Liebe Julia, lieber Rest,
ich las den gesamten Thread und auch wenn es ein paar Monate her ist, vielleicht kann ich dir weiterhelfen. Ich vermutete aufgrund meines Psychologiestudiums schon länger, dass ich vermutlich ADHS habe, aber tatsächlich diagnostiziert wurde es bei mir erst vor Kurzem. Ich denke, dass ich vielleicht ein paar Einblicke für dich hätte, die dir helfen könnten, das Ganze nicht nur zu verstehen, sondern wirklich nachvollziehen zu können.
Vielleicht helfen die meine Erfahrungen, um die Gefühlswelt nachvollziehen zu können.
Ich wusste es ja lange nicht und es kam mir immer vor, wie wenn ich das Runde ins Eckige quetschen muss. Ich strengte mich so sehr an, entwickelte Taktiken, wie zB Ordnungssysteme, eine Ortung für meinen Schlüsselbund, Tagesstrukturen, usw. Aber nach ein paar Wochen landete der Planer wieder in der Kiste und das Ortungssystem braucht halt auch Akku, aber ich kriegs nicht mal gebacken, mein Handy jede Nacht aufzuladen. Egal wie sehr man möchte und es sich vornimmt, es scheitert. Und man versteht bis zur Diagnose einfach nicht warum. Ich strengte mich doch so an! Bin ich unfähig, faul, nicht bemüht genug? Nein, natürlich nicht, aber so wirkt es halt nach außen und ich warf mir das selbst auch jeden Tag vor. Jeden verdammten Tag, wenn man die Hälfte der To Do Liste nicht schafft, nicht zur Vorlesung ging und der Abwasch sich türmte.
Dann kam noch meine Mutter (ich wohne nebenan), die stets bemüht war Ordnung zu halten mit lieb gemeinten Ideen…schreibs dir doch auf (tu ich, klappt trotzdem nicht), mach’s doch sofort (geht nicht, das ist wie wenn man jmd. mit Depressionen sagt, lach doch einfach). Ich weiß, sie meinte es gut und sie wollte einfach, dass alles sauber und ordentlich ist. Als Kind war bei ihr als ich dort noch wohnte immer alles perfekt. Man selbst wusste aber, dass man das niemals schaffen wird. Egal wie sehr man sich bemüht und verändern will.
Nehmen wir einmal das Katzenklo als Beispiel. Man läuft jeden Tag daran vorbei (bei mir ist es die Bügelwäsche), man will es so unbedingt tun, aber man schafft es nicht. Man vergisst es, man schiebt es auf, es überwältigt und überfordert einen. Gleichzeitig kann ich aber super meine Wäsche waschen. Ich liebe das und habe das immer im Griff.
Andere denken sich: Man, ich hab’s ihm doch so einfach gemacht! Die Aufgabe ist leicht, liegt am Weg, ist schnell getan und er tuts nicht, wieso? Soll ich ihm Zettel schreiben, erinnern, dies das.
Aber jedes Mal wenn ich an der Bügelwäsche vorbeigehe ist sie wie ein Mahnmal, das Schuldgefühle und Versagensgefühle auslöst. „Mensch, da hat mirs mein Partner doch schon so leicht gemacht, das Katzenklo/die Bügelwäsche/… ist doch kein großes Ding. Er/Sie hats nicht leicht mit mir, was bin ich nur für ein Partner, wieso versage ich darin nur so, wieso bin ich so unfähig, wie konnte ich das nur vergessen, wieso schaffe ich es nicht, dabei bemühe ich mich doch so sehr!“
Es stresst einen und je gestresster man ist, je mehr man sich vorwirft, desto geringer werden meine Kapazitäten. Dann vergesse ich noch mehr, schaffe noch weniger und dann wieder die Selbstvorwürfe. Ein Teufelskreis.
Mein Umfeld dachte sich oft, Mensch, wenn sie Xy vergisst/verliert/sich der Abwasch türmt und ihr alles über den Kopf wächst, dann lernt sie daraus und beim nächsten Mal macht sie es anders. Nein, das ist ein Irrglaube. Man weiß es ja, man muss daraus nicht „lernen“. Man hat einfach oftmals nicht die Fähigkeiten es zu tun. So wie wenn du jmd. Blinden sagst: Hey, du bist gestolpert, beim nächsten Mal wird das nicht mehr passieren, du hast daraus gelernt. - Nein. Auch nicht, wenn dir das Umfeld eine Brille gibt. Du bist blind und wirfst dir aber vor, wieso du nicht sehen kannst. Nicht einmal mit Brille kriegt mans hin, was für ein Versagen!
