Hallo zusammen,
ich frage mich, ob es sinnvoll ist für mich, dass ich mich an einen spezialisierten Diagnostiker wende.
Mir sind die Vorteile nicht ganz klar.
Die Nachteile sind aus meiner Sicht:
- Es gibt keine solchen spezialisierten Diagnostiker hier in der Nähe, sondern es wird eine mehrstündige Reise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nötig, was viel Stress für mich bedeutet. Und ich werde die entsprechenden Ärzte auch danach nicht mehr aufsuchen, beispielsweise für eine Behandlung.
- Ich gehe davon aus, dass ich vermutlich keine Diagnose bekomme, selbst wenn ich ADHS oder ADS habe.
Wenn ich den Test von ADxS mache, kommt eine hohe Übereinstimmung mit Symptomen heraus (34 von 43, also 79 Prozent). Doch bei den DSM- und ICD-Kriterien ergeben sich nur 5 von 9 oder 5 von 10, beziehungsweise 1 von 5 Hinweise auf ADxS.
Genau diese Erfahrung habe ich auch bei der Autismus-Diagnostik gemacht. Ich lag dort überall an der Grenze vom Cut off und die Diagnostiker können nicht mit Grenzwerten und Komorbidität umgehen und geben dann lieber keine Diagnose.
Die Schwerpunkte in unserem Gesundheitssystem liegen genau da, wo ich nicht typisch bin, sowieso nicht als „schon ältere“ Frau. Das habe ich sehr deutlich in dem Diagnostik-Prozess gemerkt. Ich habe mich halt immer schon gut angepasst und viele Strategien im Laufe der Zeit entwickelt, wie das halt von Mädchen und Frauen erwartet wird. Zum Beispiel habe ich viele Methoden entwickelt, mich unsichtbar selbst zu verletzen, um mit dem Druck umzugehen und „wieder in die Spur zu kommen“, während zum Beispiel mein Bruder den Kopf gegen die Wand geschlagen und gebrüllt hat. Für mich als „Mädchen“ waren diese auffälligen Verhaltensweisen halt keine Option. Und daher bin ich beispielsweise vermutlich weder hyperaktiv noch besonders auffällig impulsiv.(Das heißt natürlich nicht, dass innen nicht ganz schönes Chaos herrschen kann.)
Und ich habe vermutlich eine Mischform (Asperger und ADS), sodass sich zwar Manches verstärkt, Manches aber auch ausgleicht. Beispielsweise verstärken sich Exekutivprobleme enorm, aber ich habe nach außen sichtbar keine so starken Probleme Dinge zu beenden oder Ziele zu erreichen, da ich extrem abhängig von Routinen bin und die helfen.
Außerdem sind die Fragen nicht so gestellt, dass ich sie aussagekräftig beantworten kann. Das ist so ein Problem von mir: Ich verstehe häufig Formulierungen nicht und kann unlogische Fragen nicht beantworten. Das war ganz schlimm mit dem Autismus-Diagnostiker: Ich habe Alles ausführlich erklärt und bei dem ist immer nur ein „nein“ oder „ja“ hängengeblieben, wodurch ich mich komplett unverstanden gefühlt habe. Ich mache ein Beispiel: „Wie oft haben Sie Schwierigkeiten, Dinge auf die Reihe zu bringen bzw. wenn Sie eine Aufgabe zu erledigen haben, die Organisation erfordert?“ Darauf antworte ich, dass ich oft schlaflose Nächte und Angstzustände habe, wenn so Aufgaben anstehen, weil ich so überfordert bin. Aber wenn ich weiß, dass ich es tun muss, bediene ich mich aller Tools, die ich im IT-Projektmanagement gelernt habe, damit ich irgendwie handlungsfähig werde und aus der Lähmung herauskomme: Ich mache Stakeholder-Analysen, definiere die Ziele, mache Risiko- und Aufwandschätzung usw., selbst für ganz banale Dinge wie die Familie für ein paar Tage zu besuchen. Und dann arbeite ich das Schritt für Schritt ab. Sonst könnte ich mich nicht damit befassen. Und wenn ich zurückkomme von dem Familienbesuch breche ich für ein paar Tage bis Wochen zusammen, muss mich krankschreiben lassen, alles absagen und verschieben und brauche lange, um wieder klarzukommen. Aber die Familie registriert nur, dass ich wie vereinbart zu Besuch war und mein Leben anscheinend in Ordnung ist. Und dann notiert der Arzt „keine Schwierigkeiten“ und ich denke, häh??? Das soll normal sein??? Okay…
