Outing gegenüber Vorgesetzten?! Vor- und Nachteile? Ja oder nein?

Hallo,

aufgrund diverser Situationen … neige ich dazu meinen Vorgesetzten in vertraulichen Gesprächen von meinem ADHS mitzuteilen, da ich dann, zumindest ist das mein aktuelles Gefühl, einigen Druck von mir nehmen könnte, ich aber andererseits keinen anderen Druck aufbauen lassen möchte, aber vielleicht erscheinen dann meine Arbeitsergebnisse in einem noch besserem Licht …?!

Was meint ihr bitte dazu?

Habt Ihr Euch geoutet?

Wie habt Ihr das gemacht?

Wo seht ihr grundsätzliche Vor- und Nachteile?

Reichen die Vorgesetzte oder ist es zumindest nicht nachteilig, wenn andere (Schwerbehindertenvertretung, Personalabteilung, Personalrat …) auch davon wissen? Falls ja, in welchen Situationen sozusagen?

Dankeschön.

LG

PS: Ich möchte halt nicht den Stempel „Psycho“ aufgedrückt bekommen, wobei ich das Gefühl allerdings bei meinen Vorgesetzten nicht habe!

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Hier mal ein Zitat von Heiner Lachenmeier dazu:

„ Erfolge in der Arbeitswelt können durch ADHS-typische Fehler und Gefahren vereitelt werden. Hierzu hat Lachenmeier eine Reihe von Beispielen und Tipps parat. Er warnt zum Beispiel davor, sich in einer neuen Arbeitsstelle gleich als ADHSler zu „outen“. Übermäßige Offenheit und Ehrlichkeit könnten im Effekt selbstsabotierend sein. Hilfreich sei es, mit Kollegen über Stärken, Schwächen und Defizite zu sprechen – die Diagnose ADHS müsse dabei nicht genannt werden. Auch im Smalltalk mit Bekannten oder Kollegen könne zu viel Offenheit und Ehrlichkeit gefährlich werden – ADHSler müssten lernen, dass im Smalltalk Themen mit weitergehender Bedeutung für einen der Anwesenden ausgeschlossen sind.“

Quelle: https://www.socialnet.de/rezensionen/28997.php

So sehe ich das auch! Ich würde mich nicht outen - und das obwohl ich selbst im klinischen Bereich arbeite.

Besser man beschreibt die eigenen Stärken und Schwächen oder umschreibt die Dinge.

Die meisten Menschen kennen sich mit ADHS nicht aus und dann ist man schnell in einer Schublade, die einem mehr Nachteile bringt.

Den „Psycho“ Stempel hast du dann schnell.

Ich wüsste nicht, welche Vorteile das bringen soll. Warum nicht eher die eigene Art der Wahrnehmung beschreiben?

Ich habe mich geoutet, dass ich ein Problem mit praktischen Prüfungen habe - und Situationen die das bei mir triggern. Das ich ein motorisch manchmal ungeschickt bin. Und das ich impulsiv bin.

Manchmal sage ich auch, das ich einfach rechtshirndominant bin.

Ich habe viele Kollegen, die haben sich auch ADHS. Ob diagnostiziert weiß man nicht. Aber man merkt es ja einfach.

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Den Ansatz mit den Stärken und Schwächen finde ich ebenfalls klüger.
Schwerbehindertenvertretung macht ggf. Noch Sinn, damit sie dich entsprechend stützen und schützen können, sofern denn etwas vorfällt!

Mir persönlich fällt in dem Zusammenhang Offenheit leider immer wieder auf, dass ich soziale Grenzen kaum kenne bzw. Wahre. Vielleicht mangelt es mir einfach an sozialer Erfahrung, aber ich bin wie ein offenes Buch und rede leider auch viel zu häufig über Menschen, die mir oft sehr vieles anvertrauen. Da weiß ich oft nicht wo die Grenzen sind und verstehe dann manchmal nicht, wieso man mir das sagt, aber andere davon nichts wissen sollen.
Oft frage ich inzwischen strategisch, ob das unter uns bleiben soll. Dann bleibt es das auch! Anders verstehe ich die Grenze nicht.

