfristige Strategie bisher aber nicht verfolgt wurde und stattdessen Sternchen, Schrägstriche und Doppelpunkte unordentlich herumfliegen.

Einmal hatte ich ein Bewerbungsgespräch für eine universitäre Promotionsstelle. Der Behindertenbeauftragte saß dabei, was vermutlich ein Fehler war, denn die Herren Wissenschaftler waren dadurch wahrscheinlich noch verschlossener als sowieso schon, was Inhalte betraf. Gegen Ende griff ich selbst das Thema meiner Blindheit im Zusammenhang mit Lehre und passenden Modalitäten auf. Und siehe da, plötzlich begann der Gesprächsleiter zu gendern. Genützt hat es mir nichts, die Stelle hat jemand anderes bekommen. Aber hey, Spannungsabbau für ein gutes PC-Gewissen ist schließlich die Hauptsache.

2 „Gefällt mir“

⠨⠧⠬⠇⠑⠝⠀⠨⠙⠁⠝⠅lässt sich hier gar nicht so einfach als Antwort eingeben. Da fragt die Software, ob es ein ganzer Satz ist. Ist es ja eigentlich auch nicht.

Dass es dabei auch regionale bzw. Länderunterschiede gibt, ist ja immer erstmal frustrierend. Hat mich auch bei Gebärdensprache überrascht, aber ist wohl unvermeidlich bei Sprache als „lebender Organismus“, oder?

Sehr spannend, Dein Brailler. Sind es da vier Punkte übereinander? Ist da eine zusätzliche Zeile oben oder unten?

1 „Gefällt mir“

Och wie süß :slight_smile: Bitte sehr.

Stimmt, ist leider nicht so pralle mit der Unterstützung. Aus Sicht des Systems sind das ja eigenständige Schriftzeichen, die nicht zwingend den lateinischen Buchstaben entsprechen müssen.

Gehörlosenkultur ist ein echter Kosmos für sich. Wie du schon sagst, das ist da ähnlich vielfältig wie bei Lautsprache, nur eben mit Gesten.

  1. Das ursprüngliche Braille hat 6 Punkte, also die Anordnung wie bei einem Würfel die Sechs. Damit kann man 64 verschiedene Zeichen abbilden durch Weglassen von Punkten, 2^6.
  2. Mit der Computerei und ASCII hat man noch eine untere Zeile als Punkte 7 und 8 hinzugenommen, um die 256 ASCII-Zeichen 1:1 auf Braillezeichen zuzuordnen. Das ist die 8-Punkt-Variante, die mein Brailler auch unterstützt.
  3. Heute gibt es Unicode für computerisierte Texte, was viel mehr Zeichen umfasst als 256. Da sind auch die ganzen Emojis drin, andere nichtlateinische Alphabete, IPA, Kartenspielsymbole, alles mögliche Zeug, und eben auch Braillezeichen.
1 „Gefällt mir“

Braille: ⠠⠛⠝⠕⠧⠓⠊⠀⠎⠑⠙⠕⠥⠞

Jede Sprache hat zusätzlich zur ausgeschriebenen Schreibweise noch eine Kurzschrift, um Platz zu sparen und schneller zu schreiben. Jeder Buchstabe bedeutet dann z.B. ein ganzes Wort, wenn er für sich allein steht (aber, bei, sich, das, den, für, gegen …).

  • Die Franzosen waren die Brutalsten, die haben gut 500 Kürzungsregeln.
  • Im Deutschen ungefähr die Hälfte, aber eine neuere Reform hat einige rausfliegen lassen zwecks Vereinfachung.
  • Englisch hat ca 150 Kürzel.
  • Akademiker, Schreibkräfte usw. haben oft noch richtig crazy Steno-Erweiterungen entwickelt, die für maximal schnelles Schreiben und weniger für Eindeutigkeit ausgelegt waren.