Und ich darf nicht den Fehler machen, zu erwähnen, dass ich in der Vergangenheit eine kPTBS diagnostiziert bekommen habe. Denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass dann nach überhaupt nichts mehr geschaut wird, sondern jedes Problem mit „Trauma“ abgestempelt wird. Allerdings weiß ich nicht welches Trauma genau gemeint ist? Ich habe mich halt immer konditioniert und gefoltert gefühlt, weshalb mir schon viele Ärzte allen möglichen Missbrauch eingeredet haben. Aber ich erinnere mich an gar keinen Missbrauch, zumindest nicht so wie die Ärzte und Therapeuten das immer meinen. Ich muss also bisherige Diagnosen verheimlichen und komme nicht gut damit zurecht, weil ich gar nicht lügen kann.
Ich habe also die Befürchtung, dass nichts dabei rauskommt und ich dann hinterher wieder total überlastet und verwirrt bin und mich noch mehr anders und gestört fühle als wenn ich nicht durch so einen Prozess gehe. - Meine Eltern müssen wieder befragt werden.
Meine Eltern waren nicht erfreut darüber, dass sie bei der Autismus-Diagnostik involviert wurden. Sie fanden es sehr anstrengend und unnötig.
Meine Eltern bestehen darauf, dass ich nichts außer einer Hochbegabung habe. Das liegt einerseits daran, dass ich als Kind die Diagnose ADHS schonmal bekommen habe. (Das habe ich erst vor ein paar Monaten, also dreißig Jahre später erfahren.) Und damals hatten sie es abgelehnt. Ich denke, es ist ihnen wichtig, dass sie keine gestörte oder kranke, sondern nur eine besondere Tochter haben und dass sie auch nichts falsch gemacht haben und dass auch sonst niemand in der Familie betroffen sind. (Ich bin ganz ganz sicher, dass mein Bruder und mein Vater und meine Schwester irgendwo im Neurodivergenz-Spektrum sind, sowie auch ein paar weitere Verwandte.)
Wenn die jetzt nochmal Fragen beantworten sollen, gibt es ganz sicher Stress in der Familie und das wird super ätzend.
Was sind aus eurer Sicht die Vorteile der Diagnostik und warum denkt ihr, sollte man eine machen lassen? Wozu ist das gut?
Ich erwähne noch, dass meine Ärztin auch Medikamente ohne ADHS-Diagnose verschreibt. Also bisher hat sie die Adrenalin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer immer wegen Depressionen verschrieben. Ich weiß nicht wie sie das jetzt mit den spezifischeren Medikamenten abrechnen will. Das wird sie schon wissen, wenn sie mir es vorschlägt.
Mir hilft es halt deutlich, merke ich, davon auszugehen, dass ich eine Asperger-ADS-Form habe mit Traumafolgestörung, darüber zu lesen und zu lernen und mich damit zu identifizieren. Immer wieder habe ich das Gefühl, dass ich das nicht darf, weil ich nur für die Traumafolgestörung eine Diagnose habe. Aber mich ärgern auch die anderen Diagnosen (wie Depressionen und in der Pubertät Borderline) immer sehr, weil ich mich so gar nicht damit identifizieren kann. Dabei kann es mir vermutlich egal sein, so lange die Behandlung stimmt. Und ich habe ja eine gute Psychiaterin. Und eine passende Therapie zu finden habe ich aufgegeben. Wer kennt sich schon mit solchen Kombinationen aus?