Menschen sind für mich seltsam und Schwierig zu verstehen. Wie habt ihr solche Grenzen gelernt und wie wahrt ihr sie? Ich merke immer erst, dass es wieder einer drüber war, wenn’s schon passiert ist.
Manchmal distanzieren sich Menschen (auch Kollegen), ohne dass ich verstehe wieso.

Ich kann dein Bedürfnis den Vorgesetzten das sagen zu wollen also gut verstehen. Aus eigener Erfahrung weiß ich aber, dass das nicht immer klug ist.

Liebe Grüße,
Erbse

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Ich habe Anfang letzten Jahres, als meine Diagnose fix war, meinen Vorgesetzten und die Personalchefin ins Boot geholt.

Einfach weil auf einmal viele Arzttermine anstanden.

War das beste was ich machen konnte.

Habe beiden erklärt was los ist, stärken und schwächen aufgezeigt und was das für mich persönlich bedeutet.

Ebenso habe ich Dinge aufgelistet die nicht mehr ohne weiteres möglich sind (bspw spontan mit Medikamenten ins Ausland) oder die mir schwer fallen.

Dann habe ich noch einiges erzählt wie ich am besten arbeite.
Heißt in meinem Fall, Zuhause in Ruhe, ohne störendes Großraumbüro…

Das hatte zur Folge dass mein Chef mir Unterstützung zugesichert hat.

Aktuell kämpfe ich darum, dass ich das mit dem Homeoffice vertraglich verankert bekomme.
Bisher hieß es immer nur „bis auf weiteres“.

Jedoch war ich zu dem Zeitpunkt bereits einige Zeit im Unternehmen und hatte aufgrund von Corona auch einige Zeit von Zuhause gearbeitet.
Heißt, ich konnte auf die Erfolge von dort verweisen.

Würde es, je nach Verhältnis zum Vorgesetzten, jederzeit wieder so machen.

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Hallo @ZappelPhilipp,
ich habe es auch so gemacht und bereue es nicht. Und es ist auch wahr, es kommt auf das Vertrauensverhältnis an. Ich bin meiner Kollegin/Chefin sehr dankbar für ihre Offenheit mir gegenüber und auch für ihre Bereitschaft, sich auf die Zeit der Einmedikamentierung einzulassen. Homeoffice und freie Arbeitszeiten sind in meinem Bereich leider nicht möglich.

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Allerdings muss ich zugeben dass ich sonst im Büro so ziemlich n Deckel drauf halte.

Muss ja nicht jeder wissen :man_shrugging:

Bei nem Arbeitgeber mit mehr als 10 Vollzeitmitarbeitern (das dem Kündigungsschutzgesetz unterfällt) ist man mit einem Outing wesentlich sicherer als in 'nem kleinen Laden.
Und umgekehrt kann ein keiner Laden viel mehr Verständnis haben - aber nur, wenn’s individuell passt mit dat Cheffe. Sonst kann’s ganz schön nach hinten losgehen.

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Schwierig.

Das Ganze will auf jeden Fall sehr gut überlegt sein.

Persönlich würde ich mich nicht als ADHS-Betroffener zu erkennen geben, sondern mitteilen dass ich bestimmte Besonderheiten (je nach dem Müdigkeit, Gereiztheit, Verbissenheit etc. etc.) habe, die wiederum durch vorhandene medizinische Besonderheiten bedingt sind, vielleicht noch was von Stoffwechsel, Tagesrhythmus, Schilddrüse, Schlaf, Blutdruck, Nebenwirkungen von Medikamenten die einem der Arzt verordnet, Allergie, Kriegsverletzung, Bla bla bla schwurbeln. Also irgendwas zu reden ohne was zu sagen ohne eine Einordnung zu ermöglichen.

F.

Ich hab das auch schon woanders geschrieben, aber ich wiederhol hier nochmal, wie das bei mir war, wird mal wieder etwas ausführlicher, ich warne schon mal vor.

