immer wissen müssen, was als nächstes kommt

Ist es euch auch so wichtig, dass ihr in jeder Situation wisst, was als nächstes kommt? Bei mir ist es so, dass ich mich in einer Situation oft nur wohl fühle, wenn ich einen Plan dafür habe, was kommt, wenn die Situation vorbei ist. Beispiel: Wenn ich mit meinem Freund in eine Nachbarstadt fahre, dann gibt es schon mal das Ritual, dass wir bei der Ankunft immer erstmal einen Kaffee trinken. Dieses Wissen gibt mir während der Fahrt Sicherheit. Wenn wir dann den Kaffee trinken, überlegen wir, was wir zuerst machen. Wenn es etwas ist, was länger dauert, z.B. ein Museumsbesuch, dann muss ich nicht gleich wissen, was danach kommt, aber spätestens, wenn wir das Musuem verlassen, überkommt mich ein mulmiges Gefühl, wenn nicht feststeht, was wir als nächstes tun. Am besten ist es, wenn die nächsten zwei bis drei Vorhaben feststehen. Dann spüre ich große Sicherheit in mir und kann bei den einzelnen Aktivitäten dann auch entspannt und präsent sein.

Geht es anderen hier auch so? Hat das etwas mit ADHS zu tun oder ist das schon eher eine Angststörung? Wenn ich nicht weiß, was als nächstes kommt, dann macht mir das Angst, weil dann so ein Leere-Gefühl aufkommt, glaube ich, welches ich nur schwer aushalten kann. Könnte es auch mit dem mangelnden Zeitgefühl zusammen hängen? Wenn ich „im luftleeren Raum herumschwirre“, dann fühlt sich das, wie alles andere, so an, als würde der Zustand bleiben. Ist ja kein Wunder, dass mir das Angst macht. Ich könnte mir dann vorsagen: du weißt aus Erfahrung, dass ein Zustand nicht statisch ist, dass er immer durch einen anderen abgelöst wird - aber das wären nur Gedanken, das Gefühl würde trotzdem bleiben und mir Angst machen. Vielleicht ist das eines von den Dingen, die ich lernen muss, auszuhalten.

Andererseits habe ich das auch in Situationen, wo ich keine Angst vor Leere-Gefühlen habe. Wenn z.B. bei der Arbeit ein Seminar stattfindet, dann will ich unbedingt wissen, wann die erste Pause stattfinden wird, zu welcher Uhrzeit es endet, wie der Ablauf sein wird etc. Bis ich das nicht weiß, fühle ich mich unsicher. Ich will immer wissen, was auf mich zuommmt, will mich innerlich darauf einstellen können. Sobald ich z.B. weiß: erste Pause um 10 Uhr, für 20 Minuten, dann Mittagspause um 12:30 für 30 Minuten, Ende spätestens um 16 Uhr - dann ist das schon mal eine große Erleichterung.

Noch etwas fällt mir ein: wenn mein Freund und ich unterwegs mal eine Weile auf einer Bank an einem angenehmen, ruhigen Platz sitzen, dann komme ich gut zur Ruhe und will dann oft gar nicht weiter. Dann stresst es mich teilweise wiederum, zu wissen, dass wir noch dies oder jenes vorhaben. Dann würde ich manchmal, endlich zur Ruhe gekommen, gern ganz lang dort sitzen bleiben.

Irgendwie krieg ich das alles nicht zusammen, wie es zusammen hängt und was der Hintergrund sein könnte :?

Also ich denke, es könnte sich um eine Angst- bzw. Zwangsstörung als Komorbidität von ADHS handeln. Ich habe schon davon gehört, dass ADHSler, die ja generell Struktur benötigen, unter gewissen Umständen eine Zwangsstörung entwickeln, um ihre Defizite zu kompensieren. Dabei rutschen sie dann genau in das gegenteilige Extrem. Bei dir ist es die Struktur, bei anderen Putz- oder Ordnungszwang.

Es kann sich sicherlich zu einer Komorbidität entwickeln, aber unklare Situationen nicht aushalten können, gehört einfach auch ganz klassisch zu ADHS dazu.

Das kann ein schwelender Konflikt sein, der unbedingt sofort geklärt werden muss, weil man sonst durchdreht oder einfach Klarheit über den Tagesverlauf, ohne die einen die innere Unruhe und Unzufriedenheit die Wände hochgehend lässt.

