Unidentifizierte Fremdverbraucher
Rike wartete auf dem Parkplatz von „Lack und Karosserie Kopp“ im Nachbarort seit einer gefühlten Ewigkeit brav, damit sich dort jemand „gleich Ihren Schaden ansehen kommt“, wie man am Empfang der Werkstatt versprochen hatte.
Wenn sie weniger Rike gewesen wäre, hätte sie die Zeit vielleicht zum Durchatmen nutzen können oder zum Sortieren der mobilen Mental Load-Liste. Man hatte ihr sogar einen Kaffee angeboten, wenn auch nicht koffeinfrei. Aber weil sie war, wie sie war, meldete sich nur wieder das Vermeidungsverhalten. Es war nie Sendepause.
Der Unfall gestern hatte sie mehr verunsichert, als sie den Kindern gegenüber hatte zeigen wollen. Ohne in den Rückspiegel zu sehen, war sie losgefahren, und die krachenden Folgen hatte sie mit allen Sinnen abgespeichert. Sie hörte das Geräusch immer noch.
Gleich, wenn der „Schaden besehen“, der Reparaturaufwand geschätzt und sie mit einem Termin versorgt war, müsste sie hier ja auch wieder vom Hof fahren. Seit ein paar Minuten versuchte sie unauffällig Winkel und Wege zu finden, mit denen sie dabei den Rückwärtsgang vermeiden konnte. Wenn sie da vorn in die Lücke fuhr, wäre dann der Radius vielleicht groß genug, um vorwärts wieder raus… Und wie lange würde das dauern? Und wer würde dabei prüfend „besehen“, ob bei ihr mehr als nur die Autotür einen schweren Schaden hatte?
Während sie sich gerade selbst pathologische Schwächen in Propriozeption und räumlichem Denken diagnostizierte, rief Paul an. Mist, auch ihren Bruder hatte sie vergessen. Sie fügte „fehlende Objektpermanenz und Bindungsverhalten?!“ auf die gedankliche ADHS-Recherche-Liste für ihren Roman.
Als Paul es gestern versucht hatte, hing sie gerade in der Warteschleife der Versicherung. Die „Beenden/Halten/Annehmen“-Optionen auf dem Display hatten sie überfordert. Sie hatte Paul weggedrückt, denn mit der anderen Hand riss sie gerade zur Selbstdisziplinierung all die „Mental Health Zauberberg“-Pläne von der Wand im Gästezimmer . Noch hatte sie nichts davon weggeworfen, aber eingerollt und unter ihr Bett geschoben. Zu den anderen Monstern und Geistern - und zu ihrer Reisetasche mit der Post vom Finanzamt.
„Hat Niklas Dir gesagt, dass Du mich anrufen sollst? Oder Leni?“ fragte sie jetzt unruhig statt einer Begrüßung. Bestimmt hatten sich die Kinder bei Onkel Paul über sie ausgeheult. Niklas war wegen des Känguru/KI-Streits gestern eingeschnappt, und Leni hatte vermutlich wieder parentifizierend Angst um sie wegen des Unfalls.
„Ihr seid ja witzig. Niklas hat gestern dasselbe gefragt. Dabei rufe ich Euch doch nur zurück. Hatte ich auch bei Dir schon gestern Abend versucht.“ antwortete Paul nur.
„Entschuldige. Gestern hing ich fast eine Stunde in der Warteschleife der Vollkasko-Versicherung, damit ich das hier schnell hinter mich bringe. Wenn ich die Lack-Werkstatt nehme, die sie mir da vorgeben, stellen sie weniger Fragen.“
„Keine freie Auto-Arztwahl im Tarif, verstehe. Soll ich dann auch besser keine Fragen stellen? Sei ehrlich: Hat nur das Auto eine neue Delle oder Dein Selbstwertgefühl auch?“
Rike atmete tief durch und versuchte, nicht hier auf dem Parkplatz loszuheulen. Gestern hatte sie sich zusammengerissen, damit die Kinder sich nicht schon wieder Sorgen um sie machten. Familienpizza gebacken, tapfer gelächelt und zur allgemeinen Erleichterung verkündet, dass sie ihr Hyperfokus-Roman-Großprojekt nun doch erstmal ruhen ließ. Sie würde eine neue Frederika-Rattson-Geschichte schreiben, vielleicht sogar mit Zeichnungen von Max. Der erste Band hatte sich bisher sehr gut verkauft, und neulich im Supermarkt war ihr schon ein neuer Fall für die Detektivin zugeflogen: „Auf der Spur der mysteriösen Käserinde“ sollte der Arbeitstitel sein.
