Hallo!
Ich glaube, meine Autismus-Diagnose ist falsch. Im Nachhinein, wenn ich zurückblicke, sind beinahe alle Eigenschaften, die ich für Autismus hielt, mit der Überkompensation und der Maskierung des ADHS erklärbar.
Für den Kontext: ich habe seit rund zwei Jahren meine ADHS Diagnose, ergo selbige eben im Erwachsenenalter erhalten (mit Mitte 30). Weil ich in vielen Dingen sehr gegensätzlich zu den ADHS-Menschen in meinem Umfeld war/bin, hatte ich von Anfang an den Verdacht auch autistisch zu sein. Mein Neurologe hielt das für absolut nicht zutreffend bei mir und gab mir keine Unterstützung in der Hinsicht.
Also habe ich selbst mit der Recherche angefangen, allerdings vornehmlich via Social Media und Selbsttests wie auf Embrace Autism. Nicht mit richtigen Fachbüchern und den Diagnose-Kriterien. Im Nachhinein lag darin wohl der Fehler, weil auf den sozialen Medien viele ADHS-Symptome, Autismus-Merkmale und darüber hinaus etliche psychische Krankheiten wie PTBS durcheinander geworfen werden.
Aber, und damit mache ich mir ganz sicher keine Freunde hier, der Wunsch (ja, so muss ich es in aller Deutlichkeit bei mir selbst nennen) autistisch zu sein war immens. Vermeintlich glich das alles aus, was durch das ADHS falsch lief bei mir: Organisation statt Chaos, Detaligenauigkeit statt flüchtigem Überblick, Ruhe statt Impulsivität usw. Selbstverständlich ist das eine komplett einseitige und falsche Ansicht von Autismus, wie ich heute weiß.
Ich habe dann ohne Unterstützung meines Neurologen eine Autismus-Diagnostik veranlasst und hatte Glück, im letzten Jahr Termine zu erhalten. Ich habe einige Fragebögen und Interviews gemacht und die Diagnostik ging etwa über vier Stunden plus Zuhause ausgefüllte Fragebögen. Sehr ausführlich also. Soweit so gut, so soll es ja auch sein. Ich habe allerdings oft bei der Beantwortung der Fragen zuhause absichtlich und bewusst übertrieben, und mich im Grunde auf die Kompensationsmaßnahmen für das ADHS bezogen (nicht immer, aber eben oft). Manche Eigenschaften stimmen sicherlich auch, aber ich bin mir sehr sicher, dass ich ohne Übertreibungen die Diagnose Autismus nicht erhalten hätte.
In den letzten Wochen und Monaten habe ich mich intensiv mit den Diagnosekriterien in Fachbüchern zum Thema Autismus auseinander gesetzt, genauso wie mit Fallbeispielen in diesen Büchern. Mir ist klar, dass manches veraltet ist und/oder stereotyp etc., aber die Grundstimmung des Autismus innerhalb meines Lebens, der berühmte rote Faden sozusagen, ist einfach bei mir (fast) nicht da. Alles, was ich so in meinem Leben an Problemen habe und hatte, lässt sich deutlich treffender mit der ADHS erklären. Ein paar Dinge bleiben übrig, z.B. die Tendenz alles wörtlich zu nehmen, aber diese Dinge spielen eine sehr untergeordnete Rolle innerhalb meiner Problematik im Alltag und im sozialen Leben.
Wenn ich mich in Fachbüchern zum Thema ADHS mit den Symptomen auseinander setze, finde ich extrem viel, was die Probleme in meinem Leben erklärt. Und für nichts davon gibts eine bessere Erklärung als eben ADHS.
Es ist krass für mich einzusehen, dass ich den Autismus „haben wollte“, um sozusagen für die ADHS zu kompensieren. Wie gesagt, mir ist absolut klar, dass Autismus definitiv keine Kompensation für ADHS darstellt, sondern das Leben NOCH komplexer macht für Betroffene von beidem (oder machen kann, wir sind alle individuell). Und glaubt mir, ich weiß, dass Autismus eine ernste Sache ist und ich habe ihn während des Prozesses nie verniedlicht oder verharmlost (bewusst, unbewusst dank Social Media vielleicht schon).
Das hier soll kein Mitleids-Thread werden, ich will auch kein Mitgefühl für meinen Fehler und meine bekloppte Denkweise. Ich stehe zu meinem Fehler, das ist okay für mich. In erster Linie möchte ich mit dem Thread anderen bewusst machen, dass solche Denkmuster existieren und sie evtl vor meinem Fehler bewahren.
Ein letzter Rest bleibt in mir dennoch übrig… trotz aller Gegenargumente fühlt sich die Autismus-Diagnose am Ende richtig an für mich. Das liegt vielleicht daran, dass ich ASS ernster nehme als ADHS (was Unsinn ist, das sind wieder meine Denkmuster). Es liegt ganz sicher auch daran, dass ich diesen Weg gehen musste, um mich selbst besser zu verstehen. Ohne die Diagnostik hätte ich meine Denkweise nie durchschaut.
Ich würde euch bitten, nicht zu harsch mit mir zu sein. Ich weiß selbst noch nicht, was ich mit meiner Erkenntnis nun anstelle… Vielleicht die Diagnose mal revidieren lassen. Aktuell nehme ich niemandem damit was weg, obwohl sie falsch ist, und ich renne auch nicht rum und sage, ich bin autistisch. Wenn ich Diagnosen preisgebe, dann allein das ADHS.
Vielleicht möchte jemand was dazu sagen, vielleicht dient dieser lange Text einfach nur als Warnung für andere. Danke euch fürs Lesen auf jeden Fall!