Umgekehrt sind auch Änderungen im Tagesablauf schwierig, das hängt einfach damit zusammen, dass man sich auf Situationen länger einstellen muss und nicht so flexibel umschalten kann wie andere.

Das passt auch zu dem letzten, was du schreibst: Beides ist für ADHSler schwierig, der Anfang und das Ende einer Tätitgkeit - entweder kommt man nicht aus dem Quark oder man kann kein Ende finden.

Also wieder mal: Keine Panik, alles ganz „normal“. :wink:

Dem ersten Absatz stimme ich absolut zu, aber in der von Dreamy beschriebenen Intensität habe ich das noch nie gehört. Ist das wirklich „normal“? Das steht doch der immer so hochgelobten Flexibilität der ADHSler sehr entgegen.

Du hast recht, dieser scheinbare Widerspruch von Flexibiliät auf der einen und Unflexibilität auf der anderen Seite ist mir auch schon öfter aufgefallen. Ich habe den Eindruck, dass es tatsächlich beides zu geben scheint, auch innerhalb derselben Person. Interessant wäre zu wissen, ob es verschiedene Ebenen betrifft. Aber momentan tappe ich da völlig im Dunkeln.

Also ich bin das andere Extrem. Ich bin so flexibel, dass mich Zeitpläne und starre Abläufe an den Rand des Wahnsinns treiben.

Bei mir isses eher so: Fremdbestimmung ist so ziemlich das Schlimmste auf Erden, aber ohne Struktur isses noch schlimmer… :slight_smile:

Ich musste mir schon als Kind wohl oder übel eine gewisse Flexibilität zulegen, da es in meiner Familie früher sehr spontan zuging und besonders mein Onkel, mit dem wir immer einkaufen gefahren sind, Termine gern mal vorverlegt, abgesagt oder auf später verschoben hat. Früher habe ich darüber oft geflucht und habe manchen autistischen Meltdown bekommen, aber heute bin ich dafür dankbar, weil es dadurch leichter für mich ist, wenn andere Termine nicht einhalten oder spontan noch mal nach XY fahren wollen. Aber eigentlich ist es mir nach wie vor am allerliebsten, wenn ich vorher schon ganz genau weiß, was auf mich zukommt. Das weiß mein Umfeld und zum Glück wird nach Möglichkeit auch Rücksicht darauf genommen.

Danke für eure Antworten! Das Beisiel mit den Konflikten trifft auch sehr auf mich zu, dass ich diese sofort klären muss, weil ich sonst an nichts anderes denken kann, Angst bekomme oder auch, wenn ich denke, ich habe recht, dass ich das dann richtig stellen muss.

Also, es wird dann wohl ADHS-bedingt sein, aber ausgeprägt in Richtung Angst- und Zwangsstörung.

Hätte gern gewusst, ob es auch anderen so geht, mal sehen, ob sich noch jemand meldet.

Was ich tun will, ist, hier und da kleine Veränderungen vorzunehmen in Bereichen, wo ich immer exakt denselben Ablauf habe und dann bewusst spüren, wie ich mich dabei fühle und kleine Ungewissheiten einplanen (das klingt lustig widersprüchlich) - also etwas mal nicht zu kontrollieren, nicht vorher abzuklären usw.

Was die Struktur angeht, so hänge ich stark von von außen vorgegebener Grundstruktur ab (das ist definitiv normal bei ADHS, habe ich gelesen). Probleme bekomme ich an freien Tagen, wo nichts von außen vorgegeben ist. Da brauche ich es dann sehr, dass ich mir einen groben Tagesplan entwerfe, damit ich nicht im „Nichts“ rumhänge.


Genau so ist es bei mir auch.

Apropos: Habt ihr deshalb auch gerade den Sonntagmorgen-Blues?