Aber jetzt bei Paul musste sie die nicht Erwachsene im Raum sein. Das Auto machte seit der langen Standzeit während Rikes Reha ständig Probleme. Das war so typisch, fand Rike: Als Laufen wieder ging, funktionierte Fahren nicht mehr. Schon damals musste der ADAC kommen und das Auto samt Rike abschleppen. Seither war das dreimal nötig gewesen. In der Werkstatt fanden sie den Fehler nicht, präsentierten nur Kostenvoranschläge aus der Hölle und noch dazu ewig lange Wartezeiten. Rikes Gefühl des Kontrollverlusts bekam ständig neue Nahrung.
Inzwischen überlebte die Batterie nicht mal mehr die eine Woche Standzeit, in der sie keine Fahrgemeinschaft zum Kindergarten hatte. Auf dem großen Küchenplaner hatte Rike längst einen neuen Tages-Zähler installiert: „Standzeit des Autos:“. (Niklas hatte das natürlich eines Nachts mit rotem Flipchart-Marker korrigiert zu: Standzeit der Autorin
.)
Gestern hatte die Batterie aber wider Erwarten nur etwas Starthilfe gebraucht. Leider war Rike dadurch so überrumpelt, dass sie den ADAC-Helfer dankbar vollgeplappert hatte, bis sie in seinen Augen eine Oversharing-Warnleuchte aufblinken sah. Oder war das ihre Rejection Sensitivity? Durch diese inneren Fragen noch mehr verunsichert, hatte sie den Motor gleich wieder abgewürgt und nochmal die fachmännliche Hilfe benötigt. Der gelbe Engel hatte dann darauf bestanden, dass sie noch in seiner Anwesenheit losfuhr. Zum Aufladen der Batterie sollte sie „jetzt mindestens 30 Minuten durch Selijenburch, Liebchen. Einfach mal losfahren und immer in Bewegung bleiben, nich?“.
Dieser Taskwechsel stand so nicht auf Rikes Plan. Sie war ohnehin schon im Rebound. Von all dem war der Arbeitsspeicher so überlaufen, dass sie beim Ausparken nicht auf die noch eingeklappten Rückspiegel achtete und mit der linken Hinterseite gegen die Linde krachte. Ausgerechnet die schöne alte Silberlinde vor dem Haus… Und das verletzte Auto tat ihr auch so Leid. Sie war eine Gefahr war für alle, die sie liebte.
Am Telefon hatte sie sich gerade um eine mäßig verheulte Ultrakurzfassung bemüht und schloss mal wieder mit „Was stimmt denn bloß nicht mit mir, Paul?“
„Rike, mit dem Auto stimmt was nicht. Vermutlich zieht da irgendein Fremdverbraucher dauernd Energie. Das ist kein magisches Zeichen des Universums. Wir suchen Euch einen Facharzt, äh… Fachmann oder … eine Fachperson für Autoelektrik und besorgen so einen Battery Booster. Und Gadget-Malte zeigt Dir dann sicher gern ohne Mansplaining, wie Du Dir selbst Starthilfe geben kannst, bis die endlich wissen, was zu reparieren ist.“
Gerade als sie fragen wollte, seit wann Paul so kundig mit KFZ-Jargon um sich warf, kam der Gutachter über den Hof auf sie zu. „Du, entschuldige, Paul. 1000 Dank für den Anruf, aber ich komme hier wohl jetzt dran…“
„Ja, bei mir wartet auch …“ Er wollte ‚die nächste Patientin‘ sagen, aber bekam im letzten Moment die Kurve. Besser nicht Rikes Rejection Sensitivity und ihr Störungsbild-Bewusstsein volltanken. „… Frau Meyerling“ ergänzte er stattdessen. War ja nicht mal gelogen. Frau Meyerling wartete immer: mit einer wachsenden Liste seiner am längsten prokrastinierten Aufgaben.