Ich kann nicht für die anderen sprechen, aber dafür umso mehr für mich.
Ich wurde vor einigen Monaten mit 35 Jahren diagnostiziert. Warum bin ich zur Diagnose gegangen? Weil ich mein Leben lang darunter leide, das Gefühl zu haben, anders zu sein. Ich denke anders, ich empfinde intensiver, ich bin impulsiver, ich bin unkonzentriert und habe in sozialen Begegnungen immer wieder Probleme gehabt. Das wurde die letzten Jahre immer schlimmer, vor Allem die Impulsivität und emotionale Instabilität und Reizbarkeit und das Chaos das ich um mich herum schaffe und ich hatte das Gefühl, die Kontrolle über mich und mein Leben zu verlieren und ich wollte endlich eine Erklärung, warum ich so schwer durchs Leben komme und viel wichtiger: Hilfe! Jetzt nehme ich Medikamente und die lösen nicht alle Probleme, aber sie helfen mir und bereits die erste Einnahme hat mich zu Tränen gerührt, weil ich Ruhe gefunden habe. Ruhe in meinem Körper, Ruhe in meinem Kopf. Aus Tausenden Gedanken die gleichzeitig wie ein Gewitter auf mich eingedonnert sind, wurden 2 oder 3. Und der Nebel im Kopf verschwand, der mir das Gefühl gab, von diesen tausenden Gedanken keinen so wirklich fassen zu können. Ich hatte Zeiten, da saß ich Stundenlang da und versuchte, die Gedanken im Kopf zu sortieren wie bunte Perlen die man versucht aufzufädeln aber ich habe nie den Faden durch die Perlen bekommen und keine Perlenschnur wurde vollständig, einheitlich und kein Gedanke wurde denkbar. Das macht einen wahnsinnig!
So, jetzt bin ich aber 35 Jahre durch mein Leben gekommen, ohne eine schlimme Suchterkrankung (Außer Rauchen), ohne Suizidversuche (Gedanken hatte ich mehr als genug), habe einen guten Job und mache Karriere, habe eine Tochter, hatte eine lange Beziehung, ein Dach über dem Kopf, ein Konto was bisher noch nicht gesperrt ist, da ich es immer wieder schaffe auszugleichen, noch keinen Autounfall verursacht, mache zwar Bingeeating - sehe aber nicht so aus. Also alles in allem finden andere Menschen, ich sei doch ganz erfolgreich, würde super im Leben klar kommen und ADHS und ich? Neeeeein! Niemals!! Du hast doch kein ADHS, sagen die Leute zu mir. Und warum? Weil keiner von diesen Menschen weiß, welchen Kampf ich Tag für Tag in mir drin kämpfe, und dazu gehört auch die Anstrengung, nach außen hin “normal” zu wirken und zu funktionieren. Ich hatte schon so häufig Suizidgedanken, aber das weiß niemand in meinem Umfeld und von meinen Depressionen auch nicht. Packen wir noch ein fettes Trauma oben drauf und eine lieblose Kindheit.
Ich sage es dir, wie es ist: wenn jemand nicht dauerhaft rumzappelt und mega laut ist, würden die Leute nicht darauf kommen, dass derjenige ADHS hat. Und warum? Weil wir Meister im Verstecken sind.
Und warum so viele heute diagnostiziert werden? Weil man früher dachte, nur Jungs haben das und das würde sich “verwachsen”. Ein Großteil der spät diagnostizierten ist meinem Eindruck nach weiblich. Ja ich glaube auch, dass die heutige Welt es uns Menschen schwieriger macht, mit Reizen klarzukommen. Wir sind einer dauernden Reizüberflutung ausgesetzt und irgendwann können wir nicht mehr ohne diese Reize und nichts anderes ist am Ende wohl auch ADHS. Unsere Gehirne können Dopamin nicht mehr so aufnehmen wie sie es sollen und wir wissen nicht mehr, wie wir mit Reizen richtig umgehen sollen.
Und ja, die Bezeichnung ADHS wird auch schnell mal in den Raum geworfen, wenn Kinder etwas aktiver und lauter sind als andere, wenn sie einfach mehr Energie haben.
Übrigens geht eine ADHS sehr häufig mit Depressionen einher und bei vielen wurde dann immer “nur” die Depression diagnostiziert. Meine Mutter ist das beste Beispiel dafür. Jetzt wissen wir, dass bei ihr wohl auch die ADHS einen Großteil dazu beiträgt. Sie lässt sich aber nicht offiziell diagnostizieren, da sie mit der in Behandlung stehenden Depression gut klar kommt mittlerweile.
Und ganz am Rande: ja, meine ADHS belastet mich sehr, aber!!! ich will sie nicht loswerden. Nicht komplett. Ich möchte sie steuern können, was ich mit Medikamenten und ein paar Alltagsstrategien gerade lerne und eine Besserung sehe. Warum? Verdammt, das ist mega krasser scheiß! Ich habe eine Superkraft, für die mich viele beneiden. Was mein Gehirn hervorbringt ist zum Teil Hochbegabung und zum Teil ADHS. Wobei vielleicht die ADHS auch der Grund für die Hochbegabung ist oder anders herum?! Ich denke in Sekundenbruchteilen um 20 Ecken und kann logische Konstrukte aufdröseln und Zusammenhänge erkennen, wo andere sich noch Fragen, warum der Himmel eigentlich blau ist. Ich habe eine solch starke Leidenschaft für Dinge die mir wichtig sind, spüre Liebe und Zuneigung intensiver als andere und schenke auch ebenso viel davon anderen. Meinen heutigen Job hätte ich nicht, ohne meine ADHS. Dann hätte ich damals zwar ein besseres Abi gehabt und irgendwas studiert, aber ich wäre bestimmt nicht mit so viel Leidenschaft und Herzblut dabei, wie ich es in meinem jetzigen Job bin, den ich meiner Leidenschaft, meinem kreativen Denken, meinem Hyperfokus verdanke.