Das Warten auf das Unwetter macht es nicht unbedingt einfacher… :wink:

@Dreamy : Für Struktur sorge ich auch immer selber, indem ich jeden Tag plane. Sei es putztechnisch (ich putze jeden Tag einen anderen Raum) oder in Bezug auf Hobbies. Wenn ich keine Tagesstruktur hätte, würde ich wohl bald im völligen Chaos versinken. Dadurch, dass ich mir meine Tagesstruktur selber vorgebe, habe ich aber leider große Probleme mit fremdbestimmter Tagesstruktur. Oft erscheint sie mir unlogisch und ineffizient und ich brauche sehr lange, um mich umzustellen. Manchmal kann mich fremdbestimmte Tagesstruktur auch regelrecht blockieren und zu einem Overload und im schlimmsten Fall sogar zu einem Meltdown führen.

@Addy_Haller : Sonntagmorgen-Blues? Kenn ich gar nicht. Liegt aber wohl daran, dass ich arbeitslos bin. Aber selbst wenn, hätte ich dafür heute morgen keine Zeit gehabt. Ich musste nämlich noch das eine oder andere vor Sabine in Sicherheit bringen. Das meiste hatte ich zwar gestern schon in Sicherheit gebracht, aber die Futterhäuschen und die Fettpötte der Vögel, die Solarlampen und ein paar andere Sachen habe ich eben erst in Sicherheit gebracht. Und die Fensterläden habe ich auch eben erst zugemacht. Jetzt kann Sabine meinetwegen kommen (hier haben wir übrigens schon Sturmböen). Immerhin trifft das Hauptfeld von Sabine uns wohl schon am Nachmittag und nicht erst in der Nacht. Mir ist Orkan tagsüber eindeutig lieber als nachts.

JA, den hatte ich heute nach dem Aufwachen! Das ist immer so, wenn ich an einem freien Tag aufwache. Das Aufwachen selbst dauert immer ewig, ich kämpfe mich an die Oberfläche, also ins Bewusstsein, und dann kommt diese Erkenntnis: ich weiß gar nicht, was ich heute tun werde!

Da ich mich mittlerweile sehr viel beobachte und mir auch vieles aufschreibe, kann ich mir selbst, wie einem Kind, sagen: Du weißt, dass das immer so ist, wenn du an einem Tag, an dem nichts ansteht, aufwachst. Du weißt, dass sich das im Laufe des Vormittags verändern wird! Du weißt, dass du morgen wieder arbeiten gehen wirst und wieder im Alltagstrott sein wirst und deshalb kannst du den heutigen Tag für Kraft tanken und angenehme Dinge tun nutzen. Deine Stimmung wird sich im Laufe des Tages noch mehrmals verändern, ebenso dein Energielevel.

Ich hab mir in einem Büchlein solche Dinge tatsächlich aufgeschrieben, zum Nachlesen. Ich komme mir vor, als wäre ich ein Alzheimer-Patient, aber ich akzeptiere, dass es so ist und finde meine Strategien im Umgang damit :slight_smile:

Für die Tagesplanung benutze ich übrigens verschiedene Hilfsmittel. Ich hab ein Programm mit Piktogrammen, mit denen ich mir einen bildhaften Tagesplan erstellen kann (da habe ich eine feste Übersicht für die Arbeitstage, also für die freie Zeit nach der Arbeit - daran halte ich mich nicht hundertprozentig, aber dass der Plan da ist, gibt mir Sicherheit - wenn ich von selbst anders vorgehe, dann stresst mich das nicht, nur, wenn ich nicht weiß, was ich überhaupt machen soll) und ich habe einen „Zettelkasten“ (eine kleine Blechdose) und hab mir Zettel angelegt, wo auf jedem eine bestimmte Aktivität drauf steht. Die sortiere ich mir dann so hin, wie ich mir den Tagesablauf grob zusammen gestellt habe. Den aktuellen Zettel habe ich neben der Dose in dem Dosendeckel liegen, bis dieser Punkt beendet ist. Dann lege ich den Zettel in die Dose. Dann kommt der nächste Zettel in den Deckel, nach Beendigung: in die Dose. Usw. usf. Am Ende habe ich dann die Dose voller Zettel. Auf den Zetteln stehen Dinge wie: Duschen und Haare waschen, Bett machen, Frühstück und Medikinet, Puzzeln, Aufräumen, Abwasch, Kleidung für morgen für die Arbeit rauslegen, einen Film gucken …

Ich hatte mal ein Video über Methoden bei Autisten angesehen (ich glaube, es ging um das TEACCH-Programm) und von daher habe ich diese Methode. Ich brauche immer sehr die Visualisierung UND: die Materialisierung - dass die Dinge außerhalb von mir sichtbar UND greifbar (also im wörtlichen Sinne greifbar = anfassbar) sind (ich glaube, Barkley hat das auch erklärt, dass das für ADHSler sehr wichtig ist, wobei er, glaube ich, hauptsächlich die Visualisierung anspricht).


