Hi!
Ich wollte mal aus der Sicht eines Quasi-Profis einige meiner typisch neurountypischen Erfahrungen wiedergeben, die glaub ich das Feld Musik ganz wiedererkennbar mit den generellen ADHS-Problematiken verlinken.
Ich sage Quasi-Profi, weil ich zwar mein Instrument studiert hab, und zwar endlos lange (Konservatorium hier, Hochschule da, Konzertexamen und und und), dabei immer als Geheimtalent gehandelt wurde, welches „nur noch“ dies und jenes braucht, um aufzublühen, aber „dies und jenes“ kam eben nicht, egal wieviele Aufbaukurse, tolle Lehrer und sonstige „künstlerische Selbstfindungen“ ich durchlaufen hab.
Einige Aspekte nehmen dabei einen neurortypischen Ausgang, laufen aber ziemlich merklich über.
Das klassische Beispiel ist ja Lampenfieber. Bei mir sehr krass, schon im Tagesvorfeld eines Vorspiels durch massiven Reizdarm angekündigt. Nach den „grossen Momenten“ auf dem Klo folgt endlich der auf der Bühne: Die Finger rigide, zittrig, bin ich besessen fixiert auf das Hier- und Jetzt, wo es kein Raus gibt, weder physische Bewegung, noch zeitliche: Meine Gedanken kreisen spiralförmig um den Beginn des Stücks, was zur erschrockenen Feststellung führt, dass ich die nächsten Takte schon nicht mehr weiss, und es dem Zufall überlassen muss, ob sich die Finger noch dran erinnern werden – und so wird jeder sukzessive Augenblick im Vortrag zur verzweifelt angeklammerten Planke im Schiffbruch - bis sich unweigerlich das Blackout einstellt und der Ozean einen verschluckt.
Natürlich ist auch im überlebten Drahtseilakt die Interpretation für die Katz, da das Von-Moment-zu-Moment-Tasten das Fliessen in der Musik, was alle Ausdruckskraft und Körper-Geistesgegenwart verlangt, boikottiert: Ich spiele flach, unrhythmisch, zusammenhanglos, was übrigens exakt meinen Sprachduktus wiedergibt: Ich „murmele“, spreche monoton und verliere den Faden, schon auf grammatischer Ebene, weil ich mir die Sätze immer ad hoc im Kopf konstruieren muss, während mir die wortgefassten Gedanken, die ich formulieren will, ebenso wie Musikphrasen, augenblicklich-sukzessiv entgleiten, ein in jedem Moment von vorn Anfangen im Ringen nach den passenden Worten.
Was das Körperliche angeht, zu den Auswirkungen auf meine Gesundheit schrieb ich bereits in meiner Forums-Vorstellung: Rückenblockaden bis zur Bandscheibenprotrusion und Sehenscheidenentzündung machen, dass ich - heute noch - nicht länger als 10 Minuten schmerzfrei spielen kann.
Die extreme Angespanntheit und Steifheit wirkt sich aber ebenfalls negativ auf die Musikalität qua technischen Ausführung aus, davon unabhängig, wie fingerfertig man ist (und ich bin sehr fingerfertig): die Fehlerquote explodiert, weil die Flexibilität fehlt; breite Bewegungen ermöglichen grössere Handlungsflächen, wo Unregelmässigkeiten im bewegten Fluss leicht kompensiert werden; ist man hingegen auf jedes punktuelle Ereignis (Note) fixiert, führt jede kleinste Abweichung zum hörbaren Fehler (fehlgeleiteter Perfektionismus).
All dies hat meine Vorspiele zu jedesmal höchst unbefriedigenden und peinlichen Erlebnissen gemacht, trotz stets grosser Erwartungen flog ich bei jedem Wettbewerb mit einer kläglichen Vorstellung in der ersten Runde raus, auch sonstige Vorspiele hab ich vor Versagensangst wie Finger die Flamme immer mehr gemieden und bin - im selbst vorgetäuschten Glaube, ich müsse mich einfach noch weiter perfektionieren, - zum Stubenspieler geworden.
