Artikel in der WELT vom 27.05.2025
„Der stärkste nachgewiesene Faktor ist das Alter bei der Einschulung“
Einst bekamen unaufmerksame Kinder die Diagnose „minimale Gehirnstörung“; später wurde daraus die Hyperaktivitätsstörung ADHS. Ein Experte sieht die gehäuften Fälle kritisch. Besonders ein Risikofaktor bereitet ihm Sorge.
Bei Kindern und Jugendlichen, aber auch Erwachsenen wird immer öfter ADHS diagnostiziert. Die Abkürzung steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, die Bandbreite an Symptomen ist groß. Stephan Schleim forscht seit knapp 20 Jahren zur Geschichte psychiatrischer Störungen und sieht die Entwicklung kritisch.
Welt am Sonntag: ADHS liegt quasi im Trend, ist das noch normal?
Stephan Schleim: Gute Frage. Laut internationalen Studien haben etwa sechs Prozent aller Minderjährigen ADHS. Und die Zahl der Diagnosen steigt weiter an, mittlerweile gerade auch bei Erwachsenen. Aufgrund der langen Wartezeiten florieren zurzeit die Angebote von Privatpraxen. Für eine schnelle Beratung und Diagnostik verlangen die oft um die 500 Euro. Es gibt aber auch günstigere Anbieter.
WAMS: Warum nun die Zunahme?
Schleim: Die ursprünglichen Kriterien für ADHS aus den 1980er-Jahren wurden immer stärker ausgeweitet: Offiziell ist ADHS immer noch als Entwicklungsstörung definiert. Man ging davon aus, dass diese Störung bereits in der Kindheit erstmals auftritt und im Erwachsenenalter verschwindet. Seit gut 20 Jahren aber sehen das viele Psychiaterinnen und klinische Psychologen nicht mehr so eng. Nun suchen immer mehr Erwachsene die Diagnose. Und das Thema ist jetzt intensiv in den Medien sichtbar, auch Influencer auf TikTok und Co. haben es für sich entdeckt.
WAMS: Für viele Betroffene ist es wohl ein Segen, wenn ihre Schwierigkeiten ernst genommen werden.
Schleim: Ja. Aber die Tendenz, schnell ADHS zu diagnostizieren, wirft neue Fragen und Probleme auf: Es gibt in Schulen und an Universitäten für Menschen mit dieser Diagnose oft Erleichterungen. Sie bekommen zum Beispiel mehr Zeit für schriftliche Arbeiten. Das kann berechtigt und sinnvoll sein – aber auch Fehlanreize schaffen, die Diagnose anzustreben. Und es gibt, das muss man klar festhalten, auch das Ziel der Pharmaindustrie, möglichst viele Medikamente zu verkaufen. Allein in Deutschland nehmen inzwischen fünf Millionen Menschen täglich Psychopharmaka gegen Depressionen. Für weitere knapp zwei Millionen gibt es Präparate wie Methylphenidat (bekannt unter dem Markennamen „Ritalin“, Anm. d. Red.) gegen ADHS oder Neuroleptika.
WAMS: Psychiater bezeichnen ADHS als eine Störung des Gehirns. Wie hat man diese entdeckt?
Schleim: Eigentlich gar nicht. Vor 100 Jahren verpasste man Kindern, die unaufmerksam und unartig waren und bei denen Psychiater der Meinung waren, dass dies nicht mehr der Norm entspreche, die Diagnose „minimal brain damage“, „minimaler Gehirnschaden“. Nach Protesten von Eltern wurde die Diagnose in den 1970er-Jahren auf „minimale Gehirnstörung“ abgeschwächt, auch weil man die angebliche Schädigung nicht hatte dingfest machen können. Seit 1987 heißt das Syndrom offiziell ADHS. Und viele Psychiater führen es auf eine Störung des Dopaminhaushalts im Gehirn zurück.
WAMS: Dopamin-Mangel ist keine anerkannte Erklärung?
