Vielleicht hilft es zu definieren, was wir eigentlich unter Krankheit, Beeinträchtigung/Behinderung usw. verstehen. Nicht objektiv, denn dann müssen wir auch noch diskutieren, was wir jeweils unter objektiv versehen. Jeweils für uns, die Begriffe, mit denen wir in diesem Thread bisher jeweils hantiert haben.
Unter einer Krankheit verstehe ich eine Abweichung von einer Norm, die nicht die Gesellschaft, sondern mein Körper gesetzt hat. Der Normalzustand, oder besser, Stabil-Zustand, meines Körpers ist „gesund“, dieser Normalzustand ist natürlich bei jeder und jedem anders. Er ist auch kein Idealzustand. ADHS habe ich immer gehabt, es ist Teil meines Normalzustands, deshalb - nach meiner subjektiven Definition - keine Krankheit.
Ja, ich weiß, nach der Definition ist auch Altern eine Krankheit, der Stabilzustand ändert also sich im Lauf der Zeit. Es ist der Zustand, in dem der Körper (und der Geist, der ja auch auf Körperfunktionen beruht) innerhalb seiner eigenen Parameter stabil funktioniert, inklusive Schwankungen wie Gewichtsveränderungen oder Erschöpfung. Auch die Pubertät war also keine Krankheit! Puh.
Unter einer Behinderung verstehe ich einen Dauerzustand, der meinen Körper (und Geist) davon abhält, diesen Stabilzustand jemals zu erreichen. Maßstab ist also nicht mein eigener Normalzustand, sondern der Zustand, den ich bräuchte, um überhaupt vollwertig (wiederum nach meinen Maßstäben) zu funktionieren. ADHS, oder einige Aspekte davon, fallen hier definitiv rein, jedenfalls bei mir. Ich kenne aber auch Leute, die ein Leben führen, in dem dieser Konflikt zwischen dem Ideal-Selbst und dem Real-Selbst einfach nie zum Tragen kommt. Die kriegen deshalb auch keine Diagnose. Stichwort Leidensdruck.
Ich benutze den Begriff meistens gleichbedeutend mit Beeinträchtigung, aber Beeinträchtigung ist etwas allgemeiner und damit unschärfer. Die Beeinträchtigung kann auch das Funktionieren in Bezug auf die Erwartungen anderer beinhalten, eine Behinderung ist eher eine Sache zwischen mir und mir. Das finden jedenfalls ich und ich.
Unter Veranlagung verstehe ich … das gleiche in wertfrei? Eine Abweichung (genetisch oder sozial bedingt) von der Norm (nicht meiner, sondern der allgemeinen), die ich einfach habe, und die mich positiv und/oder negativ, oder auch einfach irgendwie, anders macht. Diese Abweichung ist nicht der Fokus meiner Therapie (im Gegensatz zu der Beeinträchtigung, die von der Veranlagung verursacht wird) und soll auch gar nicht therapiert werden. Sie kann aber auf zwei mögliche Weisen „abgemildert“ (also gewissermaßen eingenormt) werden: Indem ich mich anpasse oder indem wir die Norm verändern. Ich denke, beides ist notwendig und sollte zur Verhandlung stehen.
Was nicht zur Debatte steht, ist die ganze Verantwortung für die Normabweichung auf mir abzuladen, was meines Erachtens der Krankheitsbegriff tut. „Jetzt hast Du deine Diagnose, jetzt tu was dagegen und lass uns in Ruhe mit deinem Anderssein!“ - Das war - paraphrasiert - eine Reaktion, die ich anfangs oft aus meinem Umfeld gekriegt habe. Die halte ich für extrem toxisch. Das Scheitern an der Norm macht krank, egal obn die Abweichung eine Krankheit ist oder nciht. Umso mehr, je rigider die Norm ist. Ich halte beides für wichtig: Dass das Leiden (den Begriff definiere ich jetzt nicht) anerkannt wird und Therapiemöglichkeiten offen stehen, und dass wir die Normalität etwas ND-tauglicher machen, damit das Leiden bei Menschen mit nur leichter Abweichung vielleicht gar nicht erst so weit kommt.
So, das sind meine Begriffe. Ihr braucht eure nicht zu posten, aber vielleicht hilft es. Jedenfalls wisst Ihr jetzt, wie ich die Begriffe einordne und was ich meine, wenn ich ADHS nicht als Krankheit bezeichne. Vielleicht passt mein Behinderungsbegriff zu Eurem Krankheitsbegriff und wir liegen gar nicht so weit auseinander?