Die „Stube“ ist das Stichwort, was mich zum anderen Hauptthema führt: Übegewohnheiten. Mein Üben war stets von Zwanghaftigkeit geprägt, wovon das an erster Stelle Schlimme die Tatsache war, dass es sich nach aussen bewährte, ganz analog wie sich auf andere Lebensbereiche angewandte Taktiken zur Vortäuschung von Fertigkeit und Vorzüglichkeit bewährten, indem sie mir Anerkennung der Anderen und dadurch momentane Selbstakzpetanz sicherten (eine Ausnahme dieser Unbemerktheit ist mir bis heute eingebrannt geblieben als mein damaliger Professor, innerhalb eines Wochensymposiums, mich einmal in der Residenz zufällig vom unteren Stockwerk aus üben hörte, entsetzt in mein Zimmer stürmte und mir das Instrument aus der Hand riss - da hatte es bei ihm zumindest klick gemacht).
Zwanghaftes Üben heisst, nicht aufhören können zu spielen, dabei aber nicht wirklich „da“ sein, sondern unreflektiert und ungefühlt immer wieder dieselben schwierigen Stellen wiederholen, bis man irgendwie weiterkommt. Dabei übe ich imgrunde so, wie ich süchtig Computer zocke, blind immer wieder dieselbe Hürde wiederholend bis ich sie irgendwie passiere. Und wie beim Computerspiel gibt die alleinige Befriedigung die Tatsache dass man, trotz zich Toden, die man sich als Zocker ja leisten kann, am Ende das Level schafft und die Prinzessin rettet (deswegen ziehe ich das Zocken dem Leben vor, da mir bei letzterem die permanenten Fehlversuche viel teurer zu stehen kommen und die Prinzessin mitunter längst mit dem Drachen durchgebrannt ist während ich mir die Schnürsenkel nach dem x-ten Fall zubinde). Dieses Phänomen entlarvt sich mir in seiner Absurdität jedesmal wenn ich, nach längerem Übeaussetzen das Instrument wieder nehme und feststelle, wie viel besser ich als sonst spiele. Ja, ich übe so, dass ich mich musikalisch verschlechtere und dies führt mir vor Augen, wie ich meine Lebenszeit in den Sand stecke, selbst wenn ich, anstatt zu Zocken, meine Zeit doch „sinnvoll“ verbringe - wobei mich die Resignation in schwachen Momenten wiederum zum Zocken führt.
Wie gesagt, nach aussen wirkt das, selbst zeitweilig bei Kennern, verblendend, da ich durch besessene Insistenz die schwersten Stücke spielen kann. Manche rechnen es mir in ihrer Verblendung noch als Vorzug an, dass ich nicht einfache Stücke, dafür schwierige spielen kann, fern der Evidenz, dass schwierige Stücke in ihrem Feuerwerk die Mängel verdecken, während sie bei einfachen unbeschmückt zutage treten. Die meisten meiner Lehrer erlagen (notwendig) dem Trugschluss, dass es besser war, mir schwere Stücke zu geben, weil diese mich mehr motivierten; klar, als Dopaminsüchtiger war ich immer auf der Suche nach dem Kick, der mir mein einziges Vitalitätsgefühl zuführte, ansonsten stellte ich mich geistig ab.
Ein anderer Verblendungseffekt aus der Kategorie „ADHS ausgeschlossen“ ist das Auswendiglernen. Oh ja, ich kann wahnsinnig viel auswendig lernen, eben weil ich immer wieder dasselbe - bis zum erbrechen – durchspiele. Aber das ist ein rein physiologisches Gedächtnis, in meinen Fingern abgespeichert, nicht in meinem Geist vollzogen, was die Tatsache beweist, dass ich ein erlerntes Stück nur im Block, von Anfang bis Ende spielen kann, während ich an konkreten Passagen mitten im Stück kaum ansetzten, sie mir nicht mal vorstellen, nachsingen oder visuell als Noten darstellen kann.
Letzter Aspekt den ich hier noch nennen will, ist das Zusammenspiel mit Anderen. Da ich zu 90% immer solistisch unterwegs war, musste ich mich nicht viel damit konfrontieren, aber die gemachten Erfahrungen waren wieder einmal ernüchternd. Schmerzlichstes Beispiel, ein Duo – immerhin nur zwei! – welches ich aufbauen wollte, wo der Partner, nach mehreren Malen, nachdem er wutentbrannt und heulend die Probe abbrach, weil ich beim Spielen überhaupt nicht zuhörte, „mein Ding“ durchzog, und imgrunde nur die Noten spielte, entschied, nur noch unter Drittanleitung mit mir proben zu wollen.