TL;DR: Für mich wars super mich zu outen, aber das war/ist nur ein der Lösung und es kommt sehr drauf an, wie gut man seinen Arbeitgeber/Vorgesetzten kennt. Und WENN man darüber redet, ist es auf jedenfall hilfreich generell gute Erklärungen und anschauliche Beispiele für ADHS bereit zu haben, damit man nicht nur mit Stereotypen und Labels konfrontiert wird.

Ich arbeite in einem sehr kleinen Laden (unter 10 Mitarbeitern) und daher sehr eng mit meinem Chef zusammen.

Bereits auf meinem relativ langen Weg zur offiziellen Diagnose hab ich sofort nen „ADHS-Radar“ entwickelt, der viele in meinem Umfeld angefangen hat zu Nerven.
Klar, nicht jedes einzelne anekdotische Symptom ist gleich ne Diagnose.
Aber in der Summe erkennt man einfach recht schnell bestimmte Verhaltens Muster, inklusive der ganzen maladaptiven Strategien und externalisierungs Erklärungen, die dazugehören, einfach weil man die alle selber von sich kennt.

Ausserdem sind 8-10% (oder was auch immer die genaue Zahl gerade ist) sind statistisch gesehen viel mehr Menschen, als die meisten Menschen sich mathematisch vorstellen können…
Da isses gar nicht so zufällig, dass plötzlich so viele mehr Menschen das haben könnten.

Drittens und das ist der grösste Knackpunkt gewesen bei meiner Entscheidung mich zu outen:
Man sucht sich doch instinktiv die Menschen aus, die einem selbst am ähnlichsten sind. Und zwar nicht nur bei Interessen, sonder auch bei so lustigen Sachen wie genetischer Prädisposition…

Es gab genauso einen Grund, warum mein Chef ausgerechnet mich eingestellt hat und warum ich dachte, „Jo, dat passt“.
Und der ist meiner Einschätzung nach vor allem, dass wir offensichtlich beide ADHS haben.
Er übrigens noch sehr viel eindeutiger als ich.

Und auch wenn ein grosser Teil meiner ADHS-Reise in der Erkenntnis bestand, dass viele angebliche „externe“ Stressoren eben nur ein Erklärungsmodell aufgrund fehlender Informationen meinerseits waren und der eigentliche „Stressor“ schlichtweg das zugrundeliegende ADHS ist…kam eben auch die Erkenntnis, das ein anderer grosser Teil meines Stresses durch die Symptome von meinem Chef kam…Schliesslich verbringe ich mindestens ein drittel meiner Zeit mit Arbeit, wenn schlafen mit einrechnet.
Und es ist schon richtig, dass man viele Symptome auch umschreiben oder anders benennen könnte, ohne eine medizinische Diagnose zu nennen.
ABER.
Das ist ja genau das Problem dabei.
Viele von meinen Symptomen KONNTE ich nie ändern, weil ich sie mangels Wissen anders benannt habe:
Entweder in einer Form, die eben keine Anpassung oder Veränderung zuliess oder in einer Form, die die „Schuld“ auf andere schob.
VIelleicht gibts ja auch noch schlauere „Umschreibungen“, die diese Gefahr nicht beinhalten, aber die hab ich nicht gefunden.
Und es gibt eben Dinge, bei denen ich zwar versuchen kann, für mich selbst andere Strategien zu finden, damit ich mit den Problemen, die das ADHS von jemand anders mir verursacht besser umgehen kann, aber es gibt auch Dinge, bei denen das schlicht nicht geht, aufgrund von mangelnder Entscheidungsbefugnis.
Oder weil es mit soviel Extra-Energie-Aufwand verbunden ist meinerseits, dass ich immer weiter ins Minus rutsche…