Meine Oma aus den USA hat mir von dort als Kind die Harry-Potter-Bücher auf Englisch geschickt, was mich vorzeitig zum Lernen der englischen Kurzschrift motiviert hatte. Den Unterricht für englische Kurzschrift musste ich trotzdem komplett mitmachen, obwohl ich die Kürzel schon konnte. Ein Lehrer hatte sogar gesagt, ich soll sie nicht zu früh lernen, weil mir sonst der Unterricht langweilig wird. Lehrer sind manchmal echt seltsam.

1 „Gefällt mir“

Es klingt wie ein Gruß aus Star Trek?

„Die Grenzen unserer Sprache bedeuten die Grenzen unserer Welt“ sagte ja Wittgenstein. Sehr cool, dass dieser Thread unsere Grenzen erweitert.

Zumal wir uns offensichtlich bisher an denselben Bullshit-Grenzen Schrammen geholt haben, egal in welcher Sprache:

1 „Gefällt mir“

sollte „gnothi seauton“ ( „Erkenne dich selbst!“) heißen.

Ich find die app auch cool, hat mich ein wenig beflügelt was man alles tolles aus Holz herstellen könnte an beschrifteten Handschmeichlern.

Vor 3 Jahren hatte ich mir mal das Alphabet beigebracht und ein paar einfache Worte bzw. Vorstellung und Begrüßung. Ich hatte es beim spazieren gehen hinter dem Rücken geübt aber irgendwie das meiste wieder leider vergessen. Gibt also noch viel alt erlerntes neu aufzufrischen und neues zu lernen für mich. :slightly_smiling_face:

2 „Gefällt mir“

Ah, da ging bisschen was durcheinander, und mein Altgriechisch reicht nur für Mathezeug. Trotzdem eine sehr schöne Idee. So sollte es stimmen:

⠰⠨⠛⠝⠺⠓⠊⠀⠰⠎⠑⠁⠥⠞⠕⠝

Aus der deutschen/lateinischen Sicht heraus muss man Altgriechische Buchstaben mit ⠰ einleiten, nach jedem Leerzeichen, Zeilenumbruch oder nichtgriechischen Zeichen. Das ⠨ macht das Zeichen danach zum Großbuchstaben.

Will haben :slight_smile:

1 „Gefällt mir“

meins nicht einmal dafür. :slightly_smiling_face:

1 „Gefällt mir“

OK, vielleicht noch für amerikanische Studentenverbindungen mit ihren Drei-Buchstaben-Abkürzungen. :wink:

1 „Gefällt mir“

hat aber vermutlich weniger praktischen bezug. kenne ich mich aber wirklich nicht mit aus wie bei vielem. :joy:

Sprache kann dich Zusammenhänge schärfer sehen lassen, die sonst vielleicht in der Komplexität verschwinden würden. Das wiederum kann das Denken auf neue Wege leiten. An der Stelle musste ich jetzt an die Feynman-Diagramme denken, die ja auch eine sehr kompakte Art von Sprache sind für bestimmte physikalische Sachverhalte. Durch diese reduzierte Form kann das Hirn mit viel Übung eine stärkere Intuition für diesen Bereich entwickeln als es mit „ausführlicher Sprache“ gelingt. Mit dieser Sprache und Intuition im Denken wurden die Grenzen bestehender Theorien erweitert. Wahrscheinlich entspricht das nicht ganz dem, was Wittgenstein im Sinn hatte, aber vielleicht ja doch ein bisschen. :wink:

1 „Gefällt mir“

Barrieren verstecken Diversität.
Unsichtbare Diversität versteckt Barrieren.

Vor Kurzem habe ich das Buch Mein Weg führt nach Tibet von Sabriye Tenberken nach langer Zeit wieder gelesen. Sie ist blind, hat zuerst für ihr Studium eine Braille-Systematik für die tibetische Silbenschrift entwickelt und in den 90ern eine Schule für blinde Kinder in Tibet gegründet. Das Buch ist relativ unterhaltsam und erbaulich geschrieben, überhaupt nicht larmoyant oder wehleidig. Aber man merkt der Geschichte deutlich an, dass für das Unternehmen eine wahnsinnige Resilienz nötig war.

