Morgen halte ich im Seminar klinische Psychologie einen Vortrag über AD(H)S und darf anschließend die Diskussion moderieren zum Thema: Was ist AD(H)S? Eine psychische Störung oder eine Neurodiversität? Hintergrund ist: ich habe eine Studie rausgesucht, die nahelegt, dass AD(H)Sler kreativer sind (überraschung, ich weiß, aber man muss es schließlich auch mal nachmessen ) und da wollte ich mal drauf eingehen, dass AD(H)S auch heißt, dass man Stärken hat - die Diagnostiksysteme, nach denen wir lernen, sind ja leider vollständig defizitorientiert…
Jedenfalls, zur Vorbereitung habe ich mal wieder in einem meiner Lieblings-Fachbücher gelesen - und tatsächlich geweint bei der Einleitung, weil ich so toll fand, was dort geschrieben steht! Es geht u.a. um die Definition von Normalität, darum, was gesund und was krank ist und dass auch „neurotypische“ Menschen in ihrer Persönlichkeit genauso „eingeschränkt“ sind, wie wir AD(H)Sler (trifft jetzt nicht ganz den Punkt, aber ich weiß keine bessere Formulierung…). Ich finde es auch deshalb so genial, weil es präzise und kurz formuliert ist, dabei gut verständlich und spannend geschrieben (auch wenn es wie ein trockenes Fachbuch aussieht).
Vielleicht hat ja jemand Lust, reinzulesen
Literaturangabe:
Van Elst, L. T. (2018). Autismus und ADHS: zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit. Kohlhammer Verlag.
Ich habe daraufhin in Version 2 des Online-Symptomtests Intuition und Kreativität abgefragt.
Ergebnis: ja, beide sind bei AD(H)S-Betroffenen etwas höher als bei Nichtbetroffenen (jeweils nach Selbstbeschreibung).
Aber jeweils so gering, dass es das messen kaum lohnt. In Version 3, die in Vorbereitung ist, werde ich diese beiden Kriterien wieder herausnehmen.
Insgesamt glaube ich, dass die Nachteile deutlich überwiegen - sorry…
Kreativität und Intuition sind Konzepte, die sich m.E. im Rahmen eines Fragebogens über eine Selbstauskunft kaum abfragen lassen.
Die einen halten sich für kreativ weil sie gerne Mandalas ausmalen, andere halten sich für stockunkreativ - sind aber in Wirklichkeit äußerst schöpferisch.
Die Werkzeuge, Kreativität tatsächlich zu identifizieren, dürften ziemlich aufwändig sein (letztlich ein eigenes Forschungsgebiet).
Mal vorausgesetzt, wir wären kreativer - so fehlten uns doch trotzdem die operativen Funktionen, diese (1% Inspiration, 99% Transpiration) umzusetzen.
Interessant finde ich die Frage, was man wie - unter der Voraussetzung von ADHS - trainieren müsste, um Kreativität ausleben zu können.
Letztlich dienen die meisten Trainingsprogramme ja eher darauf ab, einer Norm zu entsprechen - also eher zu kompensieren, Kreativität also einzuschränken - als die spezifischen Eigenheiten sinnvoll und gesteuert im Sinn von Stärken auszuleben…
Kreativität wird meistens nicht über Selbstbeschreibung abgefragt, weil das eher unpräzise ist. Insbesondere im AD(H)S-Bereich kann ich mir vorstellen, dass es einen Unterschied zwischen der vorhandenen Kreativität und den Möglichkeiten gibt, diese Kreativität auch auszuleben. Vielleicht überlegt man sich eher „was hab ich denn so kreatives geleistet und geschafft?“ beim Beantworten der Frage - und das würde ja nicht nur Kreativität messen, sondern auch Exekutivfunktionen, die bei AD(H)S ja eingeschränkt sind (das mal als Überlegung bzgl. Validität einer Frage, deren Formulierung ich aber nicht kenne )
Und, es kann sein, dass die Effekte sehr gering sind, aber signifikant können sie trotzdem sein. Wenn du Daten hast, kann ich dir damit einen t-Test oder wasauchimmer ausrechnen
Es gibt spezielle Tests, um Kreativität zu messen, z.B. den Remote Association Tests. An sich haben AD(H)Sler oft höhere Kreativitätsleistungen bei solchen Tests, wobei wie so oft die Studien bzgl Stichproben, Methoden und Konstruktdefinition nicht einheitlich sind und deshalb unterschiedliches herausbekommen…
Ob man das online gut machen kann, hm… denke schon, wäre dann aber eher aufwändig
Wir haben es nicht aufgenommen, das wäre nicht möglich gewesen. Wenn es dich interessiert, kann ich dir die Folien schicken (dafür Email-Adressen-Austausch per pn?).
Zu meiner Kreativität hatte ich schon mal was geschrieben:
Und auch wenn ich nicht weiß, wie die Fragen formuliert sind, könnte ich mir vorstellen,
dass ich sie für mich früher mit „nicht kreativ“ beantwortet hätte.
Vielen Dank, Julai,
Ich habe mir auf Deine Empfehlung her das Buch ausgeliehen - es ist wirklich sehr bereichernd!
Eine sorgfältige, wissenschaftliche, begriffliche Abgrenzung von Normalität, Krankheit, Diagnose etc.
Die Phänomene ADHS und Autismus werden im Anschluss entsprechend eingeordnet.
Damit ist es vor allem eine sehr gute Argumentationshilfe.
Ja, und in der Tat - es ist wertschätzend, aber auch sehr neutral beschrieben.
Hier nochmal der Link zum Inhaltsverzeichnis: https://d-nb.info/1142555933/04
LG, Anna
Bei dem Mann habe ich mal eine Doktorarbeit gemacht und sie dann mit einem an dessen Klinik beispiellosen Eklat abgebrochen… der Mann ist höchst integer, sehr kompetent und ein tüchtiger, verantwortungsvoller Arzt… bezüglich ADHS fehlt im aber eines: die Fähigkeit zur Intuition, zum intuitiven, ganzheitlichen Verständnis der Thematik ADHS, die man vollumfänglich im Grunde nur dann haben kann, wenn man mehr oder weniger ausgeprägt selbst von ADHS betroffen ist…