Mir half es, dass ich akzeptierte, dass ich manches einfach nicht so kann wie andere. Das brachte eine enorme Erleichterung. Mein Partner bügelt jetzt (er hat auch ADHS) und er macht den Abwasch. Das macht er gern. Ich liebe es zu waschen, da tu ich mir auch leichter das am Schirm zu behalten und ja ich vergesse mal eine Trommel an Wäsche, aber es ist okay. Und mein Partner würde es mir nicht vorwerfen, er weiß wie es ist. Es ist einfach scheiße. Meine Mutter dagegen stand dann schon mit den nächsten Tipps parat. „Tochter, schreib es dir doch auf. Da lernst du jetzt draus.“Und es vermittelte einem immer den Eindruck, dass man sich nur mehr bemühen müsste, dass man seine Schwächen ausbügeln muss, man nicht lebensfähig sei.
Aber es muss auch hart sein, immer diejenige zu sein, die alles im Kopf behalten muss, weil man halt Kinder hat und da nicht alles so easy mal liegen gelassen werden kann…immer mitzudenken, das macht ja fertig. Also bitte vergiss dich selbst nicht!
Ich rate Euch dazu, eine Diagnostik machen zu lassen. Allein die Diagnose half mir und vielen anderen auch enorm. Ich warf mir nicht mehr so viel vor. Denn ich kann nichts dafür und ich kann nicht mein Leben lang gegen den Sturm laufen. So landet man im Burn Out, Depressionen, usw. Und ich denke du wirst auch langsam akzeptieren müssen, dass gewisse Erwartungen niemals passieren werden.
Ich würde auch erst einmal nur die Diagnostik machen. Nicht gleich planen, was man dann alles macht. Das überfordert dann und man macht nichts… Einen Schritt, der abgesteckt und absehbar ist. Wie einen kleinen Happen.
Zwecks Selbständigkeit: Bevor er die Diagnose bekommt, sollte er die Versicherungen abschließen, nur so als Tipp.
Ich rate euch danach, die Dinge anders aufzuteilen. Bei uns klappte es zB nicht, wöchentlich die Aufgaben zu ändern. Das krieg ich dann nicht hin. Ich bin immer die Wäsche-Frau, ich koche und kaufe ein. Dinge die einfach für andere erscheinen sind für mich enorm schwer. Andere Dinge, die groß und schwer wirken, bekomm ich sehr gut hin. Dafür habe ich genug Motivation und genug Dopamin. Der Hyperfokus ist auch gut nutzbar. Also frag am besten ihn, was einfach geht, was schwer ist und dann baut ihr darauf auf.
Ein unglaublich guter Youtubekanal ist „How to ADHD“. Ich kann ihn dir nur ans Herz legen. Dadurch habe ich mein Umfeld so gestaltet, dass ich mir leichter tu. ZB steht alles für meinen Kaffee jetzt an einem Fleck. So kann ich die Aufgabe Kaffee Machen sofort beenden und ich laufe so nicht mehr mit einer leeren Tasse ins Bad und dann steht sie in der Dusche, weil mich was ablenkte, als ich Wasser holen gehen musste.
Falls ihr Instagram habt aber auch auf Youtube gibt es recht gute Reels, die es dir ermöglichen, kurz in den Kopf deines Partners zu blicken. ZB läuft da im Hintergrund ein Lied ab, an das man denkt, gleichzeitig kommen lauter Gedanken rein so wie „du musst noch das und das tun“, dann Schuldgefühle „das und das blieb liegen“ und währenddessen denkst du an die Arbeit und ach, da fährt ein gelbes Auto vorbei. Sieht man selten, wie gehts eigentlich Tante Erna? Musik im Kopf. Ach, wieso steh ich jetzt in der Küche, was wollt ich nochmal?
Das wird per Reels finde ich immer ganz nett dargestellt. Ich zeigte das meiner Mutter, die seitdem besser versteht, wie das so ist.
Und bitte vergiss nicht den Selbstschutz. Er macht das nicht gerne und fühlt sich vielleicht wie eine Katastrophe, aber deshalb darfst du auch nicht zu kurz kommen und kannst ihm nicht alles abnehmen. Das wird dich ausbrennen, also bitte komm selbst nicht zu kurz.
Ich hoffe, ich konnte dir irgendwie mit diesem ewig langen Text helfen.
LG, ingebinge