Beim Lesen ist mir eine Stelle aufgefallen, die das Problem oben deutlich macht. Frau Tenberken hat zuerst versucht, ihre Idee über offizielle Wege umzusetzen, über Kooperationen mit Ämtern, Behörden usw. Bei einer dieser Gelegenheiten wurde sie durch einen Amtsaugenarzt darüber informiert, dass es in der gesamten autonomen Region Tibet keinen einzigen Blinden gäbe. Also wären entsprechende Nachforschungen und die Schule überhaupt nicht notwendig, wobei man zu den eingetriebenen Geldern trotzdem nicht nein sagt. Das ist natürlich Quatsch, zumal Erblindung dort wegen Mangel an vitamin A, Infektionen und Unfällen sogar eher häufig bei Kindern vorkommt. Theoretisch hätten aber alle Beteiligten zufrieden nach Hause gehen und den bequemen Selektionsfehler so beibehalten können. Keine blinden Kinder, kein Problem, kein Handlungsbedarf. Zum Glück hat sie aber auf eigene Faust weitergeforscht und blinde Kinder gefunden in einem sehr heterogenen Spektrum zwischen gut integriert und komplett vernachlässigt. Diese Kinder waren oberflächlich betrachtet unsichtbar, weil sie durch Barrieren marginalisiert wurden:

  • Fehlende Bildungsangebote um einen Beruf zu erlernen und ausüben zu können
  • Angst und Aberglaube in der Bevölkerung, Blinde würden mit Dämonen im Bunde stehen
  • Scham und Überforderung in der Familie, weshalb einige Kinder versteckt oder sogar ans Bett gefesselt oder gegen ein sehendes Bettelkind eingetauscht werden

All dies macht Betroffene und damit auch Barrieren unsichtbar. Hier ist natürlich nicht Tibet und die Probleme sind auf einem anderen Niveau, aber den Selektionsmechanismus beobachte ich auch hier und heute: Wenn Betroffene scheinbar nicht existieren, beschwert sich niemand und es existiert auch scheinbar keine Barriere. Dabei hindern die Barrieren die Betroffenen daran, sichtbar zu sein.

  • Hier im Forum bin ich sichtbar, weil die Benutzeroberfläche mich nicht behindert.
  • Beim Skeptischen Netzwerk hätte ich mich z.B. auch gern eingebracht, aber die UI ist von unterirdischer Qualität, am Computer für mich nicht ohne große Mühe nutzbar. Somit bin ich dort unsichtbar. Und nein, ich will nicht für jeden Quatsch eine App auf dem iPhone installieren oder Texte am iPhone schreiben.

Das Skeptische Netzwerk wird von einem Verein angeboten, die GWUP. Vor einem halben Jahr habe ich den Betreuer freundlich auf das Problem hingewiesen und meine Mithilfe angeboten. Viel mehr als „Ich versuche das Thema zur nächsten Vorstandssitzung auf die Tagesordnung zu bringen“ kam dabei aber leider nicht heraus. Diversität bitte nur auf dem Papier. Der Entwicklerfirma der Plattformsoftware hatte ich eine ziemlich deutliche Mail geschrieben, dass in Deutschland 2025 die Rechtslage für digitale Barrierefreiheit strenger wird und sich die Firma bzw. ihre Kunden einem Rechtsrisiko aussetzen, wenn sie nicht in die Gänge kommen. Solche Firmen verstehen leider nur diese Sprache. Der Verein als Kunde hätte definitiv ein bisschen Druck auf die Firma ausüben können. Damit hätten sie sogar zeigen können, dass Diversität mehr als eine Phrase fürs Wahlprogramm wäre. Mailinglisten, die relativ barrierearm sind, wurden auch eingestellt, um die Aktivitäten zu konsolidieren. Zum Glück war ich zu dem Zeitpunkt noch Mitglied und hatte damit einen sehr klaren Anlass zum Austritt.