Bei meinem Arbeitgeber sind das Sachen wie:
-Keine Vorausplanungsfähigkeit/Timeblindness.
Das führt zu konstantem „Overbooking“ und zuviel Arbeit, als ich regulär bewältigen kann.
Auf Rückmeldung kommt dann aber oft Unverständnis, was dann zu Rechtfertigungsstress meinerseits führt:
„Wieso soll das denn 5 Tage dauern, was ist das Problem?“
Vor allem, da ich ja auch um meine Schwächen weiss, die ICH mit Timeblindness/Motivation/Flüchtigkeitsfehlern habe UND weil ich ein unglaublich schlechtes Gedächtnis habe und erstmal stundenlang recherchieren muss nach Präzedenzfällen um dann Fakten liefern zu können und nicht nur ein vages „Gefühl“.
Und weil ich dann eben oft überkompensiert habe, .
klappt es dann trotz schlechter Planung und der Eindruck entsteht bei meinem Arbeitgeber, dass ich eben nur „unnötig Panik gemacht habe“.
Seit ich angefangen meine regulären Arbeitszeiten zu tracken, passiert das letztere nicht mehr ganz so oft aber das konnte ich auch erst dank Medikation.
-Ständiges Vergessen von wichtigen Terminen, Mails etc.
Was mich dann zum Assistenten degradiert, weil ich entweder Reminder einrichten muss (und zwar doppelt, weil ich mich selber ja auch ans reminden reminden muss) oder „mal eben kurz ne Information“ raussuchen muss und Fokus verliere, oder weil er ableugnet davon was zu wissen und ich recherchieren muss, damit ich sicher gehen kann, dass der Fehler nicht doch bei MIR lag…
-Micromanaging. Insbesondere wenn er selbst Stress hat, weil er keinen Überblick hat, beginnt er mich zu micro managen und will beispielsweise konstant updates, die er dann aber dann nach kurzer Zeit nicht mal mehr liest und die auch nicht zu irgendwelchen Konsequenten für ihn führen, aber für mich zu mehr rechtfertigungsstress führen.
-Ich darf kaum selbst Kundenkontakt haben, weil er ständig Sorgen hat, ich könnte was falsch machen.
Davon kann ich einen Teil nachvollziehen und sehe ein, dass das eine Schwäche von mir ist: Ich muss jede Mail 10 mal kontrollieren und aufs wesentliche kürzen, darauf achten keine voreiligen Versprechungen zu machen und keine persönlichen Informationen zu teilen, die da nichts zu suchen haben.
Allerdings ist mir das alles mittlerweile auch bewusst und ich habe daran gearbeitet und er schliesst da leider auch oft von sich selbst auf andere:
Er kann nicht mehr als drei Sätze pro Mail verarbeiten und geht davon aus, dass alle so sind.
Ausserdem ist der Kunde nur König und kein Mensch.
Während meine Erfahrung oft ist, dass es sehr wohl hilfreich ist, wenn man auch mal konkret beschreibt, was das Problem ist und woran es ggf. liegt und das eher zu Verständnis führt, als wenn der Kunde einem das dann im Verlauf von mehreren Mails aus der Nase ziehen muss…
Das wäre auch alles trotzdem nur ein Problem von „sich nicht respektiert fühlen/als kompetent genug gewertet zu werden“, würde er dann nicht selbst den Inhalt sachemäss FALSCH zusammenkürzen (was ich dann wieder geraderücken muss) ODER schlichtweg vergisst die Informationen überhaupt weiterzuleiten.
Was dann wiederum zu ernsthaften Problemem mit Deadlines führt, die es sonst nicht gegeben hätte.
-Er ist unglaublich ungeduldig, wenn ich nicht innerhalb von Minuten auf eine Anfrage reagiere, kommt gleich die nächste Anfrage mit 3 Ausrufezeichen. Auf der anderenseite reagiert er manchmal TAGElang nicht auf Anfragen von mir, egal wie dringlich ich diese formuliere.
-Er hat immer wieder spannende Ideen und ist dann enttäuscht über meinen Mangel an Begeisterung.
Der daher rührt, dass ich sofort den Mehraufwand erkenne, den er aufgrund von Timeblindness nicht sieht, und der bei mir nur zusätzlich als Belastung dazu kommt und keinen wirklichen Vorteil bringt, oder dass ich weiss, dass alle diese Ideen immer wieder sehr schnell in der Versenkung verschwinden, weil immer wieder etwas wichtigeres dazwischen kommt.