Das kann ich mir inzwischen auch sagen, wenn auch nicht als Kind, sondern einfach nach dem Motto: Du kennst das schon, es ist ok so und morgen wird auch wieder besser.

Das klingt genial, @Dreamy. Glaubst Du, Du kannst hier über Dateianhänge mal ein Foto Deines Kastens hochladen? Ich kann es mir zwar mit der Schilderung schon gut vorstellen, aber eine Visualisierung wäre natürlich der Bringer.

Wie behältst Du denn „im Gefühl“, dass da noch diverse Zettel hinter dem aktuellen kommen? Um so ein „aus den Augen, aus dem Sinn“ zu vermeiden und vielleicht zu hyperfokussiert in der aktuell aufgedeckten Aufgabe zu versacken?

Es gibt ja auch Techniken mit Post-Its in einer Reihe - wie so Bon-System im Restaurant-Bereich. Das erschlägt einen in der Masse aber sicher leichter als Dein schlaues „alles dabei, aber immer nur eine Aufgabe aufgedeckt.“

Irgendwo habe ich mal den Vergleich gelesen, ADxS sei „wie eine riesige Pinnwand mit vielen Zetteln… Nur die Reißzwecken wurden nicht mitgeliefert.“ Fand ich sehr treffend. Da scheint der Zettelkasten eine passende Gegenstrategie.

Das verdeutlicht mal wieder, dass die AD(H)S-Welt eine Welt der Extreme ist.
Ich hab nur dann den Sontagsmorgen-Blues, wenn mein ganzer Sonntag durchgetaktet ist. Was ich meistens vermeiden kann. Für mich ist es wichtig, aufzuwachen und die Dinge auf mich zukommen lassen zu können. Wie heute ein spontanes Frühstück in einem Museumscafe mit anschließendem Spaziergang auf Vorschlag einer lieben Freundin. :slight_smile:

@Elementary :slight_smile:

Zeigen möchte ich das nicht, ist ganz einfach gehalten, kleine Blechdose und viele kleine rechteckige Zettel, auf die ich mit verschiedenen Farbstiften die Aktivitäten aufgeschrieben habe.

Ich hab schon alles aufgedeckt. Also das Getane in die Box, das aktuelle daneben und darunter in Reihen alles, was noch offen ist. Mich überfordert das nicht, im Gegenteil gibt es mir ein Gefühl von Sicherheit, außer, es ist schon abends und ich hab noch viele Alltags-To Dos übrig, wie „Essen für die Arbeit vorbereiten“ und Ähnliches :wink:

Den Vergleich mit der Pinnwand und Zetteln, aber ohne Reißzwecken find ich toll!


Stimmt. Das ist genauso Sch**** wie gar kein Plan. Aber es geht, wenn morgens klar ist, wann Zeiten sind, in denen ich niemanden sehen muss…

Kann ich auch beides nachvollziehen. Sowohl Stress, wenn zu viel vor einem liegt (auch ungewisses), als auch die Perspektivlosigkeit, wenn nichts ansteht an einem Tag.
Ich habe das immer als Unfähigkeit beschrieben, vorrauszuschauen.
Sich einreden, was zu tun ist hilft mir auch, in den Tag zu starten. Aber - und das ist für mich der Kern meines ADHS Problems - die rationale Idee lässt sich nicht mit dem Gefühl von z.b. Zuversicht oder Motivation verbinden. Also begleiten mich Angst und Stress und Ablehnung durch den Tag.
Geht’s euch auch so?

Neben der inneren Unruhe ist das Motivationsdefizit mein Hauptproblem. Ich habe den Eindruck, dass es mich unglaublich viel Kraft kostet, Dinge zu tun, für die ich keine Motivation aufbringen kann und gegen die ich innerlich rebelliere. Glücklicherweise lässt sich beides mit Medikation positiv beeinflussen.