Wenn Betroffene auf so etwas hinweisen, sollte das nicht als Sonderwunsch einer Einzelperson gesehen werden, sondern es kann eine Chance sein, einen Selektionsfehler oder Bias zu reduzieren. Leider erlebe ich oft genug das Gegenteil, also dass solches Feedback von mir zu sehr an meiner Person festgemacht wird. Langsam bekomme ich wirklich Lust darauf, mir einen Abmahnanwalt zu suchen und die ganzen Ignoranten einfach mal abzumahnen. Wär doch auch eine Abwechslung zum ewigen Urheberrecht und Datenschutz.

1 „Gefällt mir“

Heute etwas verspieltes mit Sprachausgaben:

Sprachausgaben (Text to Speech) kennt ihr wahrscheinlich durch Sprachassistenten wie Siri, Hotline-Ansagen oder inzwischen auch durch die vielen KI-Angebote. Auf dem iPhone könnt ihr durch die folgenden Schritte Stimmen ausprobieren und euch Text vorlesen lassen:

  • Einstellungen
  • Bedienungshilfen
  • Gesprochene Inhalte (Support-Artikel)
  • Stimmen
  • Deutsch (Deutschland) oder andere beliebige Sprache

Die männliche Siri-Stimme hat einen besonders beflissenen Tonfall. :wink:

Bei Sprachausgaben lassen sich grob zwei Richtungen ausmachen:

  • Realistisches Ideal: Wollen möglichst menschlich, nuanciert und natürlich klingen, modernere Entwicklung
  • Minimalistisch: Klingen sehr künstlich, wurden auf Effizienz hin optimiert, traditionelle Entwicklung

Die meisten Stimmen auf dem iPhone entstammen der moderneren Entwicklungslinie und funktionieren ein bisschen wie Midi-Soundfonts:

  • Entwicklung: Laute werden in verschiedenen Lautstärken, Tonhöhen, Betonungen, auf- und absteigend etc. aufgenommen.
  • Verwendung: Aufgenommene Laute werden entsprechend dem Text aus dem Speicher gelesen und zusammengesetzt.

Die traditionelle Linie basiert auf dem Prinzip der Formantsynthese:

  • Die von sprechenden Menschen produzierten Laute (Phoneme) haben jeweils ein charakteristisches Obertonspektrum.
  • Sprachausgaben mit Formantsynthese berechnen und generieren diese Frequenzspektren direkt mit Grund- und Obertönen wie ein Synthesizer, statt Tonschnipsel aus dem Speicher abzuspielen.
  • Mit einem Sound-Editor wie Audacity könnt ihr auch Sinustöne im Oktav- oder Quintabstand übereinanderlegen und feststellen, dass kein Intervall dabei herauskommt, sondern eine neue Klangfarbe.

Auf dem iPhone befinden sich in neueren iOS-Versionen auch die Eloquence-Stimmen, die dieser Entwicklungslinie angehören. Damit ging ein Wunsch vieler blinder User in Erfüllung. Intuitiv würden viele Leute davon ausgehen, dass die moderne Variante immer zu bevorzugen sei. Der Klang bei Formantsynthese ist tatsächlich wesentlich informationsärmer, monotoner, weniger reichhaltig oder vielschichtig. Das macht ihn aber auch deterministischer (phoneme und Silben klingen immer gleich), was das Gehirn bei der Informationsverarbeitung entlastet. Viele Blinde können mit genügend Übung in sehr hohem Tempo von einer Formantsynthese-Stimme gesprochenen Text verstehen. Das fühlt sich im Kopf irgendwann wirklich mehr an wie Lesen statt Hören. Als ob die Silben vor dem inneren Auge oder dem Finger vorbeisausen würden. Schöne Betonung kann man sich selbst dazudenken, falls nötig. Deshalb lieben viele von uns diese Stimmen. Es war für Sehende oft schwer begreiflich zu machen, aber zum Glück gibt es inzwischen Forschung, die zeigt, dass dabei Teile des primären visuellen Cortex genutzt werden:

