Ich hab das auch schon woanders geschrieben, aber ich wiederhol hier nochmal, wie das bei mir war, wird mal wieder etwas ausführlicher, ich warne schon mal vor.
TL;DR: Für mich wars super mich zu outen, aber das war/ist nur ein der Lösung und es kommt sehr drauf an, wie gut man seinen Arbeitgeber/Vorgesetzten kennt. Und WENN man darüber redet, ist es auf jedenfall hilfreich generell gute Erklärungen und anschauliche Beispiele für ADHS bereit zu haben, damit man nicht nur mit Stereotypen und Labels konfrontiert wird.
Ich arbeite in einem sehr kleinen Laden (unter 10 Mitarbeitern) und daher sehr eng mit meinem Chef zusammen.
Bereits auf meinem relativ langen Weg zur offiziellen Diagnose hab ich sofort nen „ADHS-Radar“ entwickelt, der viele in meinem Umfeld angefangen hat zu Nerven.
Klar, nicht jedes einzelne anekdotische Symptom ist gleich ne Diagnose.
Aber in der Summe erkennt man einfach recht schnell bestimmte Verhaltens Muster, inklusive der ganzen maladaptiven Strategien und externalisierungs Erklärungen, die dazugehören, einfach weil man die alle selber von sich kennt.
Ausserdem sind 8-10% (oder was auch immer die genaue Zahl gerade ist) sind statistisch gesehen viel mehr Menschen, als die meisten Menschen sich mathematisch vorstellen können…
Da isses gar nicht so zufällig, dass plötzlich so viele mehr Menschen das haben könnten.
Drittens und das ist der grösste Knackpunkt gewesen bei meiner Entscheidung mich zu outen:
Man sucht sich doch instinktiv die Menschen aus, die einem selbst am ähnlichsten sind. Und zwar nicht nur bei Interessen, sonder auch bei so lustigen Sachen wie genetischer Prädisposition…
Es gab genauso einen Grund, warum mein Chef ausgerechnet mich eingestellt hat und warum ich dachte, „Jo, dat passt“.
Und der ist meiner Einschätzung nach vor allem, dass wir offensichtlich beide ADHS haben.
Er übrigens noch sehr viel eindeutiger als ich.
Und auch wenn ein grosser Teil meiner ADHS-Reise in der Erkenntnis bestand, dass viele angebliche „externe“ Stressoren eben nur ein Erklärungsmodell aufgrund fehlender Informationen meinerseits waren und der eigentliche „Stressor“ schlichtweg das zugrundeliegende ADHS ist…kam eben auch die Erkenntnis, das ein anderer grosser Teil meines Stresses durch die Symptome von meinem Chef kam…Schliesslich verbringe ich mindestens ein drittel meiner Zeit mit Arbeit, wenn schlafen mit einrechnet.
Und es ist schon richtig, dass man viele Symptome auch umschreiben oder anders benennen könnte, ohne eine medizinische Diagnose zu nennen.
ABER.
Das ist ja genau das Problem dabei.
Viele von meinen Symptomen KONNTE ich nie ändern, weil ich sie mangels Wissen anders benannt habe:
Entweder in einer Form, die eben keine Anpassung oder Veränderung zuliess oder in einer Form, die die „Schuld“ auf andere schob.
VIelleicht gibts ja auch noch schlauere „Umschreibungen“, die diese Gefahr nicht beinhalten, aber die hab ich nicht gefunden.
Und es gibt eben Dinge, bei denen ich zwar versuchen kann, für mich selbst andere Strategien zu finden, damit ich mit den Problemen, die das ADHS von jemand anders mir verursacht besser umgehen kann, aber es gibt auch Dinge, bei denen das schlicht nicht geht, aufgrund von mangelnder Entscheidungsbefugnis.
Oder weil es mit soviel Extra-Energie-Aufwand verbunden ist meinerseits, dass ich immer weiter ins Minus rutsche…
Bei meinem Arbeitgeber sind das Sachen wie:
-Keine Vorausplanungsfähigkeit/Timeblindness.
Das führt zu konstantem „Overbooking“ und zuviel Arbeit, als ich regulär bewältigen kann.
Auf Rückmeldung kommt dann aber oft Unverständnis, was dann zu Rechtfertigungsstress meinerseits führt:
„Wieso soll das denn 5 Tage dauern, was ist das Problem?“
Vor allem, da ich ja auch um meine Schwächen weiss, die ICH mit Timeblindness/Motivation/Flüchtigkeitsfehlern habe UND weil ich ein unglaublich schlechtes Gedächtnis habe und erstmal stundenlang recherchieren muss nach Präzedenzfällen um dann Fakten liefern zu können und nicht nur ein vages „Gefühl“.
Und weil ich dann eben oft überkompensiert habe, .
klappt es dann trotz schlechter Planung und der Eindruck entsteht bei meinem Arbeitgeber, dass ich eben nur „unnötig Panik gemacht habe“.
Seit ich angefangen meine regulären Arbeitszeiten zu tracken, passiert das letztere nicht mehr ganz so oft aber das konnte ich auch erst dank Medikation.
