Tür 23: Wer Visionen hat, sollte zur Supervision gehen
Als Rike aus der Reha kam, blieb Paul nur noch ein paar Stunden. Dann machte er sich auf die Rückfahrt. Einerseits, um der Familie ihren Raum zu geben, andererseits wegen Frau Meyerling und des bevorstehenden Urlaubs seiner Vertretung.
Paul kam mit dem Kopf voller Ideen in seine Praxis. Er wollte seine Patienten häufiger fragen: „Mal ehrlich und unter uns: Wann haben Sie zuletzt Ihren Briefkasten geöffnet und hineingesehen?“ Mehr Ausschau halten nach Erledigungsblockaden trotz Medikation.
Frau Meyerling sollte ihm gleich mehrere Zoom-Konferenz-Termine mit der Steuerberaterin Flora Günther eintragen. Stichwort: ganzheitliches ADHS-Begleitungskonzept.
Auch mit Gustav wollte er bald nochmal sprechen. Der lange Waldspaziergang habe doch beiden gut getan. Da könne man doch ein Pflanzenkunde-Event oder ein Bewegungsbuddy-Konzept für die Patienten entwickeln, seriös, ohne Pilze?
Frau Meyerling hörte sich das nicht lange an: „Kaum zurück und schon wieder mit dem Kopf in den Wolken! Nichts da!“ Jetzt seien neben der Sprechstunde erstmal die ganzen Patientenberichte abzuarbeiten. Post! Buchhaltung! Dann müsse Paul auch noch seinen Vertreter in dessen Urlaub vertreten, ganze drei Wochen! Der habe sich - ohne jede Vorwarnung vor Pauls Abreise - schließlich auch „den Allerwertesten aufgerissen, Herr Dr. Krampitz“, um hier die Patienten ins Pauls Abwesenheit über die Runden zu bringen und mit Rezepten zu versorgen. Das gelte es jetzt zurückzugeben! Sie wolle nicht schon wieder mit Kündigung drohen, aber so gehe das nicht weiter!
Erwischt: die gute, alte ADHS-Zeitblindheit. Für die könnte man auch mal eine Dreipunkt-Binde erfinden, dachte Paul. Im welchen Farben am besten?
Paul hatte genug gelernt in den letzten Wochen, um zu realisieren, dass Frau Meyerling Recht hatte. Ihr gegenüber würde er dafür zwar andere Worte finden müssen, aber ihm war es nun klar: Sie war die Motorkontroll-Leuchte seiner Praxis. Sie glich seine zeitblinden Flecken und verzögerten Stress-Reaktionen aus. Sie konnte seine Rettung sein, wenn er ihr zuhörte. Er würde ihr Leuchten von nun an wertschätzen.
Auch Berater brauchen Beratung. Pauls nächster Termin zur Supervision stand an. Hier stellte er schwierige Patientenprobleme vor und sicherte seinen Umgang damit ab. So sammelte er auch einen Teil der vorgeschriebenen Fortbildungspunkte. Diesmal mischten sich auch seine neuen Pläne und Erfahrungen aus Seligenburg in das Gespräch.
Verlangte er da etwas von sich, das erst recht den Weg in den Burnout versprach? Was war das überhaupt mit dieser neuen Erfinder-Begeisterung, die Paul schon während der Gute-Nacht-Geschichten rund um Super-Mario in sich entdeckt hatte oder beim neuen Design von Hotel-Türhängern. Nicht zuletzt wohl auch bei der raschen Vergrößerung seines inneren Teams. (Skalierung! würde Hansdampf-Geschäftsmann Torben es wohl nennen.)
Oder hatte Paul da eigentlich nur etwas wiedergefunden, genau wie seinen Detektiv-Club-Ausweis? Den hatte Niklas tatsächlich am vierten Aufräum-Nachmittag im Keller aus einer alten Kiste mit Superman-Comics gezogen. Es war sogar noch ein Passbild drin. („Guck mal, Onkel Paul im Jahr 1952, kurz nach dem Krieg!“ hatte Niklas zu Julia gesagt.)
Fragen über Fragen. Wie sollte es weitergehen?
Jetzt sei es wohl mal Paul, der einen „kleinen Spickzettel fürs Leben“ brauche, schlug seine Supervisorin nach einer Weile vor. Damit nahm sie vermutlich Bezug auf Pauls Erwähnung der Nachrichten an Leni?
Sie ging zu ihrem Regal, griff nach einem blauen Buch und schrieb eine längere Passage ab. Dann faltete sie das Papier, schrieb eine „24“ darauf und ermahnte Paul: „Das ist jetzt wie bei einem Adventskalender! Eine Impulskontrolle-Hausaufgabe! Nicht vorher öffnen. Erst noch selbst überlegen, wohin die Reise gehen soll!“
Paul war natürlich noch nicht wieder bei seinem Auto, da hatte er den Zettel schon längst aufgefaltet, in der Hoffnung auf eine klare Antwort und schnelles Dopamin.
„… indem die Leidenschaft der Freiheit in ihm erwacht (und sie erwacht in der Wahl, wie sie sich in der Wahl selber voraussetzt), wählt er sich selbst und kämpft um diesen Besitz als um seine Seligkeit, und das ist seine Seligkeit.“
Kierkegaard, Entweder- Oder
Das war aber doch jetzt ein echter Dopamin-Rohrkrepierer? Viel zu kryptisch. Entweder - Oder? Nicht alles auf einmal also? Paul packte den Zettel wieder ein. Im Vergleich damit war er selbst seinen Patienten dann wohl doch kein so schlechter Berater. Immerhin ein Trost.
Beim abendlichen Telefonat fragte er Rike: „Was meint sie denn bloß damit? Rätselhafter als ein Glückskeks oder Mamas Metaphern früher. Soll ich mal Chat GPT fragen? Oder vielleicht Flora? Bei Flora klingt alles immer so klar.“
Seine Schwester hatte eine Vermutung: „Dieses Kierkegaard-Zitat hat Max Frisch seinem Roman ‚Stiller‘ vorangestellt. Blauer Einband in der aktuellen Ausgabe, könnte passen. Vielleicht hat sie es daraus.“
„Worum geht es denn da?“
„Da siehst Du mal wie das ist mit popkulturellen Anspielungen, die das Gegenüber nicht versteht, Meister Yoda! Nichts ist schwerer als sich selbst anzunehmen ist eine Grundaussage des Buchs. Es geht sehr viel um Identität und Rebellion gegen gesellschaftliche Erwartungen.“
„Klingt doch ganz nach der Heldenreise in Star Wars.“
„Entweder eine Anregung zur Selbstakzeptanz Deiner Identität oder eine Anregung, Dich neu zu erfinden?“
„Na dann… Möge die Macht mit uns sein!“
Auf der Fahrt zum großen Familien-Wunderland-Event bei Schmelings ging die Motorkontroll-Leuchte in Pauls Wagen auf einmal von selbst aus, als sei ein Schalter umgelegt worden. Also kein Werkstatt-Besuch zur PKW-Supervision nötig? Doch, natürlich, der Winterreifen-Wechsel! Lohnte sich das vor Ostern überhaupt noch, so ganz ohne Schnee?
Tür 24 … bringt der Foren-Weihnachtsmann.