Ich habe eine Woche lang jeden Tag Cannabis geraucht. Morgens, Mittags und Abends. Es hat mir geholfen.
Ich hatte diese Woche einen Termin bei meinem Psychiater. Der wollte mir Elvanse verschreiben. Medikinet hatte nicht so recht geholfen. Ich merke zwar, dass es mich wacher und konzentrierter machte, jedoch ist mein Problem ein anderes: Stress, Getriebenheit, Unzufriedenheit, Erschöpfung. Ich habe es an anderer Stelle schon mal beschrieben: Sehr schnell und immer wieder gerate ich in Sackgassen, aus denen ich mich nicht mehr befreien kann. Medikinet hatte mir geholfen, da durch zu powern, mit einem starren Tunnelblick. Doch trotzdem wurde es immer schwerer, meine Arbeit zu erledigen. Ich wurde immer eingeschränkter in meinen Fähigkeiten. Die Ablehnung stieg und ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Bevor in Absprache mit meinem Psychiater die Umstellung auf Elvanse erfolgen sollte, wollte ich noch was ausprobieren.
Ich hatte abends immer mal wieder Cannabis geraucht. Doch so recht hatte mir das auch nicht geholfen. Klar, es hat mich entspannt. Ich genoss den Abend, oft schaute ich einen Film. Doch für den nächsten Tag hatte das keine Wirkung. Ich wachte auf und war depressiv. Ich glaubte sogar, dass das Cannabis ein Grund für mein morgendliches down war. Wie ein Kater. Trotzdem hatte es Vorteile. Eine kleine Pause für den Moment. So hatte ich beispielsweise immer wenn meine Familie schlafen ging Cannabis geraucht und dann noch die Wohnung aufgeräumt. Egal wie platt ich vom Tag war, mit Cannabis ging’s immer noch ganz gut. Irgendwann merkte ich, dass ich einen Automatismus entwickelt hatte. Selbst ohne Cannabis räumte ich abends noch auf. Es wurde für mich selbstverständlich, mehr Ordnung zu halten.
Da merkte ich, dass da noch mehr gehen könnte. Doch ich musste erst die Überwindung finden, mich trauen zu wollen Cannabis auch mal tagsüber zu probieren.
Erst machte ich es heimlich am Wochenende, wenn ich Zuhause war. Dann erzählte ich irgendwann meiner Frau davon. Ihre Einschätzung, dass ich auch nach aussen hin offener und motivierter war, wenn ich geraucht hatte, bestätigte mich in meinem Vorhaben. So beschloss ich, den Versuch zu wagen und Cannabis als Medizin zu testen.
Ich stellte Regeln auf:
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Ich kann Cannabis inzwischen sehr gut dosieren. Und zwischen offen und eloquent in der Öffentlichkeit, kichernd vor der Glotze und in meinen eigenen Gedanken gefangen liegt ein Unterschied in der Dosierung. Dazu später mehr. Wichtig war mir: kein Tabak. Kein Methylphenidat. Keine anderen Einflüsse.
Ich rauchte nach dem Frühstück, auf der Arbeit in der Mittagspause und nach Feierabend auf dem Weg nach Hause.
Safety first, also kein Autofahren. Das geht zum Glück, da ich mit der Bahn zur Arbeit fahre.
Die Dosierung sollte stets sicherstellen, dass ich nicht verballert durch die Gegend renne und man es mir garnicht anmerken sollte.
Ich startete mit einem Döschen Cannabisblüten, einer kleinen Holzpfeife, die man auch ganz gut mitnehmen kann, und einem Vaporizer für Kräuter. Zuhause ist das Cannabisrauchen leicht. Auf der Arbeit ein bisschen schwerer. Aber auf dem Klo merkte es auch keiner. Zum einen gibt es da ein Fenster und durch die geringe Menge und den puren Rauch geht es schnell und riecht so gut wie nicht. Ich rauche teilweise bei uns in der Küche und meine Frau riecht nichts, wenn sie reinkommt.