Schleim: Es ist eine Hypothese, die viele Psychiaterinnen und Psychiater vertreten. Nachgewiesen ist nur: Viele Kinder benehmen sich nicht wie gewünscht. Gibt man denen ein Mittel wie Methylphenidat, das den Dopaminspiegel erhöht, verhalten sich viele von ihnen „besser“. Manche Fachleute folgern daraus vorschnell, dass Menschen mit einer ADHS-Diagnose unter einer Dopaminstörung leiden würden.
WAMS: Das ist nicht Beweis genug?
Schleim: Nein. Denn es muss ja keine Gehirnstörung vorliegen, damit solche Substanzen wirken. Nehmen wir ein Phänomen wie Schüchternheit: Wenn Sie in eine Bar gehen, um jemanden kennenzulernen, und nach ein paar Drinks weniger verlegen sind als zuvor, dann heißt das doch nicht, dass Sie sonst an einem Alkoholmangel im Gehirn leiden, der Schüchternheit auslöst. Methylphenidat wird übrigens mitunter als Diät-Pille verwendet, weil es den Appetit zügelt, teils auch gegen Depressionen. Es wirkt also recht unspezifisch.
Schleim: Mag sein. Aber es ist ein logischer Fehler. Wenn ein Kind sehr unruhig ist, bekommt es heute schnell die Diagnose ADHS – und anschließend wird gesagt, weil es ADHS habe, sei es sehr unruhig. Ein Zirkelschluss. Man tut zwar so als ob, erklärt aber nichts.
WAMS: Wie viele Formen von ADHS sind denn bekannt?
Schleim: Gemäß der klinischen Psychologie sind es drei: eine Variante mit besonders hoher Impulsivität, eine mit starker Aufmerksamkeitsproblematik sowie ein Mischtypus. Ich habe mir die ADHS-Definition im DSM-5, dem internationalen Klassifikationssystem für psychische Störungen, aber genauer angesehen: Die beiden Hauptvarianten umfassen jeweils neun Symptome, von denen mindestens sechs über ein halbes Jahr auftreten müssen. Dazu die Mischtypen. Raten Sie mal, wie viele Kombinationen da möglich sind?
WAMS: Ein paar Hundert?
Schleim: Exakt 116.220, ich habe es ausgerechnet. Das verdeutlicht, wie heterogen die Schwierigkeiten der Betroffenen sind – und wie schwammig die ADHS-Diagnose ist.
WAMS: Es heißt auch, ADHS sei zu 50 bis 80 Prozent genetisch bedingt.
Schleim: Das können Sie gleich wieder vergessen. In Wirklichkeit lässt sich die Genetik nur sehr schwer von den Umwelteinflüssen abgrenzen. Aber bleiben wir einmal bei den angeblichen „50 bis 80 Prozent“. Das ist ja eine recht große Spannweite. Stellen Sie sich vor, Sie stellen sich auf eine Waage, und die zeigt an: Sie wiegen zwischen 50 und 80 Kilogramm. Da würde doch jeder sagen: „Diese Waage muss kaputt sein.“
WAMS: Aber in einigen Familien tritt ADHS auffällig häufig auf.
Schleim: Ja, ja. Aber man erbt von den Eltern ja nicht nur die Gene, sondern meist auch das Umfeld, in dem man aufwächst: Armut etwa, emotionale Spannungen, Leistungsdruck, mögliche Misshandlung und vieles mehr. Anders gesagt: Wer zum Beispiel seine Kinder schlägt, tut das mit höherer Wahrscheinlichkeit, weil er oder sie das einst selbst als „normal“ kennengelernt hat, als wegen einer genetischen Veranlagung. Auch die nun bekannten wissenschaftlichen Studien mit Hunderttausenden bis Millionen Personen erklären die Symptome oft nur zu wenigen Prozent. Die neueste Studie zu ADHS zeigte zudem, dass fast alle der 76 identifizierten Risikogene auch mit anderen Störungsbildern überlappen. Trotz jahrzehntelanger und milliardenteurer Suche ergibt sich immer wieder aufs Neue: Alles ist irgendwie auch genetisch. Doch in der Praxis nutzt das so gut wie nichts.
