In einem Spiegel-Artikel darüber, „wieso Menschen mit ADHS seelisch verschleißen“, stand kürzlich, dass zur achtsamen Entspannung inzwischen eine LEGO-Gruppe angeboten wird: „Viele Achtsamkeitsangebote schrecken Patienten mit ADHS ab, aber das Bauen mit Klemmbausteinen mögen viele: Ihre Hände werden beschäftigt, der Kopf konzentriert sich auf das Modellbauen – eine sehr entspannende und auch achtsame Aktivität.“
Ob das auch etwas für Rike in der Reha wäre? Oder würde das nur die Erinnerung an all die LEGO-Steine wecken, auf die sie in ihrem Leben schon barfuß getreten ist? Vielleicht würde sie eher über glühende Kohlen laufen…
Tür 18: Artgerechte Entspannungshaltung
Rike wollte nicht in die Reha. Paul vermutete, es liege an den Erfahrungen mit der Mutter-Kind-Kur auf Norderney. Noch in der ersten Woche war sie dort aus der Entspannungsgruppe geflogen.
Bei „Du atmest in Deine linke Kniekehle … und jetzt in die rechte“ entwarf Rikes Gehirn einen Krimi über einen neurodiversen Killer, der statt der eigentlich in Auftrag gegebenen Kehle am Hals nur eine der Kniekehlen durchschnitt und seinem Mafia-Auftraggeber dann mitteilte: „Habe die rechte genommen. Hoffe, ok so, Boss?“
Rike überlegte dann weiter, wie ein Rechtsstreit über diesen unpräzisen Kehlenschnittauftrag ausgehen würde. Sie kicherte über den Vortrag des Anwalts. Ruhestörung in der Entspannungsgruppe. Erste Verwarnung. (Mit einem besseren Anwalt des Mafia-Bosses wäre es vielleicht anders verlaufen, sagt Rike bis heute.)
Zwei Tage später konnte sie bei „Deine Augenlider werden schwer“ nichts dagegen tun, dass ihr Gehirn eine nach Schweregrad geordnete Playlist erstellte mit „Augenliedern“ wie „In your eyes“ (Peter Gabriel) - „Eye of the tiger“ (Survivor) - „Eye in the Sky“ (The Alan Parsons Project) - „Hungry Eyes“ (Eric Carmen) - “Can’t take my eyes off you” (Frankie Valli and the Four Seasons).
Grundsätzlich entspannend, aber dann schob sie die Reihenfolge der Top 5 hochkonzentriert um. Die Stunde war vorbei, ohne dass Rike das mitbekommen hatte. Die Übungsleiterin stieß sie an und mutmaßte, sie sei wohl eingeschlafen? Diese Unterstellung wiederum kränkte Rike so, dass nicht nur die gedankliche Ordnung der Playlist, sondern auch jede Entspannung verflogen war.
In Sitzung 3 schlief Rike dann tatsächlich ein, übermüdet nach Tagen nicht-artgerechter Haltung. Deshalb schlug die Leiterin ihr vor, als einzige Teilnehmerin der sonst liegenden Gruppe im Sitzen und mit offenen Augen der Meditation zu folgen. Mit offenen Augen auf ihrem Sitzkissen inmitten liegender Frauen sah Rike ihr Leben als Horror-Film an sich vorüberziehen: eine Abfolge von Momenten, in denen sie schon immer anders war als ihr Umfeld.
Zur Beruhigung zählte sie die Wellen der zwei Meeresbilder im Meditationsraum: links 20, rechts 17. Das rechte Bild hatte aber bei der zweiten Kontrollzählung nur 16 Wellen. Dann war die Stunde vorbei. Als Rikes innerer Monk bat, noch kurz zu einer dritten Kontrollzählung im Raum bleiben zu dürfen, hielt man das für therapieschädliche Provokation und verwies sie endgültig der Gruppe.
„Was stimmt nicht mit mir, Paul?“ Seit ihrer gemeinsamen Kindheit stellte Rike dieselbe Frage und ebenso lang suchte Paul die richtige Antwort.
Er arbeitete schon länger an ADHS-gerechten Phantasiereisen. Nun hatte er überlegt, dass Rike sich das von Torben ausgerichtete „Familien-Event“ in schönsten Farben ausmalen sollte. Wer sollte dabei sein? Wie war das Menu? Was für Spiele wünschte sich Rike für die Kinder? Das funktionierte aber nicht mal bei Paul selbst: Ständig schob sich ein Schneemann ins Bild, oder Niklas ritt auf dem weißen Stockpferd durch das Hotel.
Dann hatte Paul erwogen, Rikes Gedankensprünge mit einem kleinen Äffchen zu visualisieren. Das Äffchen würde von Baum zu Baum schwingen, aber allmählich würde es ruhiger und ruhiger. Unter einer Yukka-Palme würde sich das Äffchen für den Mittagsschlaf ein lauschiges Plätzchen…
Selbst Paul dachte nun an Butterplätzchen und sah Rike bereits überlegen, wie viele Äffchen-Plätzchen auf ein Backblech passten. Und ob es schwerer sein würde, die Plätzchen zu essen, wenn man sie „Herr Nilsson 1“, „Herr Nilsson 2“, „Herr Nilsson 3“, usw. taufte und dass das ohnehin nicht mehr gendergerecht sei und wie diverse Äffchen heißen sollten? Und neurodiverse Äffchen? Und welche Diagnose Pippi Langstrumpf wohl heute haben würde?
Paul gab auf: Er schrieb ihr ein Attest. Diesmal selbst, ohne rheumatologische Hilfe:
"Frau Rike Haverström, geb. Krampitz, wird aus neurobiologischen Gründen während ihres Aufenthalts ausschließlich an Reha-Sportmaßnahmen sowie Physiotherapie teilnehmen.
Sie ist Athletin einer lateralen Form des sog. „Mentalen Auto-Aktivierungstrainings“ (MAAT). Nicht artgerechte Verordnungen - insbesondere so genannte „Entspannungsübungen“ - wirken paradox und drohen, ihre individuelle Hochleistungsfähigkeit in rehabilitationsschädlicher Weise zu gefährden. Ich bitte um Berücksichtigung bei Ihrer Planung.
Seligenburg,
Dr. Paul Krampitz"