Der erste Zug nach dem Frühstück war komisch. Ich hatte auch vorher schon mal morgens Cannabis geraucht. Doch die Idee, dass ich jetzt zur Arbeit fahren musste, war schon komisch. So ein kleines bisschen verballert fühlte ich mich schon. Da bringt das Cannabis dann auch Ängste hervor. Kifferparanoia sagt man umgangssprachlich. Ich hatte Schiss, in die Öffentlichkeit zu gehen. Jetzt kommt aber das Ding mit der Dosierung. Ich hatte mir ja eine feste Dosis verschrieben und mir extra eine Feinwaage gekauft. Ich wog mir 20mg Blütenkrümel ab. Unterwegs bekam ich das mit Augenmaß ebenso gut hin. Und wenn ich doch merkte, dass meine Ängste zu präsent wurden, konnte ich mit CBD Tropfen noch nachjustieren. Durch das CBD gingen die Ängste zurück, ich wurde nochmal entspannter. Damit war ich klar, ansprechbar, gut gelaunt. Wenn ich alleine war, z.B. in der Bahn, dann hatte ich sehr präsente und bildreiche Gedanken. Nicht diese lästigen undefinierbaren Sorgen. Ich war viel mehr im Moment und stellte fest, wie schön es ist, die Umwelt so intensiv wahrzunehmen. Auf der Arbeit war ich auch entspannter. Der Stress von allem, was ich noch zu tun hatte, war weg. Der war nämlich zuletzt wieder so stark geworden, dass ich mich an meinen Schreibtisch verkrochen hatte, die Kollegen ignorierte so gut es ging und mich meist versucht hatte irgendwie im Internet abzulenken, weil es mir in meinem Kopf zu unruhig war.
Die ersten Tage merkte ich noch, dass es mit Nachlassen der Wirkung nach 3-4 Stunden wieder stressiger wurde. Doch nach etwa drei Tagen nahm mein Stress insgesamt ab. Auch am Wochenende war ich Zuhause einfach präsenter. Ich merkte erst jetzt wie eingeschränkt ich vorher mit meinem kleinen Sohn war. Ich war im Kopf immer woanders, wenn ich eigentlich Zeit mit ihm hätte verbringen sollen. Jetzt spielte und lachte ich stundenlang mit ihm. Ich ließ mich auf dumme Kinderspiele ein und alles andere war mir egal. Ich war völlig in dem Moment. Wie angenehm.
Nach der Woche zog ich gemeinsam mit meiner Frau ein Fazit. Sie hatte auch bemerkt, dass ich wieder präsent war. Nicht der unausstehliche, gestresste Mensch, der ich zuletzt war.
Nach der Woche waren die Ängste und Unsicherheiten weg. Auch das Gefühl so ein bisschen high zu sein war verschwunden. Das ist wohl der Gewöhnungseffekt, bei dem Kiffer dann die Dosis erhöhen. Ich war klar, es war normal geworden. trotzdem war ich motivierter, lockerer, konzentrierter und kreativer. Auch die ersten Tage danach, ganz ohne Stimulanzien, war ich noch genauso locker und gut drauf. Stressfrei. Das Cannabis hatte sich tatsächlich gut in den Alltag integrieren lassen.
Wobei die Art der Einnahme…naja. Eine Tablette oder ein Mundspray wie Sativex würde ich jederzeit vorziehen. Auch um eine noch gleichmäßigere, längere Wirkung zu zu erzielen.
Die bekloppteste Situation war mit Sicherheit mein Stop auf einer Fastfood-Toilette, kurz vor einem Kundentermin. Es war Mittag, ich wollte noch konsequent meinen Plan durchziehen, bevor ich eine Präsentation halten sollte. Immerhin war das eine besondere Situation, in der ich mir eine positive Wirkung erhoffte. Aber auf der Kundentoilette kommt man sich wirklich wie ein Junkie vor. Ich funkelte mit meiner Pfeife rum und lauschte ob sonst keiner reinkommt. Aber die anschließende Präsentation vor acht Leuten war sehr erfolgreich. Normalerweise bin ich in solchen Situationen fürchterlich aufgeregt. Meine Gedanken rasen, ich frage mich ständig was jeder einzelne in der Runde von mir denkt. Darüber verhaspele ich mich und versuche so schnell wie möglich durch meinen Text zu kommen. Dieses Mal war es anders. Ich konnte zu jedem Punkt ausführlich sprechen, frei aus Überzeugung. Ich erhielt sogar Lob.