-Ständiges Vergessen von wichtigen Terminen, Mails etc.
Was mich dann zum Assistenten degradiert, weil ich entweder Reminder einrichten muss (und zwar doppelt, weil ich mich selber ja auch ans reminden reminden muss) oder „mal eben kurz ne Information“ raussuchen muss und Fokus verliere, oder weil er ableugnet davon was zu wissen und ich recherchieren muss, damit ich sicher gehen kann, dass der Fehler nicht doch bei MIR lag…
-Micromanaging. Insbesondere wenn er selbst Stress hat, weil er keinen Überblick hat, beginnt er mich zu micro managen und will beispielsweise konstant updates, die er dann aber dann nach kurzer Zeit nicht mal mehr liest und die auch nicht zu irgendwelchen Konsequenten für ihn führen, aber für mich zu mehr rechtfertigungsstress führen.
-Ich darf kaum selbst Kundenkontakt haben, weil er ständig Sorgen hat, ich könnte was falsch machen.
Davon kann ich einen Teil nachvollziehen und sehe ein, dass das eine Schwäche von mir ist: Ich muss jede Mail 10 mal kontrollieren und aufs wesentliche kürzen, darauf achten keine voreiligen Versprechungen zu machen und keine persönlichen Informationen zu teilen, die da nichts zu suchen haben.
Allerdings ist mir das alles mittlerweile auch bewusst und ich habe daran gearbeitet und er schliesst da leider auch oft von sich selbst auf andere:
Er kann nicht mehr als drei Sätze pro Mail verarbeiten und geht davon aus, dass alle so sind.
Ausserdem ist der Kunde nur König und kein Mensch.
Während meine Erfahrung oft ist, dass es sehr wohl hilfreich ist, wenn man auch mal konkret beschreibt, was das Problem ist und woran es ggf. liegt und das eher zu Verständnis führt, als wenn der Kunde einem das dann im Verlauf von mehreren Mails aus der Nase ziehen muss…
Das wäre auch alles trotzdem nur ein Problem von „sich nicht respektiert fühlen/als kompetent genug gewertet zu werden“, würde er dann nicht selbst den Inhalt sachemäss FALSCH zusammenkürzen (was ich dann wieder geraderücken muss) ODER schlichtweg vergisst die Informationen überhaupt weiterzuleiten.
Was dann wiederum zu ernsthaften Problemem mit Deadlines führt, die es sonst nicht gegeben hätte.
-Er ist unglaublich ungeduldig, wenn ich nicht innerhalb von Minuten auf eine Anfrage reagiere, kommt gleich die nächste Anfrage mit 3 Ausrufezeichen. Auf der anderenseite reagiert er manchmal TAGElang nicht auf Anfragen von mir, egal wie dringlich ich diese formuliere.
-Er hat immer wieder spannende Ideen und ist dann enttäuscht über meinen Mangel an Begeisterung.
Der daher rührt, dass ich sofort den Mehraufwand erkenne, den er aufgrund von Timeblindness nicht sieht, und der bei mir nur zusätzlich als Belastung dazu kommt und keinen wirklichen Vorteil bringt, oder dass ich weiss, dass alle diese Ideen immer wieder sehr schnell in der Versenkung verschwinden, weil immer wieder etwas wichtigeres dazwischen kommt.
Das meiste hab ich jahrelang einfach nur auf den Umstand zurückgeführt, dass wir eben in einer stressigen Branche arbeiten und dass er eben als Chef unglaublich viel mehr Stress hat als ich.
Und wie gesagt, vieles davon kannte ich ja zur genüge von mir und fand immer, dass man jemanden schlecht kritisieren kann, wenn man dieselben Probleme hat.
Und ebenfalls wie gesagt: Für viele dieser Probleme sah ich vor meiner Diagnose eben auch keine Lösung, vor allem WEIL ich ja schon ALLES versucht hatte an neurotypischen Tips zur Problemlösung.
All das hat letzten Endes bei mir dazu geführt, dass ich das in einem Gespräch so gut ich konnte so formuliert habe, dass ich rüberbringen konnte, welche meiner Symptome zu Schwächen und Problemen führen, die ich durch neue Strategien versuche zu lösen und welche meiner Symptome und Schwächen durch eine Verhaltensänderung seinerseits beseitig werden könnten.
Mit der Hoffnung, dass er sich in diesen Beschreibungen vielleicht selbst wieder erkennen könnte und ggf. die richtigen Schlüsse und Konsequenten daraus ziehen würde.
Was zum Teil auch funktionierte:
Er fühlte sich bei der Beschreibung MEINER Symptome so ertappt, dass er erst ne ganze Weile dachte, ich würde über IHN sprechen.
Zu Konsequenzen hat es nur bedingt geführt und ich bin momentan auch wieder auf andere Lebensbereiche fokussiert, aber es hat auf jedenfall zu einer Entstressung meinerseits geführt.
Ich hatte aber eben auch vorher schon einige gute Strategien geführt und jetzt angefangen schlechte Strategien anzupassen und für das, wo er zumindest eine Mitverantwortung trägt, versuche ich eben mehr und mehr die Verantwortung abzugeben.