Das meiste hab ich jahrelang einfach nur auf den Umstand zurückgeführt, dass wir eben in einer stressigen Branche arbeiten und dass er eben als Chef unglaublich viel mehr Stress hat als ich.
Und wie gesagt, vieles davon kannte ich ja zur genüge von mir und fand immer, dass man jemanden schlecht kritisieren kann, wenn man dieselben Probleme hat.
Und ebenfalls wie gesagt: Für viele dieser Probleme sah ich vor meiner Diagnose eben auch keine Lösung, vor allem WEIL ich ja schon ALLES versucht hatte an neurotypischen Tips zur Problemlösung.

All das hat letzten Endes bei mir dazu geführt, dass ich das in einem Gespräch so gut ich konnte so formuliert habe, dass ich rüberbringen konnte, welche meiner Symptome zu Schwächen und Problemen führen, die ich durch neue Strategien versuche zu lösen und welche meiner Symptome und Schwächen durch eine Verhaltensänderung seinerseits beseitig werden könnten.
Mit der Hoffnung, dass er sich in diesen Beschreibungen vielleicht selbst wieder erkennen könnte und ggf. die richtigen Schlüsse und Konsequenten daraus ziehen würde.

Was zum Teil auch funktionierte:
Er fühlte sich bei der Beschreibung MEINER Symptome so ertappt, dass er erst ne ganze Weile dachte, ich würde über IHN sprechen.
Zu Konsequenzen hat es nur bedingt geführt und ich bin momentan auch wieder auf andere Lebensbereiche fokussiert, aber es hat auf jedenfall zu einer Entstressung meinerseits geführt.
Ich hatte aber eben auch vorher schon einige gute Strategien geführt und jetzt angefangen schlechte Strategien anzupassen und für das, wo er zumindest eine Mitverantwortung trägt, versuche ich eben mehr und mehr die Verantwortung abzugeben.

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Ich habe mich geoutet, weil ich nach langer Überlegung dazu kam, dass es eh ein offenes Geheimnis ist.
Und trotzdem sind alle überfordert.:wink:

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Ich habe mir in meiner Vergangenheit immer Jobs gesucht wo ich entweder alleine war oder in einem stressfreien Umfeld, meist MiniJobs oder Teilzeit, weil ich es eh als aussichtslos betrachtete 8 Stunden am Stück zu arbeiten. Als es finanziell nicht mehr ging habe ich nochmal allen Mut zusammengenommen und mich bei einer Stelle im ÖD vorgestellt. Im Vorstellungsgespräch kam das Thema auf die Lücken in meinem Lebenslauf, weiß nicht mehr genau was ich gesagt habe aber wahr wohl mehr oder weniger verbales Schulterzucken. Nach dem Vorstellungsgespräch bin ich raus und war fest davon überzeugt dass die mich niemals einstellen.

Irgendwann kam der Anruf ob ich noch Interesse habe und trotz all meiner Ängste und Zweifel habe ich ja gesagt. Die beste Entscheidung in meinem Leben. Ich hatte darum gebeten möglichst ein Einzelzimmer zu bekommen, dies war aber nicht so einfach möglich und ich musste immer zwischen 2 Plätzen wechseln. Da ich sehr introvertiert bin und wegen meines ADHS-Gehirns wollte ich vermeiden mit mehreren Leuten in einem Büro zu sitzen. Irgendwann kam die erste Kollegin auf mich zu und bot mir das „du“ an, weitere folgten, irgendwann fühlte ich mich dem Team zugehörig und akzeptiert. Auf die Frage ob ich nicht permanent in das Büro mit den Kolleginnen umziehen möchte sagte ich „ja“. Ich habe gespürt dass mir die Kolleginnen gut tun und ich mich in ihrem Umfeld wohl fühle, allerdings trat natürlich das ein was ich befürchtet hatte, meine Arbeitsleistungen wurden spürbar schlechter und ich musste echt all meine Konzentration zusammen nehmen um wenigstens ein Mindestmaß an Effektivität aufrechtzuerhalten. Außerdem war problematisch je mehr ich mich den Kolleginnen öffnete desto mehr kam meine Impulsivität zum Vorschein. Dieses Plappern ohne vorher Nachzudenken oder etwas zu sagen und was anderes zu meinen und dazu meine übertriebene Anhänglichkeit die auf andere wohl sehr verstörend wirken muss. Ich stand dann vor der Wahl entweder versuchen wie ein „normaler“ Mensch zu wirken, was schon meist in dem Moment hinfällig ist wo mir jemand eine direkte Frage stellt (weil ich dann entweder 1 Minute überlegen muss was ich antworte mit der Gefahr trotzdem was Dummes zu sagen oder direkt was Dummes sage) oder mich jemanden anzuvertrauen. Habe es erst bei Kolleginnen versucht, mit der Reaktion von ungläubigen Staunen, habe gar nicht erst versucht das Thema weiter zu vertiefen, finde es schwierig in Worte zu fassen wie ich mich mit ADHS fühle, scheitert ja meistens schon daran meine Gedanken zu sortieren oder nichts zu vergessen.

