Hallo Autumnly,
ich habe deinen Post gelesen, als er frisch war und sofort kribbelte es mir in den Fingern, darauf zu antworten, da ich mir jüngst ähnliche Fragen stellte, auf der Suche nach einer passgenauen Psychotherapie. Ich bin und bleibe Spätzünder, deshalb erst die Antwort, wenn der Thread schon fast am Einschlafen ist . Nein, ich halte dich überhaupt nicht für zu anspruchsvoll für eine Therapie, sondern diese Anspruchshaltung für ein Produkt gesunden Menschenverstands. Wenn man mit seinen Ressourcen ohnehin haushalten möchte/ muss, nicht noch (weitere) Narben von einer Instanz braucht, die doch eigentlich an die Hand nehmen sollte oder wenn man sich schlichtweg ersparen möchte, während einer Therapiesitzung mit sinnfreien Glaubenssätzen des Psychotherapeuten behelligt zu werden, dann darf man sich ruhig damit beschäftigen, bei wem man sich auf das Sofa legt (Sofa besser nicht, habe vernommen, tiefenpsychologische Methoden seien bei ADHS kontraindiziert). Die Krux ist ja ohnehin, dass wir höchstwahrscheinlich in vielerlei Hinsicht tiefgreifender über unsere ADHS informiert sind, als so manche Person vom Fach. (Wie absurd eigentlich. Man möge sich mal am Beispiel einer anstehenden Herz-OP vorstellen, der Patient müsse im Vorfeld noch aufwändig recherchieren, ob der Operateur seiner Aufgabe gewachsen ist.)
Schon wenn ich die leisesten Zweifel habe, ob mein Gegenüber über den aktuellen ADHS-Forschungsstand im Bilde ist, werde ich unsicher – diese Verunsicherung oder gar Verärgerung möchte ich nicht während einer Therapie erleben müssen. Aber vielleicht ist das zu viel verlangt, schließlich gibt es neben ADHS noch viele andere, nach professioneller Hilfe schreiende Zustände – muss ein Therapeut für alle Störungs- und Krankheitsbilder Experte sein? Nein, aber dennoch darf man bei einer „hirn-induzierten“ Problematik erwarten, dass man nach den neuesten Erkenntnissen der Neurologie und Psychologie behandelt wird. Bei eben jener Suche nach einer Therapeutin, die meine soziale Phobie behandelt (hier die Frage zu klären, ob diese eine Folge der ADHS ist oder ihre Ursache woanders liegt, schon dafür müssen therapeutenseitig gewisse Kriterien erfüllt sein) bin ich fast verzweifelt an der Erkenntnis, dass sämtliche Psychotherapieansätze auf einer überschaubaren Anzahl psychologischer Schulen fußen, von denen so manche Methodik a) sämtliche Erkenntnisse der Hirn- und Verhaltensforschung ignoriert und b) an 100 Jahre alten freudschen Ideen festhält, wie an einem religiösen Dogma. Ich habe nach langer (anspruchsvoller) Suche eine Psychologin gefunden, die meine ADHS bisher immer mitdenkt, die meine Dämonen mit dem passenden Werkzeug ihres Psychotherapie-Bauchladens behandeln möchte, ohne sich auf eine bestimmte Schule oder hanebüchene Glaubenssätze festzulegen und die mir immer wieder neue Erkenntnisse, Perspektiven, Handlungsoptionen erarbeitet für eine Konstitution, die ja wiederum nicht nur aus ADHS besteht.
Ob ich das allein, mittels ADHS-Selbststudium, Selbsttherapie, ChatGPT etc. hinbekommen würde, bezweifle ich. Nichts gegen KI – die wird früher oder später auch in der Psychotherapie zum Einsatz kommen. Aber der (menschliche) Blick von außen auf das große Ganze ist schon hilfreich – natürlich sofern kompetent (und gern auch erkenntnisoffen, es muss ja nicht nur der Patient dazulernen). Ja, es bleibt ein Restrisiko, ob diese Therapie am Ende die investierte Zeit und die Nerven wert war. Und was hätte ich getan, wenn ich keine Wahl gehabt hätte, weil es in meiner Stadt nur 4 Therapeuten gibt, alle meinen legitimen Ansprüchen nicht genügend? Wahrscheinlich wieder resigniert und mich spätestens bei der nächsten Krise gefragt, ob nicht einer oder eine davon den Versuch wert gewesen wäre? Weil vielleicht doch immer irgendein Life-Hack hängenbleibt, der mir nun durch das tiefe Tal helfen würde. Ich weiß es nicht.
Leider sind wir noch weit davon entfernt, hürdenlos die Hilfe zu bekommen, die auf unser individuelles ADH-Störungsbild passt. Durch das Psychologiestudium respektive die Psychotherapeutenausbildung muss dringend ein frischer Wind wehen, hallo!, Neurodiversität (ja, Begriff ist umstritten, ich nutze ihn trotzdem gern) ist doch keine Erfindung des 21. Jahrhunderts! Mir schwant, dass wir – trotz der Tatsache, dass Neurodivergenz grad recht weit oben auf so mancher Agenda steht – Kinder der falschen Zeit sind und erst unsere Kindeskinder dereinst eine neurodivergenzoffene Welt erleben dürfen. Wünsch ich mir in etwa so: neurodivergenzfreundliches Arbeitsumfeld (allein das: AGH NRW: Keine Wiedereinsetzung für schludrige Anwältin – original einer meiner so richtig schlechten ADHS-Tage, nur anderer Beruf. Dürfte man da irgendwann mal mit seiner ADHS argumentieren, ohne sich zu schämen?), Neurodivergenz als Bestandteil des Lehrercurriculums, vorbehaltloser Umgang mit noch wirksamerer Medikation etc. und bitte auch eine höchstrespektable Therapeutenausbildung. Amen. 