Denn auch das ist bemerkenswert, unter solch „Drittanleitung“ schaffe ich es auch, einen Qualitätssprung und gute Musik, auch mit anderen, zu machen. Viele, die mich in diesem Übergang erleben, meinen, es spielten zwei vollkommen andere Personen. Aber, so scheint es bis jetzt,klappt das eben nicht ohne Anleitung. Ich habe schon in meiner Vorstellung hier meinen Musikcoach erwähnt, mit dem ich vor fünf Jahren begann zu arbeiten, der erstaunlich viel aus mir rausgeholt hat, aber zu fast jedem Beginn aller unserer Sitzungen musste er mich erst mal auf 0 dekonstruieren um mich auf die Spielhaltung und Wahrnehmungsebene zu bringen, auf die ich von mir aus einfach nicht kam. Ich erfreute mich an den tollen Ergebnissen, die das Umdenken in mir und der Musik verursachten – weswegen ich die Sitzungen zu meinen schönsten Lebensmomenten zähle – aber einverleiben konnte ich mir das Umdenken leider bis jetzt noch nicht. Meine Arbeit wurde von einem Konzert gekrönt, welches ganz gut lief, aber seit zwei Jahren, in denen ich fernab vom Coach gezogen bin, ist meine musikalische Aktivität wieder eingesackt und ich bin wieder in eine tiefe Resignationsphase gefallen (siehe Computerspiele).
Eins noch zum Thema „zuhören“, dieses Defizit spüre ich auch bemerkbar bei der Lehrtätigkeit, wo ich stark darin begrenzt bin, sowie meine eigene, erst recht fremde Darbietungen zu analysieren und Baustellen zum erarbeiten aufdecken. Qualitätsmerkmale zu unterscheiden fällt mir enorm schwer, da Musik für mich quasi nur in meinem Kopf existiert, und dort ist alles „gut“ oder eher: einerlei. Aber ich will hier nicht das Fass Lehrer und ADHS weiter aufreissen.
Jetzt will ich mich wieder hochrackern, habe schonmal das Instrument wieder ausgepackt und fange ganz konsequent mit leichten und mittelschweren Übungen an, die nicht anspruchsvoll sind aber viel Raum zum Atmen und frei gestalten geben, wo ich von anspruchsvoller Musik sofort in den Zwangsmodus versetzt werde. Dabei fällt es mir immer noch vertraut schwer, nach kurzer Spielzeit eine Pause einzulegen und körperlicher und mentaler Obtrusion zu entgehen.
Da mein Bewusstsein, dass es nur mit spezifisch musikalischer „Behandlung“ nicht getan ist, in der zeitlichen Summe meiner Erfahrung wieder ausgeschlagen ist, liebäugel ich wieder (ich tat es schon vor 5 Jahren, als ich mich dem ADHS-Test mit „Verdacht auf“ unterzog) mit Medis. Man hört ja immer wieder, dass die üblichen Pillen eine der Musik und ihrer Anforderung nach freiem expressiven Fluss nicht zuträgliche geistige Eingekapseltheit verursachen. Ich bezweifele aber, dass mich die Medis so „geschlossen“ machen wie mein eigener lebenslanger (pathologiebedingter?) mentaler Habitus: zum „Roboter“ habe ich mich, wie ihr sehen konntet, ganz ohne Medis selbst gemacht, fliessband-zwanghaftig geübt, mechanisch-seelenlos von ein zum anderen Jetzt gespielt, null im Dialog mit anderen gespielt…
Heisst natürlich nicht im Umkehrschluss, dass Medis meine Musikalität fördern werden, erst recht nicht die Arbeit durch Reflektion mit kompetenten Musikern ersetzen können, aber wenn sie mich nur irgendwie von meinen mentalen Zwängen und Engen befreien, wird es gut für mein Leben nicht weniger als für meine Musik sein, und wie schön wäre es, mich von der Abhängigkeit von fremder Anleitung ein Stück zu befreien, hier und überall…
Sorry für den Batzen Text, wenn es euch anstrengend vorkam… Wie sind eure Erfahrungen mit musikalischen Selbstfindungsprozessen, mit oder ohne Medis?