Mit solchen Stimmen kann man aber auch spielen und an den Klangparametern herumschrauben. Ein Bekannter von mir hat in den 2000ern eine kleine Hörspielserie nur mit Sprachausgaben produziert, also lange vor dem KI-Hype. Darin hat er seine Blista-Ausbildungszeit satirisch verarbeitet. Als Kind habe ich mit einem sehenden Kind — nennen wir es mal Schlingel — manchmal etwas gespielt, was diesem Kind sehr viel Spaß gemacht hat. Wir haben mit der Sprachausgabe Gedichte vorgelesen und für manche wiederkehrenden Wörter eine andere Aussprache im Screen Reader einprogrammiert. Beim Erlkönig wurde z.B. für „Kind“ der Name des sehenden Kindes gesprochen, und bei „Erlkönig“ „Erlenmeyerkolben.“ Für das Kind lag der Spaßfaktor wahrscheinlich darin, sein Gehirn mit widersprüchlicher Information zu konfrontieren und so gezielt zu irritieren (lesen und hören). Das hat fast eine gewisse Ähnlichkeit zum Stroop-effekt. Hier ist ein Klangbeispiel:

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? –
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. –

„Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir;

Um den Quatsch hier aufzunehmen und zu schneiden, habe ich u.a. Audio Hijack verwendet. Die Entwickler machen bei ihren Apps meistens einen vorbildlichen Job in Sachen Zugänglichkeit. Ich lade hier keine Klangbeispiele mit meiner eigenen Stimme oder personenbezogenen Informationen hoch.

2 „Gefällt mir“

Wow! Danke Dir, @tamaracha, für all die Mühe. Wird mein Leben verändern.

Ich habe auch endlich den IPhone-Bildschirm-Vorleser aktiviert. Wollte ich seit ewig.

Aktuell bin ich bei Viktor hängengeblieben, aber vielleicht evolutioniere ich mich mit mehr Übung auch zu Eloquence weiter.

Krass auch das „Manipulationspotential“ der Sprachausgabe. Eigentlich Stoff für den nächsten Krimi…

2 „Gefällt mir“

Freut mich, wenn du (und andere) Spaß damit haben. Je nach dem wie es läuft, raffe ich mich vielleicht irgendwann auf und lagere die Sachen als Kopie in ein eigenständiges Klagefluch-Blog aus. Hier im Forum kann man sehr angenehm unter zivilisierten Menschen ausloten, welche Inhalte gut ankommen.

Wäre auch spannend, wenn noch mehr Leute hier Feedback schreiben mögen, ob diese Vorlesefunktion ein guter ADHS/Dyslexie-Tipp ist. Die Variante für Blinde verändert auch die Gesten und Bedienkonzepte, aber das hier ist ja mehr die Lite-Version zum Vorlesen mit gleichzeitig normaler Bedienung.

Stimmt, Viktor ist ein guter Kompromiss als Vorbereitung für Eloquence. :wink:

Eine Hand voll Parameter macht schon viel aus. Vielleicht frag ich mal meinen alten Kumpel, ob ich seine Hörspiele weitergeben darf. Ansonsten her mit den Krimis. :wink:

A propos Krimi: Ich habe ja eine Schwäche für den Sprecher Udo Schenk, der sooo zuvorkommend klingt und immer den Bösewicht spielt.

Edit: Oder meintest du manipulierte Sprachausgaben als Teil der Handlung, wo jemand durch Stimmen in den Wahnsinn getrieben wird?

1 „Gefällt mir“