Habe dann den Entschluss gefasst eine mail an meine Teamleiterin zu schreiben. Wurde auf jeden Fall eine lange mail und ich habe dafür 3-4 Stunden gebraucht weil ich 5-10 mal drüber gelesen habe und immer etwas gefunden habe was mich stört. 5 Sekunden nachdem ich auf „senden“ gedrückt habe war schon der erste Gedanke da „super mit der mail hast du dich gerade wieder selbst sabotiert“. Hatte am nächsten Arbeitstag direkt Angst dass sie mich in ihr Büro zitiert. Passierte aber nicht, irgendwann bekam ich eine mail von ihr in der sie sich für mein Vertrauen, meine Offenheit und meinen Mut bedankte. Sofort Niagarafälle bei mir und große Erleichterung. Im Nachhinein hätte ich wohl warten sollen bis ich aus der Probezeit raus bin, aber ich hatte einfach Angst Kolleginnen unbewusst und ungewollt zu verletzen oder in einer stressigen Situation zu eskalieren. Ich berichte dann ob ich meine Probezeit überstanden habe oder nicht. Bei meiner aktuellen Arbeit habe ich das Glück dass ich nicht viel auf Kommunikation angewiesen bin und ich habe gefragt ob sich jemand daran stört wenn ich mir gelegentlich Kopfhörer ins Ohr stecke um etwas entspannende Musik zu hören. War für die Kolleginnen ok, damit viel es mir deutlich einfacher mich zu konzentrieren. Ich weiß viele haben diesen Luxus nicht und ich beneide alle Menschen mit ADHS die es trotzdem schaffen ihren Alltag zu bewältigen. Sorry für die Wall of Text, aber das musste mal raus.

Tl;dr

Ob man sich besser outet oder nicht kommt auf die Situation an. Klar kann man die Symptome umschreiben und das mache ich im Smalltalk mit Kolleginnen auch ähnlich, aber ich fand es für mich wichtig, dass eine Vertrauensperson weiß wieso ich bin wie ich bin und keine böse Absicht oder Faulheit dahinter steckt.

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Vielleicht passt es in diesen Thread zur Unterstützung von Outing-Willigen:

Neuer Guardian-Artikel zu besonderen Fähigkeiten:
Wired differently: how neurodiversity adds new skillsets to the workplace | Global development | The Guardian

Studie:
65% of neurodivergent employees fear discrimination despite UK businesses promoting neurodiverse workplaces — Birkbeck, University of London (bbk.ac.uk)

Vorteile von Neurodivergenz in Tech:
The benefits of neurodiversity in tech companies | Totaljobs

(Kamen heute alle in einem Newsletter gebündelt.)

