Um ganz sicher zu sein und auch, um mich selbst davon zu überzeugen, dass es nicht ein Aufmerksamkeitproblem oder Faulheit ist, habe ich dieses Jahr eine entsprechende Diagnostik mitgemacht und die Gesichtsblindheit dort bestätigt bekommen. Jetzt bin ich ein wenig erleichtert. Hilfestellungen gab es dort leider nicht, nur einen Hinweis auf eine Facebook-Gruppe.
Zum ersten Mal richtig schwierig wurde es für mich in der Grundschulzeit. Da wurde ich von einigen aus der Klasse und auch aus der Nachmittagsbetreuung dauernd geärgert. Ich konnte dann aber den Lehrer_innen oder Erzieher_innen oft nicht sagen, wer was gemacht hat, da ich die anderen Kinder nicht gut auseinander halten konnte. Wenn ich sie gesehen habe, konnte ich auch die Unterschiede zwischen ihnen sehen, aber ich konnte sie mir nicht merken. Das hat dann dafür gesorgt, dass sie immer weiter gemacht haben, weil ich es ja niemandem sagen konnte.
Ein Horror war für mich auch, wenn ich im Sportunterricht die „Ehre“ hatte, Leute für das Team auszuwählen. Ich wusste zwar, welche Namen in der Klasse existierten, aber ich konnte sie oft nicht den Gesichtern zuordnen. Oder wenn ich nach einer Klassenarbeit die Korrigierten Arbeiten an die anderen verteilen sollte. Dann habe ich dauernd Fehler gemacht, was mir unglaublich peinlich war. Es hieß dann von Mitschüler_innen sowie von Lehrer_innen „jetzt bist du schon so lange in dieser Klasse und kannst noch immer nicht die Namen“. Den Vorwurf fand ich schlimm, weil es ja nicht daran lag, dass ich mir die Namen nicht merken konnte, sondern dass ich nicht wusste, zu wem sie gehören. Das war mir aber damals nicht richtig bewusst, ich habe mich selbst einfach für dumm gehalten.
Heute sind so Sachen wie Gruppenarbeiten an der Uni schwierig, da ich mir nicht merken kann, wer in meiner Gruppe ist. Wenn man sich dann verabredet um zusammen daran zu arbeiten, dann habe ich immer Bauchweh vor Angst. Meine Taktik ist, immer viel zu früh am Treffpunkt zu sein und dort ein Buch zu lesen. Oder so zu tun als ob, da vor lauter Angst die Konzentration eher schlecht ist. Auf diese Weise müssen die anderen mich ansprechen und nicht ich sie in einer Menschenmenge erkennen.
Auf der Arbeit habe ich schon Kolleg_innen miteinander verwechselt und sogar die Chefin. Es ist etwas einfacher dort, weil wir ein sehr kleines Team sind. Aber bei hohem Stresslevel passiert es mir manchmal trotzdem. Extrem peinlich. Klient_innen bringe ich auch dauernd durcheinander.
Dafür kann ich Menschen besser an ihren Stimmen erkennen. Das funktioniert natürlich nur, wenn sie auch etwas sagen. Ich kann mir auch ganz gut Inhalte von Gesprächen oder Unireferaten merken und diese dann den Leuten zuordnen, sobald ich ihre Stimmen höre.