WAMS: Die Ausprägung soll auch mit hormonellen Störungen zu tun haben. Halten Sie das für plausibel?
Schleim: Allein schon wegen der großen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen bei diesem Störungsbild und seinem Auftreten in der Pubertät kann man einen Bezug zu den Geschlechtshormonen herstellen. Eine gerade erschienene Übersichtsarbeit diskutierte das mit Blick auf den Menstruationszyklus. Das Ergebnis blieb spekulativ. Für aussagekräftiger halte ich internationale Untersuchungen zum Zusammenhang mit Umweltgiften wie Blei, Pestiziden, Stickstoff- und Schwefeldioxid. Alles, was eine Zusatzbelastung für Körper und Psyche darstellt, kann die Wahrscheinlichkeit einer psychologisch-psychiatrischen Diagnose erhöhen.
WAMS: Was sind denn weitere wichtige Risikofaktoren?
Schleim: Der stärkste nachgewiesene Faktor ist das Alter bei der Einschulung: Die Jüngsten des jeweiligen Jahrgangs erhalten die Diagnose am häufigsten. Meines Erachtens wird hier Kindlichkeit pathologisiert, also für krank erklärt – und zwar bei Kindern!
WAMS: Soll man Kindern mit ADHS-Symptomen die große Aufmerksamkeit geben, die sie oft einfordern?
Schleim: Wenn Kinder oder Jugendliche zum Beispiel massiv den Schulunterricht stören und man ihnen daraufhin viel Aufmerksamkeit schenkt – wenn auch „negative Aufmerksamkeit“ – dann können sie das als eine Art Belohnung erleben. Man stützt also manchmal genau das, was man nicht haben will. In der Pädagogik gibt es daher inzwischen auch andere Ansätze: Manche Lehrerinnen und Erzieher loben die Kinder zum Beispiel gezielt, wenn sie ausnahmsweise mal stillsitzen, oder sich im Unterricht bemühen. Mitunter hilft das.
WAMS: Und Medikamente?
Schleim: Relativ neu ist, dass solche Präparate den Wirkstoff über längere Zeit hinweg kontinuierlich abgegeben. Früher musste man alle drei-vier Stunden eine neue Dosis einnehmen. Jetzt kommt man mit einer Pille oft zwölf Stunden aus. Und man dosiert die Medikamente individueller.
WAMS: Wenn Sie einen Sohn mit starken Schulproblemen und einer ADHS-Diagnose hätten: Würden Sie ihm von Medikamenten abraten?
Schleim: Zunächst würde ich mich fragen, welche Schulform für den Jungen geeignet ist. Dann käme die psychologische Ebene: Hat er vielleicht einfach noch nicht gelernt, mal stillzusitzen oder seine Zeit einzuteilen? Wie kann ich ihn da unterstützen? Lobe ich ihn genug, wenn er sozusagen mal „gut funktioniert“? Wenn das alles nichts bewirkt, würde ich sagen: Vielleicht probieren wir auch mal Medikamente aus.
WAMS: Klingt vernünftig. Zumal Lehrer berichten, dass Kinder dank einer solchen Medikation dem Unterricht besser folgen können, mehr Erfolgserlebnisse haben – und entspannter wirken.
Schleim: Ich bin da überhaupt nicht dogmatisch. Ich gönne jeder und jedem psychoaktive Substanzen, wenn sie unterm Strich mehr helfen als schaden. Aber eine Sache liegt mir noch am Herzen: die Selbstwirksamkeit. Gerade in Kindheit und Jugend ist es wichtig, dass man lernt, selbst etwas erreichen zu können. Wenn man es schafft, die ADHS-Problematik – vielleicht auch nur zum Teil – aus eigener Kraft zu lösen, ist das ein Erfolgserlebnis. Und solche Erlebnisse wirken sich positiv auf die allgemeine psychische Gesundheit aus. Schon das spricht aus meiner Sicht dafür, es erst einmal ohne Medikamente zu versuchen.