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Danke @Elementary für den Input :slight_smile:

Und nochmal aus der Statistik Perspektive:

Fiel mir letztens mal wieder beim S-Bahn-Fahren auf:
Bei einer durschnittlichen ADHS prävalenz von 5% bei Erwachsenen hat jeder 20te Mensch der dir begegnet, statistisch gesprochen, ADHS.
Also pro S-Bahn Wagon locker eine Person…

Kommt natürlich auf die Grösse der Firma an, aber insbesondere auch hinsichtlich der Tatsache, dass Menschen mit ADHS sich zueinander hingezogen fühlen ist es ziemlich wahrscheinlich, dass man nicht die einzige Person mit ADHS im Job ist…

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ja ich habe eine Kollegin im Team die ein paar deutliche Anzeichen hat, aber ich glaube sie ist entweder sehr gut im Maskieren und bekommt irgendwann burnout oder sie kommt damit gut klar weil sie mit beiden Beinen im Leben steht und ein gesundes Umfeld hat, ihre Symptome sind auch bei weitem nicht so ausgeprägt wie bei mir.

Hatte heute mein 1. vierteljähriges Bewertungsgespräch mit meiner Teamleiterin (der ich vorher die mail mit dem outing geschrieben habe). Bewertung war durchschnittlich aber für jemand mit ADHS ist das wohl gar nicht so schlecht. Sie hat viele tröstende und ermutigende Worte für mich gefunden und ich habe 1,5 Stunden mehr oder weniger erfolgreich versucht meine Tränen im Kopf zu behalten. Für mich kann ich sagen, dass es die richtige Entscheidung war. Hätte mich aber wohl nie einem Mann als Vorgesetzten so öffnen können, es sei denn vielleicht dass er auch adhs hat. Habe mich auch einer weiteren Kollegin anvertraut von der ich das Gefühl hatte dass sie damit gut umgehen kann, sie war immer offen und ehrlich zu mir und hat direkt gesagt wenn ihr was an mir nicht passt. Solche Menschen sind immer ein guter Kompass. Menschen die mein seltsames Verhalten abwiegeln werden vermutlich früher oder später Kontakt zu mir abbrechen weil sie irgendwann mit mir überfordert oder genervt von mir sind, damit habe ich mich mehr oder weniger abgefunden, obwohl ich eigentlich alle Kolleginnen mag. Vielleicht starte ich nochmal irgendwann einen Versuch um anderen zu erklären wie ich mich fühle, aber für den Moment reicht es mir, wenn 2 oder 3 Leute Bescheid wissen dass sie unter Umständen deeskalieren müssen wenn ich gestresst bin. Ich hoffe dass ich bald an Medikamente komme um zu testen ob es damit besser ist.

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Ja, keine Ahnung, ob ich mich das in einer grösseren Firma trauen würde.
Wie gesagt, bei uns hams vermutlich alle…
Is halt Vor und Nachteil.
Vorteil is eben vor allem, dass ich mir nicht ständig Sorgen mache als weird rüberzukommen oder mich ständig rechtfertigen muss…weil die anderen genau so sind.
Nachteil ist vor allem, dass es eben absolut chaotisch und stressig ist, weil keiner „auf uns aufpasst“…

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Bei mir wissen die direkten Kollegen und die Personalleitung Bescheid.

Ich bin jetzt auch schon über 10 Jahre dort und mich kennen alle.

Als ich Ende letztes Jahr einen Zusammenbruch hatte und 6 Wochen krank war, habe ich eine Therapie angefangen. Leider konnte ich nur einen festen Termin für morgens bekommen. Also habe ich an dem Tag dann Homeoffice gemacht um zwischendurch zum Termin zu gehen. Daher wissen eh alle, dass ich psychisch nicht okay bin.

Die Diagnose kam, die Medikamente kamen. Zusätzlich zum ADHS wurde bei mir auch eine ASS diagnostiziert. Deswegen habe ich einige Kollegen eingeweiht. Einfach auch damit die eine Erklärung haben für mein komisches Verhalten. Seit es raus ist, erfahre ich viel mehr Unterstützung als vorher und meine Grenzen werden besser respektiert.

Da ich auf meiner Position fast unersetzbar bin, mache ich mir keine Sorgen dass es sich negativ auswirkt. Es sind alle mehr als zufrieden mit meiner Leistung.

Wir sind aber auch ein sehr familiär geprägtes unternehmen (trotzdem > 100 Leute) wo ich mich wohl fühle. Ob ich es auch gesagt hätte, wenn ich mich nicht so wohl fühlen würde in der Firma… gute Frage…

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