Ja: Mein ADHS, zumindest der Stress, der damit einhergeht, fühlt sich im Alltag an wie ein ständiges Lampenfieber.
Die nächste wichtige Erkenntnis: Meine Arbeit war mir vorher überhaupt nicht wichtig. Ich hatte nie das Bedürfnis gehabt, meine Position durchsetzen zu wollen. Viel zu froh war ich, wenn es keine Konflikte gab. Darüber hatte ich meinen Job immer wieder aufgegeben. Ich hatte bis heute keinen Job länger als zwei Jahre.
Mit Medikinet wurde ich verbissener, das heißt ich fühlte mich häufiger angegriffen und musste mich verteidigen. Ja, ich habe meine Position durchgesetzt, aber mit einer Verbissenheit. Mit Cannabis war ich entspannt und selbstverständlich. Ich war von dem überzeugt, was ich tat und konnte es mit Charme und einem Lächeln rüberbringen, nicht mit der Brechstange. Gibt es Fussballfans hier? Auf Cannabis fühlte ich mich wie Jürgen Klopp, während ich mit Medikinet eher Giovanni Trappatoni auf seiner berühmten Pressekonferenz war. Ohne Medikamente war ich einfach ein graues Mäuslein gewesen, das lieber gar nichts sagte, weil ich damit beschäftigt war, meine Gedanken zu sortieren.
Nochmal ein Wort zu den Ängsten: Cannabis macht was mit meinen Ängsten. Klar! Aber es ist genauso wie mit den positiven Emotionen, mit der Motivation und Überzeugung. Es bringt sie hervor, so dass sie präsent und greifbar sind. Dasbräuchte ein wenig Übung, aber jetzt kann ich mich mit ihnen auseinandersetzen. Cannabis macht mir bewusst, was ich fürchte. Die soziale Aberkennung meines Status zum Beispiel. Ich habe hart an meinem Titel gearbeitet: Ich bin der Familienvater mit Job und Eigenheim. Das habe ich mir gegen alle Widrigkeiten erarbeitet. Wenn ich mich jetzt oute bin ich der Kiffer. Was für ein Abstieg! Was sollen denn meine Eltern denken? Schlimmer noch: Meine Schwiegereltern! Die sind so konservativ. Diese Angst wurde mir in der Woche noch einmal sehr bewusst. Doch ganz ehrlich, die Angst aus der Reihe zu tanzen besteht schon mein ganzes Leben. Pass dich an, dann eckst du nicht an!
War die Woche also ein voller Erfolg? Völlig überzeugt bin ich noch nicht. Könnte es sein dass es Langzeitfolgen gibt? Wird die Dosierung doch noch steigen müssen? Kommt die Ablehnung wieder? Wobei ich vor den Nebenwirkungen von Amphetaminen noch mehr Angst habe als vor Methylphenidat. Ich merke dass mein positiver Schwung langsam wieder nachlässt. Damit bin ich wieder mitten in meinem Problem: Grundsätzliche Zweifel. Zumindest war es kein Problem, die folgende Woche wieder auf Cannabis oder Medikinet zu verzichten. Ich bin wohl kein Junkie. Hurra.
Jetzt muss ich mich entscheiden. Kämpfe ich gegen das Stigma von Cannabis und stehe dazu, dass ich diese Droge als Medikament brauche. Das Risiko und die Einschränkungen, mich weiter selbst zu therapieren und Drogen zu kaufen sind hoch. Im schlimmsten Fall schade ich meiner Familie. Oder folge ich meinem Arzt und probiere Elvanse. Der erkennt zwar an, dass mir Cannabis hilft, aber möchte es mir nicht verschreiben. Er vertritt die Meinung, dass Cannabis dem Gehirn mehr schadet als nutzt.
Außerdem stellt sich nach der Woche die Frage, ist ADHS wirklich mein Problem? Oder sind es Depressionen und Angststörungen, die ja vielleicht mit einem ADHS zusammenhängen?
Entschuldigt den langen Text. Aber hey, seit ich regelmäßig Cannabis nehme kann ich meine Gedanken sehr detailliert betrachten und zu Papier bringen. Das ging vorher auch nicht. Wenn ihr das alles gelesen habt, freue ich mich auf eine Diskussion oder Fragen.